Geschrieben am 15. Januar 2018 von für Crimemag, CrimeMag Januar 2018, News

Primärtext: Garry Disher: Auszug aus „Leiser Tod“

51yVOIV6DQL._SX300_BO1,204,203,200_ »Wie verkauft man denn ein Flugzeug?«

Seine „Bitter Wash Road“ war ein beachtlicher Erfolg im deutschsprachigen Raum, Garry Disher war dafür auch auf Lesereise unterwegs. Mit seinem neuen Buch wird er vermutlich wieder nach Europa kommen. Am 19. Februar erscheint – endlich – der sechste Hal-Challis-Polizeiroman. Wir bringen daraus den ersten Auftritt von Ellen Destry und Hal Challis.

Kapitel 5

Hal Challis strich über Ellen Destrys nackte Füße und dachte, wie wohlgeformt sie waren und wie sehr er sie in den kommenden acht Wochen vermissen würde. Zwölf Uhr, ein frühes Mittagessen auf der Veranda ihres Hauses, bevor das Taxi kam. Um siebzehn Uhr ging der Flug nach London mit einem Zwischenstopp in Singapur, also musste sie um fünfzehn Uhr am Melbourne Airport sein. Wenn man die neunzig Minuten mit dem Taxi hinzurechnete – die Fahrt war mit ihrem Stipendium abgedeckt –, musste sie spätestens um halb zwei losfahren. Reichlich Zeit, um in der Sonne zu essen. Den Quickie hatten sie schon hinter sich. Challis knetete abwesend den Spann. Ellens Füße in seinem Schoß fühlten sich ganz leicht an. Er bewunderte den leichten Flaum auf ihren Beinen und die straffe Form ihrer Waden. Sie schaute ihm verträumt lächelnd zu, deshalb unterbrach er sich am Saum ihrer Shorts und bewunderte stattdessen den Ausblick von ihrer Seitenveranda. Ellen hatte das Haus in Dromana, am südlichen Hang von Arthurs Seat, vor zwei Monaten gekauft. Er konnte verstehen, warum es ihr hier gefiel. Kleine beschattete Häuser an schmalen verschlafenen Straßen, manche waren asphaltiert, andere kaum mehr als schlaglochübersäte Fahrspuren mit dem Hinweisschild »Keine Durchgangsstraße«. Zwischen den Häusern und Bäumen den Hang hinunter konnte man die Bucht sehen. Eine dörfliche Atmosphäre, am Fuße des Hügels ein paar Geschäfte, der Strand für ihren morgendlichen Spaziergang ganz in der Nähe. Und der Freeway war lediglich ein paar Blocks entfernt. Allerdings kein Ort, an dem er hätte leben können – nicht, dass die beiden das jemals gewollt hätten. Aber sie wollten einander, es war also alles in Ordnung. Eine moderne Beziehung, ein paar Nächte bei ihm oder bei ihr, ein paar jeder für sich allein.

»Du könntest mit mir nach Europa fliegen«, sagte Ellen.
»Könnte ich.« Konnte er nicht. Acht Wochen lang als Anhängsel mitreisen, während sie sich die örtlichen Verfahrensweisen der Polizei in Großbritannien, Irland und Teilen von Deutschland, Frankreich und Holland bei Sexualverbrechen anschaute?
Ellen den Tag über mit ihren europäischen Kollegen unterwegs und nachts ihre Notizen schreibend, während er über die harten Steinfußböden einer Kathedrale nach der anderen stapfte? Es war ja nur für zwei Monate. Er hatte laufende Ermittlungen voranzutreiben und jüngere Kollegen zu beaufsichtigen, und außerdem verreiste er viel lieber mit Ellen, wenn sie beide freihatten.

»Aber du tust es nicht, ich weiß«, sagte sie. Er lächelte sie sanft, aber müde an. Sie würden häufig telefonieren, so persönlich, wie es über eine Webcam nur ging. Eine Samenhülse fiel von einem ihrer Gartenbäume und prallte von der Motorhaube seines Triumphs ab, der in der Einfahrt stand. Ellen bemerkte, dass er in die Richtung schaute, und meinte: »Warum nimmst du nicht so lange meinen Wagen?« Sein TR4 war unbequem und recht unzuverlässig, wie sie zum wiederholten Mal feststellte. »Oder«, fügte sie hinzu, »du überraschst mich und kaufst dir einen neuen Wagen.«
Tatsächlich hatte er schon daran gedacht. »Dann überrasche ich dich sonst nicht?«
Ellen sprang von ihrem Stuhl auf seinen Schoß. »Meine Güte, Hal, ununterbrochen, und meistens angenehm.«
»Ich dachte an einen BMW.«
»Schon wieder eine Überraschung.« Sie hielt inne. »Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich mit jemandem zusammen sein könnte, der einen BMW fährt.«
Sie küssten sich, und der vom Wetter zerschlissene Stoffbezug des Verandastuhls begann, unter ihrem Gewicht einzureißen. Sie standen auf und besahen sich den Schaden.
»Ich kümmere mich in deiner Abwesenheit darum. Neues Segeltuch, Polsternägel …« Nicht nur das: Ihr Rasen war nicht mehr als Staub und Heu, die Veranda musste neu gestrichen werden, mehrere Fenster ließen sich nicht öffnen, die Fernsehantenne ähnelte einem Winddrachen, der im Baum gelandet war, und in den Dachrinnen wuchs das Unkraut. Er besah sich die Außenwände: neuer Anstrich. Sie warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu.
»Ich möchte nicht … du wirst eine Menge …«, sagte sie und suchte nach Worten. Hal wusste schon Bescheid. Sie wollte nicht, dass er ihr Held und Beschützer war, wollte ihm nicht verpflichtet sein. Andererseits wollte er sich ja auch nicht in die Arbeit stürzen und ihr alles abnehmen. Es war kompliziert. Die Beziehung war frisch, und noch immer zogen sie auf liebenswürdige Weise Grenzstriche in den Sand. So als wolle sie jede Spur von Spannung tilgen, kam sie zu ihm und umarmte ihn so fest, dass er ihr Herz klopfen spürte.
»Ich werde dich vermissen.«
»Ich dich auch.« Er hielt inne. »Ich könnte mit zum Flughafen kommen.«
Sie schüttelte den Kopf unter seinem Kinn. »Bitte nicht, die ganze Verabschiederei könnte ich nicht ertragen. Außerdem wird Larrayne dort sein.« Ellens Tochter war schon an der Uni, aber sie stand Challis noch immer ein wenig feindselig gegenüber.
»Okay.«
»Seufzer der Erleichterung allüberall.« Sie holten sich zwei Küchenstühle, und Ellen legte ihm wieder ihre Füße auf den Schoß. »Wie wirst du die Wochenenden verbringen?« Sie klang, als müsse sie sich vergewissern, dass er ohne sie nicht unglücklich war.
»Ich dachte, ich schau mich mal um, ob ich die Dragon verkauft kriege.«
»Gut.«
»Meinst du?«
Auf ihre pragmatische Weise sagte sie: »Schau mal, ich fand das toll, dass du ein altes Flugzeug restaurierst. So überhaupt nicht Bulle. Aber ich sehe, dass du nicht mehr bei der Sache bist.«
Challis war erleichtert. »Mit der letzten angezogenen Schraube hat sich, scheints, mein Interesse daran in Luft aufgelöst.«
Ellen nickte. »Wie verkauft man denn ein Flugzeug?«
»Ich dachte, vielleicht über einen Zwischenhändler. Es gibt da einen Mann namens Warren Niekirk, der mit alten Flugzeugen handelt.«
»Hier aus der Gegend?«
»Ja.«
»Wie passend.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Ich zieh mich besser um.« Doch sie rührte sich nicht. Ein Riesenlärm scheuchte die Vögel in den Bäumen auf, und Challis sah zum Nachbarhaus hinüber. Dort wohnten zwei Frauen, Gärtnerinnen, die im Adventure Garden am Arthurs Seat arbeiteten, beide hatten sie Bikerfreunde, und einer von ihnen warf gerade seine HarleyDavidson an.
»Die Musik der Vorstadt«, meinte Challis.
»Wissen sie, dass du bei der Polizei bist?«
»Ich glaube nicht.« Sein Handy klingelte. Es lag auf Ellens verzogenem Verandatisch, und er starrte es an, als wollte er es mit schierer Gedankenkraft zum Verstummen bringen.
»Ich hasse deinen Klingelton.«
»Was stört dich denn daran?«
»Das ist derselbe wie bei der Frau in Tatsächlich … Liebe.«
»Welche Frau?«
»Die mit dem verrückten Bruder.«
Challis konnte sich weder an den Film noch an den Klingelton erinnern. Er gehörte nicht zu denjenigen, die Lieblingsfilme hatten. Ellen schon. Ihrer Schätzung nach hatte sie Tatsächlich … Liebe schon eine Million Mal gesehen.
Er ging ans Handy. »Challis.«
»Boss, wir haben einen Fall von sexuellem Missbrauch«, sagte Pam Murphy.
Ellen, die kurz vor dem Abflug war, um zu lernen, wie man mit Missbrauchsfällen umging, kannte Hals Gesichtsausdruck schon und stellte ihre anmutigen Füße auf den Boden.

(Mit freundlicher Genemigung von Autor und Verlag.)

Garry Disher: Leiser Tod. Ein Inspector-Challis-Roman (Whispering Death, 2012). Übersetzung: Peter Torberg. Unionsverlag, Zürich 2018. 352 Seiten, 22,00 Euro. Verlagsinformationen.

Garry Dishers Website. Sein Jahresrückblick 2017 bei CrimeMag. Alf Mayers Besuch bei ihm auf der Mornington Peninsula: „Der Schauplatz als Charakter.“ 
Weitere Texte zu Garry Disher bei CrimeMag:
Bloody Questions von Marcus Münterfering.

Reading ahead: Bitter Wash Road

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