Geschrieben am 1. Juli 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2022

Beckmanns Meinung: Eine überfällige Kurskorrektur

 Francisco Goya (1788) © Wiki-Commons

Eine ganze Branche spielt Blindekuh

Notwendige Einwürfe zur Praxis in der Buchbranche – von Gerhard Beckmann

Auch wenn in der Buchbranche noch keiner damit zu rechnen scheint oder laut davon spricht: Es geht nicht  mehr anders. Bei den Ladenpreisen für Bücher müsste sich, dürfte sich – und wird sich im Laufe der kommenden Monate bestimmt auch – ein gewaltiger Sprung nach oben ereignen. 

Es gibt in der freien Markwirtschaft unserer Bundesrepublik bekanntlich eine weltweit einzigartige, in Details singuläre Ausnahme: Bei Büchern werden hier zu Lande die Ladenpreise vom Hersteller, also von den Verlagen festgelegt. So war es ja von den Verlagen, vom Buchhandel und dank ihrer Überzeugungsarbeit und starken Lobbytätigkeit auch von  der Politik gewollt. Das Buch ist ja, so heißt es noch immer, ein Kulturgut, ein so zentrales demokratisches Bildungs- und Kulturgut, dass es auf keinen Fall den allgemein üblichen und rabiaten wirtschaftlichen Regeln zum Opfer fallen darf. Deutschland gilt als Land der Dichter und Denker. Deutschland steht wesentlich für hohe Kultur. Darum muss insbesondere die Kultur des Buches für die ganze Bevölkerung unseres Landes erhalten und zugänglich sein. Hier und da gibt es ein paar Gegenstimmen aus akademischen ökonomischen Lehrräumen und kapitalistischen Hinterzimmern. Es sind leise Gegenstimmen, die sich obendrein zumeist bloß hinter vorgehaltene Hand äußern.     

Die bundesrepublikanische Buchbranche stellt freilich noch in anderer Hinsicht eine weniger bekannte Anomalie dar. Die Kontrolle über die Gewährleistung, über die Praxis der Einhaltung dieser unserer ganz besonderen, uns allen so am Herzen liegenden Buchpreisbindung obliegt – wiederum weltweit singulär – nämlich nicht dem Staat. Diese Aufgabe hat der Staat an die Buchbranche abgetreten – dafür trägt sie selber die Verantwortung, dafür ist ihr Verband zuständig, der Börsenverein, der unisono die Verlage, Buchhändler, Großfilialisten, Zwischenbuchhändler und Barsortimente repräsentiert – anders als überall sonst auf der Welt, anders als schon in unserem Nachbarland Österreich, wo ein Treuhänder per Auftrag der Regierung in der amtlichen Wirtschaftskammer schaltet und waltet. In Österreich ist der Preisbindungs-Treuhänder somit per Gesetz befugt, gegen durchtriebene krumme Touren von übergrifflichen Markteilnehmern gerichtlich vorzugehen – und dort bringt er sie, öffentlich transparent, mit nachhaltigem Erfolg tatsachlich vor Gericht, so dass ihre Machenschaften wirksam abgeblockt werden.

Warum ist das nicht auch bei uns so? 

Bisher hat mir noch niemand  aus der Buchbranche oder aus der Politik plausibel zu erklären vermocht, wie es in unserer Bundesrepublik zu unserer logisch unbegreiflichen, ja widersinnigen „practique exceptionelle“ kommen konnte. Mit der Kultur und mit Büchern als Kulturgütern hat es jedenfalls nichts zu tun.

Damit nicht genug: Was im Börsenverein für Rechtens deklariert und als rechtens praktiziert wird, untersteht in vielem mitnichten, wie es üblich wäre, ebensowenig  dem gewählten Vorsteher und Vorstand des Verbandes – sie arbeiten ehrenamtlich -, sondern einem bestallten Hauptgeschäftsführer, der über eine Tochtergesellschaft des Verbandes regiert, den MVB. Und der MVB bildet,  man höre und staune, ein Reich für sich. Er arbeitet nämlich unabhängig als Wirtschaftsunternehmen mit Eigeninteressen, das den Börsenverein trägt und seinerseits finanziell heutzutage nicht zuletzt insbesondere auf die Megabeiträge einiger weniger überproportional großer Mitgliedsfirmen angewiesen ist, die auch in den Gremien des Verbandes durchzumanövrieren wissen, wo es langzugehen hätte. 

Es soll in den letzten Jahren mehr als einmal vorgekommen sein, dass deren mit allen Wassern gewaschenen Supermanagern ganz spezielle Geschäftsstrategien zu Lasten der Allgemeinheit mit der Drohung  durchzusetzen verstanden, notfalls aus dem Verband austreten zu wollen. Was den Verband selbstverständlich in Notzwänge gebracht hätte. 

Und es gibt noch so eine Anomalität dieser Branche und dieses Börsenvereins: nämlich, dass dergleichen Kraftakte von niemand  offengelegt, offen angeprangert und offen als Erpressung charakterisiert worden ist. Der dafür letztlich verantwortliche, inzwischen pensionierte Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis – ein Quereinsteiger, der über sechzehn Jahre amtierte – hat es hingenommen, wenn nicht unterstützt, dass die dubiosen Geschäftspraktiken und eigennützigen Forderungen der Megasaurier in den Gremien wie dem Sortimenter-Ausschuss und im Verbandsvorstand  durchkommen konnten – obwohl diese brancheninternen, btb-bezüglichen Geschäftsusancen den politischen, demokratischen, aufs Publikum bezogenen Zielsetzungen zuwiderlaufen und auf Dauer den Erhalt des Buchpreisbindungsgesetzes überhaupt gefährden.  

Es muss unter dem lecken Verbandsfirst der Buchpreisbindung aber noch einen zumindest unterirdischen Zusammenhang zwischen dem Börsenverein und einem anderen exzentrischen Branchenphänomen geben: Überall schießen die Verbraucher-Endpreise bei uns geradezu furchterregend in die Höhe. Bei Büchern dagegen kriechen sie diesen raketenartigen Steigerungen wie auf einer Schleimspur in klebrigem Schneckentempo hinterher.  

Erste vorsichtige Indizien aus der Statistik des letzten Jahrzehnts zu einer Selbstdemontage der Buchbranche

„Alles wird teurer“, schrieb bereits Mitte November vorigen Jahres das Branchenmagazin „Buchreport“. Dort hieß es: „Viele Branchenteilnehmer klagen über höhere Kosten. An der Entwicklung der Buchpreise ist dies allerdings nicht abzulesen, trotz Forderungen aus dem Handel nach höheren  Preisen und auch entsprechendem Räuspern in den Verlagen, die letztlich die Preise verbindlich festlegen.“

Und es ist ein Langzeitproblem. Achtzehn Monate zuvor hatte „Buchreport“ auf der Basis von Angaben der Media Controlbereits berichtet: „Der Durchschnittspreis der in Deutschland verkauften Bücher ist 2018 um“ – bloße – „1,4 Prozent gestiegen, im stationären Buchhandel“ – nur -„um 1,7 Prozent.“ Und nochmals fast zwölf Monate vorher hatte  das „Börsenblatt“ schon bekanntgegeben, der durchschnittliche absatzgewichtete Ladenpreis sei – lediglich, man höre und staune  – „um 06,Prozent“ angewachsen. 

Fazit Nummer eins: Bei einem de facto gleichbleibenden Gesamtjahresumsatz von eher knapp über neun Milliarden Euro ist der Buchmarkt mitnichten, wie der Verband  immer wieder zu trompeten beliebt, „stabil“. Er bleibt einfach nur unentwegt auf dem gleichen toten Fleck stehen. Er ist sozusagen festgefroren. Eine andere Statistik hebt diese nackte Wundstelle noch greller ins Licht. Laut Statistischem  Bundesamt hat die nämlich die allgemeine Entwicklung der Verbraucherpreise in der Bundesrepublik, Jahr um Jahr  stärker zunehmend,  ab 2016 Steigerungen um 2 Prozent,  3,8 Prozent, 5,3 Prozent, 5,8 Prozent und für 2021  um 9,1 Prozent registriert. 

Fazit Nummer Zwei: In der gesmtwirtschaftlichen Perspektive leidet der Buchmarkt seit mindestens einem halben Jahrzehnt unter Schwindsucht. Er zehrt sich sozusagen aus. Er verhält sich tendenziell selbstdestruktiv  in existenzgefährdender Richtung.

Cornelis Troost: Blindman’s Buff, ca. 1740 © Wiki-Commons

Ein kindisches Blindekuh-Spiel

Ergo: Die eingangs zitierten Anomalitäten haben in einem betriebswirtschaftlichen Verbandskrisenspiel „Blinde Kuh“                                zusammengefunden. Die marktbeherrschenden Mega-Unternehmen  des sogenannten herstellenden und vertreibenden Buchhandels setzen auf maximale Absatzpartikel mit dem Etikett „Planbestseller“, die zentral zu einer größtmöglichen Flächenabdeckung des Leselandes eingekauft und zu breiten Endverkäufen an eine leider kulturfremder Laufkundschaft in den Städten als Stapelware mit Billig-Reizpreisen funktionieren. Schlimm genug. 

Nur: Dabei bleibt der Zug ja nicht stehen. Diese Massenpreise der Meganer wirken sich als Preispegel für (fast) alle Buchprogramme aus. Alle anderen Titel würden sonst ja als elitär überteuerte, schwer verkäufliche Nischenprodukte gelten. Und so haben alte preisliche Verdrängungs-Strategien der Konzerne am Ende im Börsenverein unter dem Kultursiegel der Buchpreisbindung branchenweit übergegriffen und fast ALLES mit viel zu niederen, wirtschaftlich ungesunden Marktpreisen kontaminiert, die übrigens Büchern übrigens – nebenbei bemerkt – auch ihres Kulturwerts berauben. 

So ist das nun schon eine ganze Weile irgendwie noch halbwegs gutgegangen. Doch jetzt wird es mit diesem albernen Kinderspiel einfach aus und vorbei sein müssen. Wann? Morgen, übermorgen, Anfang nächsten Jahres? Das mag in den Sternen stehen. Und die gewohnheitsmäßigen Hilfs und Notrufe dagegen an die Politik – unter Berufung auf die Kultur der Branche zur Rettung der Kultur für alle – werden einem Börsenverein nichts mehr nützen, der die Kultur des Buches verspielt hat.

Um wie viele Prozente werden die Buchpreise in Deutschland denn angehoben werden?  Auch Sie werden gehört und gelesen haben, was ich gehört und gelesen haben. Wir sollten es uns in aller Ruhe mal richtig zu Gemüte führen. So wie es seriöse investigative Journalisten tun würden, die oft auch nicht so viel mehr wissen wie wir, jedoch auf dem Boden der Tatsachen zu kombinieren gelernt  haben. 

Es beginnt damit, dass wir als  Buchhandelsmenschen und Verlagsleute die rosa Brillen von der Nase nehmen, die Augen weit aufmachen und erkennen, wie es mit uns und um uns herum wirklich steht. 

Also, in diesem Jahr hat sich eine Megakrise aufgetan. Da scheint nun eine Stagflation anzubrechen – eine hohe Inflationsraten bei niedrigem Wirtschaftswachstum und neuen Kostenraketen auf Grund von laufend knapperen oder gar ausbleibenden Energien und Ressourcen aller möglichen Arten. Und neben den bereits deutlichen und zunehmenden Offenbarungen von Demokratie- EU-, Finanz-, Führungspersonal-, Medien-, Ordnungs-, Pamdemie-, Parteien-,  Rohstoff- und wiederauferstandenen Kalten-Kriegs-Szenarien ist nun auch noch ein europäischer Krieg, ein offener Krieg zwischen Ost und West angebrochen, der undurchschaubar ist, mit einer  Dynamik, die schwer einzugrenzen ist. Es wird auch in der Bundesrepublik Deutschland nie wieder, nie mehr  so sein, wie wir uns das kürzlich noch unter Angela Merkel  versichert haben. Doch wir von der Branche bewegen uns in über Jahrzehnten erstarrten Tänzelmodus-Tippelschritten, wie auf dem Sommerfest einer abgeschriebenen Berliner Laubenkolonie, als wären wir Damen und Herren von Ribbeck auf Ribbeck in Fontanes Havel-Land. 

Nur wenn ein Ruck durch unsre Branche geht und wir uns mit allen daraus folgenden Konsequenzen und Möglichkeiten auch auf die Notwendigkeit von entschieden höheren Ladenpreisen einstellen, wird die Kultur des Buches in Deutschland eine Zukunft haben.

Wie hoch solch höhere Ladenpreise sein müssten oder werden könnten? Wer weiß? Irgendwer muss  ja mal einen ersten Versuch machen und wenigstens einen möglichen groben Umriss an die Wand werfen. Und weil ich keinen kenne, der dafür offenbar eine Wand zu finden wüsste und an die Wand treten würde, nehme ich‘s hier auf mich, wie es sich für einen alten Fahrensmann doch gehört. Wohlan – für Taschenbücher sehe ich eine durchschnittliche Preissteigerung von 25 und 30 Prozent, für gebundene Bücher einen Preisanstieg bis zu 45 Prozent für denkbar, wenn nicht gar für wahrscheinlich.

Welcher Verlag den Mut haben könnte, mit solch einem Sieben-Meilen-Schritt hervorzutreten und Schule zu machen? Keine Ahnung. Doch ich bin zu einer Wette bereit: Einer unserer Verlagskonzerne wird es nicht sein. Es wird massenweise Bedenken, laute Proteste  geben. Möglicherweise insbesondere aus den Reihen des selbständigen Buchhandels, der für die Kultur und  – in viel höherem Maße als bisher bekannt – für die Verbreitung von Büchern in unserem Land geradesteht. Sie sollten sich nicht kleinreden lassen. Denn auch für die Lautsprecher an den Steuerrudern und Controller-Bildschirmen auf den Containern und Tankern des sogenannten herstellenden und vertreibenden „Buchhandels“ gibt es keine Alternative. 

Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist einer der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier. Auch sein Jahresrückblick 2021 bei uns ist hier zu finden.

Und siehe besonders von ihm:
Beckmanns Meinung – Eine radikale Neubesinnung: To call a spade a spade – Die Dinge beim Namen nennen. Ein kritischer Blick auf den Buchmarkt
Treppenwitz Statistik beim Börsenverein
Gerhard Beckmann: Es braucht eine andere Konzernverlagspolitik
Warnung vor der Marktmacht der Großfilialisten
Shutdown bei Orell Fuessli
Offener Brief an den Börsenverein des deutschen Buchhandels
In Sachen Thalia – Offener Brief von Gerhard Beckmann an den Präsidenten des Bundeskartellamts in Bonn
Offener Brief in Sachen Marktmacht im Buchhandel – Warum die Mega-Fusion von Thalia & Mayer‘sche & Ossiander so gefährlich ist 
Starke Argumente für die Buchpreisbindung – Fakten zur großen Wirksamkeit von Buchhandlungen vor Ort 
Gesetzgeber gefragt – Omerta bei den Großfilialisten Wenn die Buchpreisbindung nur auf dem Papier steht und das Barsortiment bedroht ist
Interview: Für menschliches Überleben ist das Buch unentbehrlich – Ein Interview über die unersetzbare Arbeit des stationären Sortiments mit Manfred Keiper
Ein Wutschrei von Gerhard Beckmann #Covid-19 – Der 17. März 2020 und Amazon.