Geschrieben am 1. Februar 2022 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2022

Gerhard Beckmann: Treppenwitz Statistik beim Börsenverein

Im „Branchenmonitor“ kommen die unabhängigen Buchhandlungen mit ihren Zahlen kaum vor

Ausgerechnet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels übergeht in seinen Statistiken die Umsätze der unabhängigen Buchhandlungen – eine Recherche von Gerhard Beckmann.

Die einflussreiche, offizielle Statistik zu den Umsätzen des Buchgewerbes kommt vom eigenen Verband, also vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt. Und damit ist jetzt gerade der Börsenverein in Misskredit geraten. Das unabhängige Online-Magazin „Langendorfs Dienst“ in Krefeld – ein analytisch nüchternes Nachrichtenorgan – hat die Statistik, die der Verband monatlich in seinem „Branchenmonitor“ herausgibt, als Popanz auf blechernen Füßen vorgeführt. 

Langendorfs Dienst“ betreibt mit bescheidenen Mittel, eine eigene Statistik – gewissermaßen zum Check der offiziellen Zahlenwerke. Ein Vergleich ergibt meistens echt ähnliche Werte. Diesmal ist jedoch eine auffallend große Abweichung aufgetreten. Was die Differenz so beunruhigend macht:  Sie betrifft einen ganz speziellen Sektor der Buchbranche, nämlich den traditionellen stationären Buchhandel, mit dem sich der Börsenverein offenbar seit längerem reibt. Was diese Geschichte aber ganz verrückt macht,  ist die irre Fallhöhe des Umsatzabsturzes für den stationären Buchhandel im „Branchenmonitor“. Die Statistik von „Langendorfs Dienst“ hatte ihm für das erste Corona-Jahr 2020 minus 3,8 Prozent und für 2021 ein Wachstumsplus von 3,3 Prozent ausgewiesen – der „Branchenmonitor“ jedoch nannte für 2020 minus 8,7 Prozent und für 2021 ein Umsatzminus von 3,1 Prozent. Das ist hochbrisant. Denn die negativere Statistik des Branchenmonitors steht auch im Widerspruch zur einhelligen veröffentlichen Meinung selbst aus Marketing- und Vertriebsabteilungen großer Konzernverlage. 

Ihnen zufolge war es nämlich der der stationäre Buchhandel, der den Buchverkauf und die Versorgung der Bevölkerung mit Büchern in den zwei Corona-Jahren mehr oder weniger gesichert oder sogar gesteigert hat. Ihr überschwängliches Lob galt allerdings nur einem Teil des stationären Buchhandels – dem inhabergeführten unabhängigen Sortiment. (Unter diesen Begriff fallen bei „Branchenmonitor“ und „Langendorfs Dienst“ auch die Großfilialisten, die in dieser Periode erheblich an Umsatz verloren haben.) Die allgemein zentrale Rolle des stationären Buchhandels „als wichtigster Vertriebskanal des Buchmarkts“ (Thorsten Casimir in seinem  „Börsenblatt“-Artikel „Die Stärke der Vielen“ vom 16. März 2020)  ist während der Pandemie überdeutlich zutage getreten. (Ich habe sie in der Februarausgabe des „BuchMarkt“ ausführlich dargestellt.) Die Negativstatistik im „Branchenmonitor“ ist also zunächst einmal unerklärlich.   

Dazu muss vorab erwähnt werden: Die „Kleinen“ Buchhändler sind seit langem ob der Statistik aus dem Börsenverein konsterniert – und dies ebenfalls von Media Control, die für die Statistik die Zahlen liefert. Es ist ein Dauergesprächsthema, wann immer die Buchhändler zusammenkommen – weil die „dort angegebenen Prozentangaben ‚oft‘ nicht mit unseren prozentualen Umsatzzahlen übereinstimmen“, hat Birgit Grallert mir berichtet, die Inhaberin der gleichnamigen Leipziger Buchhandlung. Und sie hat, motiviert durch die eine oder offen skeptische Äußerung des „Börsenblatt“-Chefredakteurs Thorsten Casimir zum Zahlenwerk der Media Control, den wunderbaren Mut gehabt, quasi im Alleingang Klarheit in das undurchschaubare Dunkel zu bringen. Dabei ist daraus förmlich ein Wirtschaftskrimi herausgekommen.    

Birgit Grallet hat Jana Lippmann konfrontiert, die Leiterin der Abteilung Marktforschung im Börsenverein. Sie wollte wissen, „wo die vielen unabhängigen Buchhandlungen in der Statistik vorkommen, die nicht an irgendwelche Erhebungsfirmen der Statistik ihre Umsätze melden“. Die Antwort machte Birgit Grallert fassungslos. Denn die Zahlen, die nicht direkt an Media Control gemeldet werden, würden, so erwiderte Frau  Lippmann, über die Barsortimente gemeldet (oder aber auch hochgerechnet). Aber holla!

Ich habe bei Clemens Birk, dem Geschäftsführer des Barsortiments Umbreit nachgefragt. „Nein das machen wir nicht“, war die klare Antwort. „Das dürfen wir doch gar nicht, es sei denn, eine Buchhandlung sollte uns dazu ausdrücklich ermächtigen.“ Und, wie, Birgit Grallert auf Nachfrage bei ihrem Barsortiment „Zeitfracht“ feststellte, hatte dem von den sehr vielen ‚Kleinen‘ Buchhändlern keiner zugestimmt.

Die nächste Frage musste also lauten: Wie viele „kleine“ unabhängige  Buchhandlungen melden denn nun ihre Zahlen an Media Control? Anette Philippen – bis 31. März 2021 Geschäftsführerin des Dumont Kalenderverlags, der Media Control für seine Statistik bezahlte – hat es dort erfahren und Birgit Grallert mitgeteilt. Die Verlegerin und die Buchhändlerin hatten sich an einer Diskussion der Facebook-Gruppe „Buchhandelstreff“ zur Statistik im Börsenverein im März 2021 beteiligt und danach eine Korrespondenz begonnen. Anette Philippen hatte von Media Control erfahren, im Jahr 2021 waren es nur 400 „kleine“ Buchhandlungen“ plus einige größere Indies. Nach Birgit Grallerts Recherchen kann es sich bei ihnen um kaum mehr als einhundert gehandelt haben.

Summa summarum: Es ist bei weitem nicht einmal die Hälfte der unabhängigen Sortimente, deren Umsätze über Media Control im  „Branchenmonitor“ erfasst werden. Sagen wir es mit Birgit Grallert noch ein wenig genauer:  Die fünfhundert von Media Control stastistsch erfassten Sortimente manchen vielleicht ganze 20 Prozent der dem Börsenverein zugehörigen Unternehmen aus und sogar lediglich zehn Prozent aller unabhängigen, auch nicht zum Verband zählenden Buchhandlungen, die zur Zeit bei rund fünftausend Firmen liegt – so Christoph Schröter in seinem Bericht „Buchhandel in der Pandemie“ in „Die Zeit“ vom 8. Juli 2021.

Rein methodisch gesehen wäre demzufolge die Statistik von Media Control und „Branchenmonitor“ ein Treppenwitz der deutschen Wirtschaftsgeschichte.

Sachlich gesehen ist  – da der inhabergeführte, unabhängige Buchhandel als der entscheidende Faktor für die Buchumsätze des stationären Sortiments gelten muss – also die Statistik des „Branchenmonitors“ nicht nur unprofessionell erhoben, sondern höchstwahrscheinlich durchweg schlicht und ergreifend falsch. Die Pandemie hat wieder einmal generelle Missstände und Unzulänglichkeiten enthüllt.  

Aber was ist der Börsenverein des Buchhandels eigentlich für ein Branchenverband, wenn er der absoluten Mehrheit seiner Einzelhändler schadet? Denn wie Matthias Koeffler von „Langendorfs Dienst“ besorgt konstatiert, steht hier „vor allem der Ruf des stationären Sortiments auf dem Spiel“ sowie dessen Zukunft, wenn es um Verhandlungen mit Banken, mit möglichen Nachfolgern und Mitarbeitern geht. 

„Und wichtig ist“, so Matthias Koeffler weiter, „dass jetzt aufgrund der offiziell verbreiteten Zahlen der stationäre Buchhandel “ in der Öffentlichkeit „keinen Imageschaden bekommt“. Es reicht nämlich keineswegs, dass der erfolgreiche selbständige Buchhändler persönlichen Grund hat, auf  seine Arbeit stolz zu sein. Auch das Publikum, ja das ganze Land muss um seine große Bedeutung wissen. Hier hat der stationäre Sortimenter eben ein Problem. Es ist seine Stärke, dass er vor Ort ist – es ist aber auch seine Schwäche, weil er mit einem schöpferischen Beruf über seinen Standort hinaus nicht wahrgenommen wird. In den Medien dominiert „der Fortschritt“ der Großen mit ihren neuen Technologien und großspurigen PR-Strategien. Hier müssen unsere lieben guten Buchhändler selbst eine Lösung, einen Weg finden, um wahrgenommen zu werden und sich landesweit gesellschaftlich und kulturell Geltung zu verschaffen.

Sollten sie nicht vielleicht – so wie es ihnen mit dem Preis und der „Woche der Unabhängigen Buchhändler“ gelungen ist – auch in diesem Zusammenhang eine Plattform des gemeinsamen öffentlichen Auftritts finden, um Präsenz zu zeigen?  Könnte es nicht mit einer gemeinsamen, öffentlich gemachten, medial kommunizierten Erklärung und Unterschriftenaktion beginnen: an den Börsenverein, an die neue Kulturstaatssekretärin Claudia Roth – mit einer Aktion, an der Autoren, Bürgermeister, kommunale Vereine und sogar Leser wie Stammkunden beteiligt sein könnten? Es sind, steht zu erwarten, nicht die Kettenläden und auch nicht der Online-Handel, die für unsere  künftige Versorgung  mit Büchern den Ausschlag geben. Es kann nur das stationäre Sortiment sein, das auch im Börsenverein wieder voll Geltung müsste. 

Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier. Auch sein Jahresrückblick 2021 bei uns ist hier zu finden.

Und siehe besonders von ihm:
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Ein Wutschrei von Gerhard Beckmann #Covid-19 – Der 17. März 2020 und Amazon.

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