Geschrieben am 31. Dezember 2021 von für Highlights, Highlights 2021

Mein Jahr 2021 – von Gerhard Beckmann

Das ganze nunmehr abgelaufene Jahr über hat mich die brennende Sorge bewegt, dass unser Land kulturell absaufen könnte. Ja, meine Sorge hat mit Büchern zu tun. Vor allem mit nicht-erzählender seriöser Literatur, die bei uns schon seit längerem, insbesondere jedoch seit etwa zwei Jahrzehnten  immer dünner gesät ist. Und was ist hierzulande eigentlich aktuell mit Sachbüchern los? Selbst  fundamentale, spannende, richtig wichtige, substanzielle Bücher, die den Horizont erweitern und dabei um kein einziges Wort zu lang sind,  von bedeutenden Experten und eminenten Autoren, tun sich heute sauschwer. Die Verkaufszahlen schwächeln.  Sie lösen, selbst wenn sie punktuell hier und da  isoliert schon mal wahrgenommen werden,  keine noch so notwendigen öffentlichen Diskussionen aus. Sie sind nicht mehr, was Bücher einmal waren. Sie wirken nicht mehr nachhaltig. Sie gelten, wenn sie denn gelten, wann und weil und sowie sie neu sind, wenn sie gefragt sind,  wie Tageszeitungen und Nachrichten, die nach Anbruch der Dunkelheit obsolet geworden sind.

Es ist – nur zum Vergleich, um den Effekt zu illustrieren – wie bei den deutschen Steuererklärungen, welche,  so wird immer wieder geklagt, sich einfach kurz und bündig auf der Rückseite einer Postkarte erledigen lassen müssten, statt  dessen jedoch nur immer länger, komplizierter, bürokratischer und widerwärtiger, unverständlicher werden. Sie scheinen unpraktisch; denn sie kosten schier unendlich viel Mühe und Zeit. Nur kommt eben um Steuererklärungen keiner herum. Sachbücher dagegen lassen sich umgehen. Man kann sie ungestraft in der Buchhandlung bzw. im Regal stehen lassen. Oder sie werden erst gar nicht mehr von Verlagen gedruckt und auf den  Markt gebracht. Im vergangenen Herbst haben selbst renommierte große Literarische Agenturen vielleicht ein bis zwei etablierte Sachbuch-Autoren, aber so gut wie keine neuen Namen und Projekte mehr angeboten. Politische Themen sind auf ihren Angebotslisten anscheinend gänzlich unter den Teppich gekehrt worden. Selbst über Angela Merkel hat in den Verlagslektoraten dem Vernehmen nach niemand mehr etwas wissen wollen – als wäre sie nach sechzehn Jahren im Bundeskanzleramt schlagartig Schnee von gestern und vom Winde verweht. (Dabei ist sie in den neuesten Meinungsumfragen – also sogar massenmedial –  nach wie vor auf dem ersten Rang des beliebtesten bundesdeutschen Politpersonals präsent.)

Ist das Wissen der Bücher, ist Wissen in Büchern, ist die Form von Informationen und Inhalten in gedruckter und gebundener Form uninteressant,  unrepräsentativ, öffentlich und politisch irrelevant geworden? Liegt es vielleicht auch an der beunruhigenden Tatsache, die ich auf der Basis einer speziellen Umfrage  Anfang der 1980er als Chefredakteur der von Heidi Steinhaus mit Unterstützung des angesehenen Buch-Versandhauses Mail Order Kaiser herausgegebenen Zeitschrift „Titel“ feststellen musste, die auf einer Pressekonferenz zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vorgestellt und auf der Titelseite der FAZ fett gemeldet wurde? Sie besagt, dass Politiker in der Bundesrepublik so gut wie keine Bücher mehr lesen. Ein Schluss, der nicht zuletzt durch das Buch „Die Innenausstattung der Macht“ von Peter Glotz, dem Generalsekretär der SPD, unterstrichen worden ist, das kurz zuvor in meinem Münchner Verlag Steinhausen erschienen war.

Im  Laufe des ausgegangenen Jahres haben sich mir solche Fragen  noch heftiger, und noch viel umfassender, aufgedrängt. Ja, und es hat mit der Pandemie, mit Corona zu tun. Und ja, es betrifft zentrale gesellschaftliche Probleme von Wissen und Wissenschaft, von Wissenschaft und Politik, von Politik und  Wirtschaft, von Gesellschaft und Lebenskultur, die von Corona aufgeworfen werden. Es betrifft  die Angst,  die inzwischen viele verstört: Was ist das wirklich für eine Krise, in die der Corona-Virus uns geführt, in die der „alternativlose“ neoliberale Globalismus der letzten drei Jahrzehnte uns gelotst hat?  Ist sie in und mit unserer real existierenden Demokratie überhaupt zu  bewältigen?

In Folge besonderer Umstände habe ich 2021 so viele Fernseh-Talk Shows gesehen, wie ich es zuvor nicht einmal in einem Albtraum für möglich halten hätte. Und das Ausmaß der Verseuchung des politischen und gesellschaftlichen Lebens mit dieser Abart von Massenmedien  und öffentlich-rechtlich organisierter Verunsicherung und kommunikativer Unverantwortlichkeit hat mich, wie Heinrich  Heine, denk ich an Deutschland in der Nacht,  um den Schlaf gebracht.   

Wozu ist das gut?

Ich hatte einen Onkel, der als Ingenieur, er arbeitete bei einer großen Zeche im Ruhrgebiet, zahlreiche patentierte Erfindungen gemacht hat. Er hat mich damit als Teenager sehr beeindruckt, jedoch zutiefst niedergeschlagen, wenn er eine meiner Hoffnungsfantasien routinemäßig mit der Frage abservierte: “Und  wozu soll das gut sein? Was kann ich mir dafür kaufen?“ An diesen Onkel habe ich jetzt wieder denken müssen, wegen Corona.

Mir war nämlich aufgefallen, dass unsere Politiker wie auch Talkshow-und TV-Nachrichten-Moderatorinnen bei Corona-Programmen gewöhnlich nur einen ganz bestimmten Typus von Experten ins Boot holten.  Zuerst war‘s einer der weltweit anerkannten Pioniere der Corona-Virologie. Dann kam ein Epidemiologe – hier geht’s schließlich nicht nur um die merkwürdigen kleinen Un-Lebewesen an sich, sondern um die Menschen, die sie als Wirtsleute benutzen, und darum, was wir tun können, um ihrer seuchenartigen Verbreitung einen Riegel vorzuschieben. Inzwischen sind Koryphäen auch aus  anderen Forschungsdisziplinen wie Biologie,  Mathematik und Physik hinzugenommen, die insbesondere die wahrscheinlichen Verlaufskurven der Epidemie zu berechnen und zu modellieren wissen. Diesen Männern und Frauen gebührt unser Dank und die uneingeschränkte  Hochachtung, die echte Wissenschaftler verdienen.

Dann sind allerdings mählich doch Zweifel in mir aufgestiegen. Wieso haben die Politiker  – und die Medien – sich eigentlich bloß auf Experten aus dem engen  Umkreis naturwissenschaftlicher Fächern verlassen? Sind es denn lediglich Naturwissenschaften, die heute als Wissenschaft für voll genommen werden dürfen? Zählt nur ihre Forschungsergebnisse als Wissen, auf das sich die Politik und die Medien für Direkt- und  Sofortmaßnahmen oder akzeptable Erklärungen stützen zu können oder zu müssen meinen? Ist die pausenlose Berufung auf dergleichen angeblich unanfechtbare Positionen für Politiker erforderlich, um der Bevölkerung gegenüber demokratisch glaubhaft- und glaubwürdig auftreten zu können – einer Bevölkerung, deren Zuversicht in unsere Demokratie weithin schütter und schwankend geworden zu sein scheint?

Damit ist freilich der Fragen leider noch längst kein Ende. Wie sicher ist sich die Wissenschaft in ihren Erkenntnissen und Empfehlungen zu dieser völlig neuartigen Pandemie, bei natürlich immer noch „unfertigem “ Wissen vom Virus und offenbar immer neuen Mutationen?  Oder: Sind Wissenschaftler naiv? Haben sie sich auf den Zinnen ihrer hohen Elfenbeintürme von der Politik und von Massenmedien durch Fahrlässigkeiten, Falsch- und Fehlmeldungen auf eine Weise einnebeln und vereinnahmen lassen, dass ihre eigene Glaubwürdigkeit öffentlich erschüttert  werden könnte? Und die wichtigste Frage, die von den Wissenschaftlern, von dem riesigen Getriebe, dem sie angehören, von den mit physischer und psychischer Gesundheit und dem Sozialem befassten Behörden anscheinend nicht einmal in vagen Umrissen ins Visier genommen wird: Wie ergeht es angesichts all dieser Offen- und Unklarheiten den Individuen und Gruppen von menschlichen Existenzen? Wie können wir mit alledem klarkommen? Bei der Frage ist mir auf Grund von mitmenschlichen Beobachtungen während des Jahres 2021 angst und bange geworden.

Der Vorhang ist gefallen – was bleibt fürs neue Jahr an Fragen offen

Ich sollte hier vielleicht erwähnen, dass mich das Thema von der Rolle und Verantwortung der Wissenschaft in Politik und Gesellschaft seit den letzten zwei Jahren in der Oberstufe am Friedrich von Bodelschwingh-Aufbaugymnasium in Bethel bei Bielefeld intensiv beschäftigt hat. Der Unterricht war insgeheim durch eine Rivalität zweier Freunde geprägt. Sie lief zwischen Georg Müller, dem Gründer, der die Schule nach wie vor leitete, ein Führer der deutschen Jugendbewegung, der in Marburg bei dem Neukantianer Paul Natorp mit einer Dissertation über „Das Verstehen der Geschichte“ promoviert hatte und im Deutschland der Nachkriegszeit als Schüler und Mitstreiter des innovativen deutsch-amerikanischen  Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy ein führender Vertreter der Sprachphilosophie und der Reformpädagogik geworden war. Im Mittelpunkt seines Unterrichts stand die Praxis des Erlernens von umsichtigem philosophischen Denken. Sein Stellvertreter war Dr. Hermann Schmidt, der mich als schöngeistigem Schüler immerhin so sehr für Mathematik und Physik faszinierte, dass er mich sogar zur Teilnahme an einer Einführung in Albert Einsteins Relativitätstheorie animiert hat. Seine These, (Natur-)Wissenschaft sei eben Wissenschaft an sich und für ihre Anwendung und Nutzung nicht verantwortlich, hat mir bis zum Studium der Philosophie- und Wissenschaftstheorie in der Erlanger Schule von Paul Lorenzen, Kuno Lorenz, Wilhelm Kamlah und Jürgen Mittelstraß Kopfschmerzen gemacht. An der Universität Cambridge habe ich gelernt,  wie auch die Naturwissenschaften als Teil der allgemeinen  Geschichte zu begreifen sind und damit auch in Mitverantwortung für konkrete historische Zusammenhänge stehen.

Mir ist während des vergangenen Jahres ein komischer Gedanke eingefallen, der Gedanke nämlich, dass es einen besonderen Grund haben könnte, warum – abseits von sonntäglichem Traditionsgesäusel –  das Feld der Geschichte unter Politikern heute ein geistiges Vakuum bildet. Es ist ihr Verhalten in Fernseh-Interviews und Talkshows, das mich drauf gebracht hat. Man kann ihnen kommen, wie man will, sie haben gelernt, sich jeglicher Verantwortung für konkrete Vorfälle älterer oder jüngster Tage und Jahre zu entheben. Sie lassen sich für keine eigene geschichtliche Tat beim Wort nehmen, wenn es nicht gerade in ihr Gegenwarts- und Zukunftstableau passt. Aus ähnlichem Grund dürfte ihnen vielleicht auch jede Vorstellung, jedes Verständnis von und für echte Wissenschaft fehlen. Wissenschaft ist für sie nichts, das als feste Größe zählt. Sie wird nur in Titbits abgepackt und pragmatisch ausgepackt, wenn es ihnen gerade mal in den Kram passt. Sie haben für gewöhnlich auch keinen Sinn und Verstand mehr für politische, soziale oder gar Demokratie zersetzende Folgen und Kollateralschäden ihres verhaltenssgeschädigten Missbrauchs von wissenschaftlichem Falsch- und Kleingeld. Das ist nun jedoch keineswegs als erhärtete politologische Theorie gedacht. Es ist nur ein Versuch, Beobachtungen des ausgehenden Jahres irgendwie zu umreißen. Siehe, wiederum, einige Punkte, die im Zusammenhang mit Corona aufgefallen sind.

Inzwischen werden in Nachrichten-Sendungen, Talkshows und  sonstwo auf Fernseh-Kanälen von frühmorgens bis spät in die Nacht überall jede Menge von Experten aller Provenienzen bestellt, abgerichtet und als Instanzen vorgeführt, selbst unbekannte Größen und Namen aus Hintertupfing und Obersassenhausen, die keiner irgendwie richtig unterbringen, platzieren oder einschätzen könnte. Es sind halt Wissenschaftler, so wie heute ja auch jeder, der mal in der Garage auf einer Untertasse Ton dreht, als Keramiker und Künstler betitelt und im BBK aufgenommen wird. So wird eine Sendung förmlich mit einem externen Wert-Träger ausstaffiert. Es ist fast so, als ob es – trau schau wem – kaum einen objektiv für sich selbst denkenden Journalisten mehr gäbe. Ach je, wenn es doch nur dabei geblieben wäre – es geht jedoch noch um etliche Meilensteine weiter So gibt es bei uns ja keinen unabhängigen  Corona-Experten-Rat wie in Großbritannien, der sich mit einer Stimme politisch zu Gehör bringen würde. Bei uns bringen sich unzählige Experten einzeln, jeder für sich, wo immer möglich selbst zur Geltung.

Politiker – Meldegänger zwischen Wissenschaft und Massenmedien

Auch damit freilich nicht genug: Politiker machen sich zu  Postboten und Meldegängern, die – bei Bedarf täglich oder wöchentlich –  eine Studie, egal woher, ganz  gleich, wie wo was mit welcher Begründung digital zu Papier gebracht,  als tragende Säule einer neuen Corona-Verordnung mit Absolutheitsweihen ausgeschmückt wird.  So wird Wissenschaftliches unbesehen  zu einer Art Boulevardzeitung herabgewürdigt. Es wird zur Reverenz aufgemöbelt, wenn es eine irgendwie nutzbare Neuigkeit gibt – klar, so etwas ist im Vergleich fast noch schlimmer als eine Journaille im Schlepptau von Ideologen, es degradiert Wissenschaft zur Dienstmagd politischer Opportunisten. Aber selbst damit sind wir noch nicht am Ende der Schandmeile angelangt, wo Politik und Massenmedien sich auf dem Boulevard Gutnacht sagen.  Und so wird Wissenschaft missbraucht zu Markte getragen, ganz als wäre sie ein Labor mit bestellten Tagesresultaten, an denen die Politik sich bedienen kann, um sie in wieder neuen Verordnungen und opportunen Regularien zu implantieren. Eine skandalöse Grundlagenverfälschung. Eine andere böse Moral von der Geschicht: Die armen Leute auf der Straße und daheim sind laufend verunsichert und kujoniert; denn die Politiker bedenken nicht, was sie da tun, und  der Plebs weiß  nicht mehr, als dass sie tun müssten, was die „da oben sagen“ von sich geben, ohne verlässlich verstehen zu können, wie sie sich  in welchen Räumen mit wem zu welchen eingeschränkten Zwecken zu verhalten hätten. Das Ganze führt natürlich auch, wie der Engländer sagt, “to a demolition of the social fabric“.

Oder in puncto Corona-Impfstoffe, für deren blitzartig schnelle Entwicklung, Massenherstellung  und logistische Verbreitung die betreffenden Forscher, Technologen und Produzenten gar nicht genügend gerühmt und wertgeschätzt werden können. Man nehme nur ein Medikament zum Vergleich: Wenn ich es richtig verstanden habe, ist während des ganzen ersten Jahrzehnts unseres Jahrzehnts lediglich eine einzige wichtige neue Coronar-Arznei entwickelt, wissenschaftlich ausgetestet und von den amtlichen Kontrollbehörden zugelassen worden. Wie ist so etwas da bei  den Impfstoffen gewissermaßen im Handumdrehen möglich geworden? Aber was geschieht: In der Bundesrepublik klappt die Be- und Zustellung an die wartende Bevölkerung, weil sie den amtlichen Behörden vom Bundesgesundheitsministerium abwärts obliegt. Und sie blasen die Sache pausenlos auf. Da werden  Impfstoffe von der Politik medial als wissenschaftliche Heilsbotschaft auf die  pandemische Notlage gehypt, als Erlösung von einer katastrophalen Seuche gefeiert, und schließlich fast unter Strafandrohung als einzige Endlösung aufgezwungen – was sich nur zu bald als Ente entpuptpt,  mehrmals, die fraglichen Impfstoffe sind nicht das ewige Heil der Welt, ihre Wirkung ist nur von temporärer,  säkularer Dauer, es braucht eine zweite, eine dritte Impfungen, Nachimpfungen vielleicht von der Wiege bis zur Bahre – die Pandemie ist nicht besiegt oder vielleicht gar nicht besiegbar, wir müssen mit ihr leben lernen, und keiner kann oder will sagen, unter welchen Bedingungen, zu denen für viele das existentielle, soziale oder wirtschaftliche Exit gehören könnte.

Wie kommt einer damit zurande?  Und: Sollte unter unseren politischen Herrschaften, Bürokraten und „Experten“  wirklich niemand nicht einmal eine blasse Ahnung davon haben, was eine Gesellschaft, was eine Ordnung, was eine Demokratie, was die Welt im Innersten zusammenhält – nämlich eine gewisse Sicherheit, Vertrauen und Verlässlichkeit? Es ist eine Frage, die privat und nach Gesprächen im Freundes- und  Verwandtenkreis, soweit sie heute am Telefon noch möglich sind,  einfach bloß so, in ethischer Verantwortung gewiss doch auch einmal laut und vernehmlich  geäußert und publik gemacht werden darf. Oder?

Und gleich, vor Weihnachten – ein ominöser Eklat

Und  was dazu nun auch noch die Beziehung zwischen Politik, Medien und Wissenschaft angeht, so müsste  namentlich unbedingt unser jetziger Gesundheitsminister ins Gespräch gebracht werden. Weil nämlich in seiner Person und in seiner Amtsführung ein besonders übles Problem extrem in Erscheinung tritt – ein missverständliches und nie offen austariertes, ein gefährlichen Neben- und Durcheinander von verschiedenen  echten und nicht ganz so lauteren Rollen extrem und exemplarisch in Erscheinung tritt.  Er ist im strengen Sinne des Wortes eben keineswegs der (aktive) Wissenschaftler, der zu sein er allem Anschein immer wieder vorgibt.

Ja, er hat, in Deutschland und den USA, Medizin studiert, über viele Jahre, eine ganze Reihe von Examina abgelegt und mehrfach einen Magistertitel und Doktortitel erworben, als Humanmediziner sowie zusätzlich in den Nebendisziplinen Gesundheitsökonomie, Gesundheitsmanagement, Public Health und sogar Epidemiologie. An der Universität Köln ist er ab 1997 als Professor für Gesundheitsöknomie und Klinische Epidemiologie tätig gewesen. Es sei der Fairness halber vorab erwähnt: Es ist ja auch eine beachtliche Menge an akademischem Holz hinter der Haustür.  

Es muss nun aber jedoch einmal genau so laut und vernehmlich erwähnt werden, dass Karl Lauterbach seit 2005 nicht mehr als Professor aktiv ist. Seither ist er nicht mehr als Wissenschaftler tätig und nicht mehr als Forscher aktiv. In den letzten Jahren – seit er 2005 als SPD-Abgeordneter in den Bundestag gewählt wurde -, fungiert er lediglich – nicht mehr und nicht weniger – als Berufspolitiker. Und an der Erforschung des Corona-Virus seit Anfang vorletzten Jahres kann er ebenfalls unmöglich beteiligt gewesen sein. Denn auch an  der Harvard School of Public Health, wo er wohl noch  regelmäßig unterrichtet, führt er nur den Titel eines „adjunct professor“ – was am ehesten mit „Lehrbeauftragter“ übersetzt werden kann. Zudem drüben mal nur über „Gesundheitspolitik und -Management“. Summa summarum: Er gehört eigentlich keineswegs zu dem Kreis und Rat der WissenhaftlerInnen, ProfessorInnen und Corona-Experten, zu dem etwa Christian Drosten, Hendrik Streeck und Thomas Wieler zählen.

Karl Lauterbach verdankt seine diesbezügliche Prominenz der öffentlichen Wirkung als häufigster Gast fast aller deutschen TV-Talkshows, wo er sich oft als Kenner internationale Studien in Szene setzt. Dabei ist er Kollegen als wissenschaftskommunikativ leichtfertig und problematisch aufgefallen.  Es ist bekannt geworden, dass er – als Vertreter von Parteigremien – wissenschaftliche Gremien auf eine Weise politisch unter Druck gesetzt hat, dass er sich sogar dem Vorwurf von Wissenschaftsfeindlichkeit durch Dr. med. Werner Bartens, einen der angesehensten deutschen medizinischen Wissenschaftsjournalisten aussetzte. Muss nun also auch noch die  politische Rolle Karl Lauterbachs unter die Lupe genommen werden?

Hat er sich nicht ähnlich inakzeptabel verhalten und selbst desavouiert wie Armin Laschet mit seinem Lachen im falschen Moment beim ehrenvollen Gedenken der Opfer der Ahrtal-Katastrophe durch Bundespräsident Steinmeier? Lauterbach war kaum im Amt. Es war kurz vor Weihnachten.  Er hat auf einer Pressekonferenz neben Professor Wieler vom Robert-Koch-Institut gesessen, und die beiden haben so deutlich andere Positionen geäußert, dass ein Journalist sich die Frage an den Bundesgesundheitsminister erlaubte, ob Wieler etwa  nicht die gleiche Erkenntnis vertrete wie Lauterbach. Worauf Lauterbach laut hörbar daneben erklärt hat: „Wenn er es nicht täte, säße er jetzt nicht hier.“

Lauterbach mochte anschließend noch so sehr die doch ganz selbstverständlich respektierte Unabhängigkeit der Wissenschaft in den Mund nehmen – er war auf der Stirn gezeichnet. Denn es ist ein inzwischen hinlänglich bekannter Einwand von Corona-Experten, dass ihre Argumente mitnichten von der Politik respektiert und ernstgenommen werden. Es ist kein gutes Omen für Lauterbach und das Vertrauen der Öffentlichkeit in seine Amtsführung.  .

Oder habe ich da etwa falsch gehört? Sollte außer mir kein Zuschauer sonst vernommen haben, wie der Gesundheitsminister suggeriert hat, der Professor vom Robert-Koch-Institut sei ein wissenschaftlicher Vasall von Karl Lauterbachs Gnaden? Wer hätte sich da nicht an Donald Trump erinnert fühlen müssen? Warum hat es niemand getan? Ich widerspreche meiner Frau ungern, und meine Frau, die schon des öfteren geklagt hat, dass ich nicht mehr gut höre, meine Frau meint, ich hätte ich mich sicher verhört.

Meinerseits mag ich nicht glauben, dass Werner Bartens recht hatte, wenn er Karl Lauterbach Wissenschaftsfeindlichkeit vorwarf. Nach den vielen Talkshows mit Karl Lauterbach, die ich während des vergangenen Jahres gesehen habe, meine ich, dass er ein anderes Problem haben könnte. Er will doch bestimmt immer nur das Beste. Und er möchte gewiss alles tun, damit das Beste, damit auch  das Richtige in die Gänge kommt, damit die Pandemie besiegt und Deutschland von Corona frei wird. Dazu wird er von seinem ganzen, und allem Anschein nach gewiss nicht kleinen Ehrgeiz, Tag und Nacht angetrieben. Ist er davon vielleicht nicht geradezu besessen? Glaubt er möglicherweise eben deshalb, dass er recht haben muss, wenn andere, die doch bloß Wissenschaftler sind, in Sachen Corona anderer Meinung sind als er? Weil er sich selbst auch als Wissenschaftler versteht, aber als Bundesjustizminister in der Verantwortung steht, dass richtig gehandelt wird? Nein, bitte nicht, so ein Verhalten ist überhaupt nicht mit dem politisch narzisstisch, soziopathologisch agierenden Machtmenschen und Blindgänger Donald Trump zu vergleichen. Trotzdem, wenn ich diesen  Lauterbach seh und hör, krieg ich Muffensausen.  

Ein Buch bringt Licht ins Dunkel

Ich habe mir Folgen der Corona-Pandämie während der letzten zwanzig Monate zum Jahresende einmal in ihrer ungeheuerlichen kollektiven Wucht vor Augen geführt. Es gibt da nämlich eine Statistik. Sie sieht so aus: Achtzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung auf der Erde (naja, in den Industriestaaten) – vier von fünf Lohnabhängigen, beiderlei Geschlechts! – haben es am eigenen Leibe erleben müssen, wie sie in Zwangsurlaub geschickt wurden, Kurzarbeit hinnehmen mussten, im Home Office zwischen den engen Wänden daheim zu bleiben hatten oder ihren Job verloren.

So etwas ist in der Geschichte der Menschheit noch nie vorgekommen. Bei uns aber hat man so getan – und tut letztlich konkret noch immer so -, als ob dieses schreckliche Virus sich an den Grenzen aussperren ließe, als ob es Bundesland für Bundesland, Landkreis für Landkreis, auf eine Stadt oder ein Dorf isoliert und in Schach gehalten werden könnte – wenn man die Leute nur dazu brächte, sofern das Virus an irgendeinem Datum, gewisse bürokratisch festgelegte Höchstwerte überspränge, zeitweilig ihre sozialen Kontakte einzuschränken, oder, neuerdings, impfen ließe – notfalls unter Druck von oben, mit dem Versprechen, dass es dann gewiss bald das Weite suchen. Und die gute alte Welt würde bald wieder hergestellt sein. Und so wechselten Restriktionen mit Lockerungen der Einschränkungen und Maßregelungen, und das Virus  hat sich einen Dreck um unsere niedlichen Ideen zu seiner Bekämpfung geschert und feiert immer wilder feierliche Urständ, und tobt sich weiter mehr oder weiter inkognito aus und mittlerweile haben mehr als hunderttausend Männer und Frauen aller Altersgruppen –  selbst Kinder, die zunächst eigentlich Freikarten vorm Sterben gehabt haben sollten, das Zeitliche gesegnet. Und wer noch überlebt hat, graust sich zunehmend, das Überleben könnte haarig und unschön werden. Wogegen unsere Oberen uns nach wie vor unbeirrt das altdeutsche Evangelium verkünden, erstens hätten wir es – ganz wie erwartet – doch vergleichsweise prima geschafft und  zweitens würden wir – wenn wir nur brav befolgten, was sie uns abverlangten – selbstverständlich wieder auf der breiten deutschen Sonder-Einbahn-Zukunfts–Straße zu unserem althergebrachten, wie gewohnt himmlischen Wohlstand zurückfinden. Und  wer glaubt, wird selig. Mal sehen, wie lang diese obrigkeitliche Engelsbotschaft unsere kalten Herzen nach Weihnachten zu wärmen vermag.

Was – um noch einmal auf ihn zurückzukommen – Karl Lauterbach und seinesgleichen von der alten und neuen Bundesregierung mitsamt ihrer Talkshow-Gastgeber angeht, so ist nun ein formidabler Widerpart in die Arena gesprungen, ein wahrer Wissenschaftler, der nicht mehr wegdisputiert werden kann, nicht zuletzt, weil er einer soliden Breite der Realität verankert ist, die nicht, wie sie, auf einer wissenschaftlichen Nadelspitze  Herberge fände. Außerdem geht er das Problem aus einer neuen Perspektive an, auf die niemand der anderen Debattanten vorbereitet sein wird. Er hat ein Buch geschrieben, das unserer Politiker – und alle im Land, die von ihren Machenchaften – bisher unwissentlich – leidvoll berührt sind – endlich wieder zum Lesen bringen müssten.

Es handelt sich um Adam Tooze, einen Briten, der als Kind und Jugendlicher  hier zu Lande aufwuchs und später auch in  Berlin studierte.  Er kennt  Deutschland und seine  Geschichte der vergangenen hundert Jahre wie niemand sonst. Er ist Historiker, und  kennt die Zeitgechichte von einer Seite her, die ebenso ungewöhnlich ist. Er hat nämlich Volkswirtschaft studiert, in Cambridge, am King‘s College, das John Maynard Keynes, dessen Einfluss  bis heute prägend genlieben  ist, zu einem Weltzentrum der Politischen Ökonomie gemacht. Dort wurde sein Lehrer und Mentor Keynes‘ Schüler Wynne Godley, der vielleicht brillanteste und einflussreichste britische Ökonom bis ins unser Jahrhundert, ein Makro-Ökonom mit langer praktischer Erfahrung als leitender Mitarbeiter des Londoner Finanzministeriums, der auch als genialer Statistiker und Langzeit-Diagnostiker bestach – vor allem jedoch als innovativer Spezialist von Krisen und Krisenbewältigungsstrategien. Nach einem Folgestudium an der Freien Universität in Berlin, wo er sich mit dieser Methodik  in die moderne deutsche Ökonomie einarbeitete, wechselte er für wirtschaftshistorische Forschungen an die London School of Economics, danach zu Geschichtsforschungen wieder nach Cambridge, um ab 2009 an der amerikanischen Universität Yale Forschungen in deutscher Zeitgeschichte  zu treiben und anschließend als Leiter des Instituts für Internationale Sicherheitsfragen zu arbeiten. Er erforscht heute insbesondere die Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft, Kapital und Banken mit ihren Krisen an der Universität Harvard.

Man könnte Adam Tooze den maßgeblichen, innovativen Erforscher von Krisen und des Krisenverhaltens nennen. Eine seiner neuen Grunderkenntnisse geht dahin,  dass die entscheidenden Krisen seit Beginn des 30. Jahrhunderts aus immer umfassenderen und tiefer greifenden Eingriffen von Staaten (wie insbesondere Deutschland, die Vereinigten Staaten und heute die Volksrepublik China) auf die eigene Wirtschaft und die Weltpolitik entstanden sind. Es hat seit den 1990er Jahren zu einem Neoliberalismus und Globalismus  geführt, der die wissenschaftlich  längst klar definierten „Grenzen des Wachstums“  in hemmungslosem Expansionsstreben missachtete. So kam es zu einem Konflikt zwischen Mensch und Natur, der sich in einer wahrhaften globalen Pandämie entlud. die bereits kein Land auf Eden verschont hat und als erste Ankündigung weiterer globaler ökologisch-ökonomischer Krisen diagnostizierbar ist.

Hier wird Geschichtswissenschaft zur Zeitdiagnostik. Sie wird beispielhaft durchgeführt – wie es allein der immense Anhang dokumentiert, Er enthält nicht einfach, wie bisher üblich, Quellenbelege mit Annotationen. Er stellt ein weltweites Netzwerk von Forschern und Forschungstätigkeiten dar, ein wissenschaftliches Aktivum von bleibendem Wert. Das ist das eine außergewöhnliche Phänomen. Es gibt einen zweiten Punkt, der wie ein Unikat ist. Dieses  Buch von Adam Tooze, „Die Welt im Lockdown“, setzt im März 2020 ein, als auch die globale Krise greifbar wird. Es läuft parallel zum Verlauf der Krise selbst. So wird es gleichzeitig zu einer unmittelbaren, zu einer „live“-Dokumentation der Krise, ihrer Erfahrung und  Erforschung. So etwas Aufregendes  ist mir noch nie begegnet. Und da ist auf noch etwas Singuläres hinzuweisen, das mich wie  ein politisches Ur-Erlebnis fasziniert. Es ist ebenfalls eine Art von quasi allumfassendem, direkt miterlebtem, nachvollzierbarem Narrativ, das als Tatsachenbericht obendrein eine politische Kriminalgeschichte enthüllt. Hier kommt keiner der Akteure mit seinen operativen Inkompetenzen und krummen Dingern davon, hier treten auch tiefgründige Verflechtungen und Verwicklungen, schiere Dämlichkeiten, tragische Verfehlungen und bitterböse Machenschaften kollusionär zutage. Und da ist schließlich noch ein visionäres und pädagogiches Moment diesen Buches. Es bringt, wie gesagt,  die Geschichte dieser ersten globalen Pandämie als ökologische und wirtschaftliche Weltkrise, die alle überrumpelt und zu deren Überwindung bisher niemand eine Antwort gefunden hat. So wird dieses  Werk auch noch ein Kompendium für die Suche nach Wegen zur Überwindung diesen und kommenden Unheils. Man kann, wie es so schön heißt, aus der Geschichte nicht lernen. Auch Adam Tooze hat keine konkreten Vorschläge zur Lösung des anstehenden Problems zu bieten. Aber seine Geschichte ist eine Weg-Geschichte, entlang derer eine Suche nach Lösungen beginnen kann.

Das ist äußerst wichtig. Denn, wie Adam Tooze zu zeigen vermag, sind die Politiker, was eine Lösung betrifft, noch nicht einmal auf einer möglichen Zufahrtsstraße. Adam Tooze kann in dem Buch, das er etwa im April 2021 abgeschlossen hat, nur hoffen, dass ein effizienter Impfstoff gegen Corona entdeckt und entwickelt wird, der global genutzt werden kann. Er ist sicher, dass sich eine Kapitalpolitik finden ließe, damit er global eingesetzt werden kann –  ein entscheidender Punkt. Es ist nämlich eine wissenschaftlich belegbare Erkenntnis der Seuchengeschichte, dass Epidemien florieren, wann das Ausmaß an Armut überhandnimmt, wie  auch das ja in unserer Zeit der Fall ist. Und Adam Tooze hat festgestellt, dass die Billionen, die im Zusammenhang mit der Pandämie „gedruckt“ worden sind, dass die Aufgabe der neoliberalen Prinzipien, die in der Austeritätspolittik kulminierte, mit der ganze Infrastrukturen  zerstört wurden, die in der Krise sozial notwendig gewesen wären, die lange als von ewiger Gültigkeit galten, zwar richtig und wunderbar waren. 

Aber wozu hat es schließlich  gedient? Zur Sicherung des Bankensystems und der alten Finanzpolitik.

Worauf laufen die bisherigen deutschen und europäischen Strategien und Taktiken gegen Corona hinaus – auf die Erhaltung dessen, was politisch, sozial und wirtschaftlich bisher war.

Die Politik muss auch in der Bundesrepublik endlich begreifen, was Wissenschaft ist und in ihrem ganzen Spektrum wahrnehmen.

Virologie und Demiologie sind enorm wichtig. Doch mit ihnen ist es wissenschaftlich und in ihrer politischen Ausrichtung durch den Bundesminister nicht getan, ganz gleich, ob sie Jens Span oder Karl Lauterbach heißen und einer Regierung unter Angela Merkel oder Olaf Scholz angehören. Und ein Bundeskanzler müsste im Sinne seiner Richtlinienkompetenz achtgeben und durchsetzen,  dass ein Gesundheitsminister tut, was zu tun ist, so wie Angela Merkel es auch hätte tun müssen.

Und Bücher sollten sie und wir alle miteinander lesen, richtig gute wissenschaftliche Bücher wie dieses Werk von Adam Tooze.

Gerhard Beckmanns Texte bei uns

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