Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Gerhard Beckmann: Warnung vor der Marktmacht der Großfilialisten

Ein Blick auf die Gegenwart des deutschen Buchhandels

– und per Exkurs nach Australien im Jahr 2007 ein Ausblick auf die Zukunft: Ein Großfilialist, der nicht mehr Buch-Händler, sondern Margen-Einkäufer ist – Ein Geschäftsmodell, das buchhändlerisch, kulturell und kommerziell nur scheitern kann.  

Ich weiß nicht, wo er es gesagt hat, und kann es auch nicht im genauen Wortlaut zitieren, aber die Botschaft war klar, die Heinrich Riethmüller verkünden wollte: Dass es heutzutage Großfilialisten sind, die für den Fortschritt und die Zukunft in der Buchbranche stehen.

Dass jemand – im kleinen internen Kreis oder sonstwo, etwa auch in den Medien – Heinrich Riethmüller offen, klar und deutlich widersprochen oder laut gegen seine Behauptung protestiert hätte, ist mir nicht bekannt geworden. Es wäre jedoch dringend notwendig und wichtig gewesen. Denn Heinrich Riethmüller ist gewiss – wie man im Hauptamt und im MVB des Börsenvereins gern und gewiss mit Recht über den bis Oktober 2020 amtierenden Vorsteher versichert, „ein feiner Kerl“. Er ist auch der Spross der angesehenen Buchhändlerfamilie, welche die Tübinger Buchhandlung Osiander seit 1920 geführt hat – die zweitälteste Buchhandlung Deutschlands. 

Er selbst kann jedoch nicht mehr als Buchhändler verstanden werden, wie seine Vorfahren es waren. Er ist Großfilialist. Und im vergangenen Jahr hat zudem ein Zusammenschluss von Osiander mit Thalia stattgefunden, mit einer einschneidenden Konsequenz, die Andreas Mundt, der Präsident des Bundeskartellamts, das den Zusammenschluss genehmigte, in der Urteilverkündung vom 29. November 2020 unmissverständlich folgendermaßen benannt hat: „Das Vorhaben führt – trotz der Betonung der korporativen Aspekte in der Außendarstellung – dazu, dass Thalia die Kontrolle über die buchhändlerischen Aktivitäten von Osiander erwirbt.“ 

Wie ist die Botschaft Heinrich Riethmüllers also zu bewerten? In seiner Eigenschaft als Vorsteher des Börsenvereins, sozusagen ex officio, kann er sie sie ja wohl nicht verkündet haben.

Der CEO von Thalia, Michael Busch, hat am 29. Januar 2021 in einem Interview mit dem Börsenblatt erklärt: „Im Vergleich zu anderen sehen wir eine großartige Zukunft für den stationären Buchhandel.“ Und: „Wir werden nach Corona ein starkes Wachstum im stationären Buchhandel haben.“ 

Auch diese höchst erstaunliche Botschaft ist meines Wissens nie und nirgends kritisch aufgespießt worden. Es wäre ebenfalls dringend erforderlich gewesen. Denn es ja nicht nur so, dass gerade ein Großfilialist wie Thalia seit den regierungsamtlich verordneten Schließungen der Geschäfte im bisherigen Rahmen der Corona-Pandemie so massive Einbrüche hinnehmen musste, dass sie die Finanzierung des Ausbaus seiner groß angegongten Multi-Channel-Innovationen in Frage stellen. Es ist außerdem durchaus offen, wie lang das Hin und Her zwischen Lockdowns und Lockerungen weiter andauern und dem ganzen Einzelhandel eine Rückkehr zur Normalität ermöglichen wird. Und es steht noch in den Sternen, ob und wann die Innenstädte, mit deren florierenden oder deflorierten Kauf-Anreizen für konsumorientierte große Besucherströme eng verknüpft ist, zu ihrem früheren urbanen Leben zurückfinden werden.

Der Diskussionsbedarf reicht allerdings noch weiter, bis ins Grundsätzliche. Es beginnt damit, dass man es dem Thalia-Chef nicht durchgehen lassen dürfte, sich – was er zunehmend gerne tut – als Repräsentant und Sprecher, als pars pro toto des stationären Buchhandels auszugeben. Er dürfte nicht einmal als typischer Vertreter des Filialbuchhandels durchgehen. Denn Thalia verkörpert einen Typ des Großfilialistentums, der eine Perversion des stationären Buchhandels darstellt – eine Perversion, welche die Zukunft des stationären Buchhandels gefährdet. Und er ist das Gegenteil dessen, was er zu sein vorgibt: keine Erfolgsgeschichte, sondern das Geschäftsmodell eines buchhändlerischen, kulturellen und kommerziellen Niedergangs; eine fatale systematische Fehlentwicklung in der Buchbranche. 

Und dass solche Formulierungen, die, diesen Typus des Großfilialisten betreffend, in Deutschland manchen als zu hart oder scharf vorkommen könnten, keineswegs übertrieben sind, beweist eine sehr genau dokumentierte Geschichte, die sich vor anderthalb Jahrzehnten in der angelsächsischen Welt abgespielt hat.  

Das neue Jahrtausend begann mit einem neuartigen Skandal im Geschäftsverkehr zwischen Großverlagen und Massen-Buchhandel

Die Geschäftsbedingungen und Konditionen, die Verlage großen Filialisten einräumen bzw. die ihnen von Ketten abverlangt werden, zählen zu den bestgehüteten Geheimnissen der Buchbranche. Es war deshalb eine Sensation, als ein britischer Verlagsmann 2001 in der Londoner Wochenzeitschrift „The Spectator“ auspackte und erstmals folgendes enthüllte: Britische Verlage hatten 10.000 Pfund Sterling zu zahlen, wenn die Buchhandelskette W.H. Smith eine Novität als „Lektüre der Woche“ anpries, und jeweils 2.500 Pfund, wenn der Filialist Books etc sie als „Showcase“ oder Borders sie unter dem Schild „Best“ herausstellte. Laut „Spectator“ forderte der Online-Händler Amazon 6.000 Pfund für die Vergabe seines Werbetitels „Buch des Monats“. Für die Anpreisung eines Autors als „Frisches Talent“ wurden 850, für die Auszeichnung „Latest Thing“ – etwa „Letzter Schlager“ – 15.000 Pfund kassiert. Und natürlich wurden in Kettenläden  – ohne Extra-Bezahlung  – auch keine Neuerscheinungen als Blickfang am Eingang hochgestapelt. Es waren konkrete Nachrichten. Sie lösten Empörung aus. 

Sechs Jahre später kam es dann in Australien zu einem Riesen-Eklat. Ausgelöst hatte ihn der Buchhandelsprimus Angus & Robertson. Der Eklat führte dazu, dass ein Verlegerverband erstmals öffentlich massiv Kritik an einem Einzelhändler übte. Und der Autorenverband eines Landes rief erstmals zum Boykott einer Buchhandelskette auf. Signifikanter noch: Der Australische Buchhändlerverband bezog erstmals öffentlich Stellung zur Geschäftspolitik eines seiner Mitglieder und bekundete – gegen das umsatzstärkste Mitglied (!) – seine Solidarität mit den Verlegern, Autoren und Buchkunden.

Und erstmals machten die Medien einen Skandal in der Bücherwelt zum Thema Nummer Eins. Es dürfte ein bislang ebenfalls einmaliger Vorfall gewesen sein, dass quasi ein ganzes Land gegen einen Buchhandelsgiganten aufstand. Es gab zahllose Blogs, in denen Bürger erklärten, nicht mehr bei Angus & Robertson zu kaufen, und unabhängige Buchhändler aufforderten, ihre Chance aktiv zu nutzen.

Angus & Robertson ist und war eine „nationale Marke“. Der Name ist der australischen Bevölkerung zu 96 Prozent vertraut. Es handelt sich um eine der ältesten Buchhandlungen des Kontinents. Gegründet 1884 in Sydney, entwickelte sie sich, wie es heißt, zur „größten Buchhandlung der Welt“ und breitete sich als erste landesweit aus. Der Name Angus & Robertson galt als ein fester Bestandteil der Traditionen australischer Kultur. Das machte die Empörung umso heftiger.

Die Filialkette hatte damals ungefähr 18 Prozent des dortigen Buchmarkts in ihrer Hand, sie unterhielt 183 Filialen (davon 60 im Franchise-Verfahren). In vielen Städten war ihr Laden die einzige Buchhandlung am Ort. Der Umsatz mit Büchern australischer Autoren machte knapp ein Drittel des Gesamtvolumens aus. Ein großer Teil, wenn nicht die Mehrzahl dieser Schriftsteller, wurde (und wird) von kleinen bis mittleren Verlagen verlegt – und eben diesen Verlagen hatte Angus & Robertson die Auslistung angedroht. Das Unternehmen wurde damals seit kurzem durch zwei Topmanager geprägt, die in britischen Supermarkt-Unternehmen Karriere gemacht hatten. Sie gingen zu einem skandalös rüden, erpresserischen Geschäftsgebaren über, das im Buchgewerbe völlig neu war. Sie rechneten nicht damit, dass es publik würde.

In der Regel wahren Verlage, die von Ketten mit unkoscheren Forderungen konfrontiert werden, darüber Stillschweigen, weil sie befürchten, dadurch ihren Geschäften schaden zu können. Darauf bauten, im Bewusstsein ihrer händlerischen Machtposition, gewiss auch Charles Rimmer und Dave Fenton von Angus & Robertson: Mit (umgerechnet) rund 225 Millionen Euro Umsatz waren sie für die meisten Verlage der wichtigsten Handelspartner. Auf so einen Filialisten kann und mag eigentlich niemand verzichten. Nur: in ihrer Arroganz überspannten sie den Bogen dermaßen, dass einem Verleger der Kragen platzte und er an die Öffentlichkeit ging.

Anlass war folgendes Schreiben von Angus & Robertson, unterzeichnet von Charles Rimmer, das Michael Rakusin,Chef des Tower Verlags, am 1. August 2007 in seiner Post vorfand:

„… Wir haben vor kurzem eine Analyse abgeschlossen, um unsere Lieferanten hinsichtlich des Nettogewinns zu klassifizieren, den sie für unser Unternehmen generieren. Wir sind zu der Erkenntnis gelangt, dass wir viel zu viele Lieferanten haben und dass über vierzig Prozent unserer Konditions-Vereinbarungen mit Lieferanten unseren Profitabilitätserfordernissen nicht genügen. Sie werden verstehen, dass diese Situation in einer Zeit weiterhin steigender Geschäftskosten für uns unersprießlich ist, und wir haben daher keine andere Wahl als rasch zu handeln, um sie zu korrigieren.

Demgemäß werden wir die Zahl unserer Lieferanten rationalisieren und für alle Einkäufe eine Mindestgewinnquote festlegen, die wir von unseren Lieferanten erwarten.

Ich teile Ihnen dieses mit, weil TOWER BOOKS in die Kategorie der Lieferanten mit einer für uns inakzeptablen Profitabilität fällt.

Infolgedessen möchten wir Sie bitten, die beiliegende Rechnung bis zum 17. August zu begleichen. Die Summe stellt die Gewinn- Lücke dar, die Ihr Unternehmen verursacht hat und deren Begleichung rückt Ihr Unternehmen von einem inakzeptablen Gewinnpegel in einen Bereich oberhalb unserer Mindestgewinnschwelle.

Falls Ihre Zahlung nicht bis zum genannten Termin eingehen sollte, bleibt uns keine andere Wahl, als Sie von der Liste unserer autorisierten Lieferanten zu streichen, und Sie werden keinen weiteren Geschäftsverkehr mit uns führen können, bis die Zahlung erfolgt ist.

Außerdem füge ich diesem Brief ein von Ihnen auszufüllendes, an mich zurückzusendendes Formular mit Ihren Konditionsvorschlägen für unser am 1. September 2007 endendes Geschäftsjahr bei. Wir haben dabei folgende Erwartungen:

——- Alle Konditionsvereinbarungen enthalten einen Standardrabatt, einen Wachstumsrabatt und ein Minimum an finanzieller Kooperation, um eine Teilnahme an unseren Marketing-Aktivitäten zu ermöglichen.

——- Wachstumsrabatte werden wirksam, sobald unsere Einkäufe bei Ihnen 1 A$ (einen australischen Dollar – G.B.) gegenüber dem Vorjahr übersteigen.

——- Sämtliche dieser Rabatte sind künftig vierteljährlich für die Leistungen des vorausgegangenen Vierteljahres zahlbar. Sie haben zu gewährleisten, dass Ihre Überweisung sowie die ihr zugrundeliegenden Berechnungen bis zum 7. eines jeden Monats nach Ende des jeweiligen Vierteljahres eintrifft. Fällige Überweisungen, die bis zu diesem Datum nicht eingegangen sind, werden mit einem Tageszins von 5 Prozent belastet.“

Einen entsprechenden Brief erhielten 46 weitere Verlage, das behauptete Angus & Robertson nach dem öffentlichen Aufschrei. Laut Australischem Verlegerverband waren es freilich über 160, denen das Schreiben zuging – d.h. rund zwei Drittel seiner Mitglieder.

Für Tower Books lag eine Rechnung über A$ 20.000 bei; bei den übrigen Verlagen reichte die Spannweite der Forderungen von A$ 2.500 bis A$ 100.000 – letzteres entspricht ungefähr 60.000 Euro.

Dass Großbuchhändler immer wieder höhere Konditionen fordern, scheint inzwischen normal. In diesem Fall aber verletzt einer sogar geltende Vereinbarungen. Er verlangt von den Verlagen – vier Wochen vor Ende eines Geschäftsjahres, RÜCKWIRKEND für elf Monate – einen Ausgleich für die Differenz zwischen seinem konzernintern festgelegten Gewinn-Plan-Soll und dem sich abzeichnenden tatsächlichen Jahresgewinn und legt ediese Differenz proportional auf die mittleren und kleinen Verlage um. (Mit den Großverlagen hatte A& R laut Michael Rakusin sowieso besondere „sweetheart“-Beziehungen.)

Wohlgemerkt: Angus & Robertson sprach nicht davon, dass ein Verlustjahr erwartet werde. Er wurde lediglich das Planziel nicht erreicht. Charles Rimmer gab auch nicht bekannt, wie hoch der geplante Gewinnsatz seines Konzerns war. Insofern war die verlangte Zahlung für die Verlage nicht einmal nachprüf- und berechenbar; ganz zu schweigen davon, dass der angepeilte Gewinn im Branchenvergleich unangemessen hoch und die Nachforderungen folglich einem Erpressungsversuch mit dem Ziele einer Umverteilung von Arm zu Reich gleich kommen könnte, der etliche Kleine, wie man hörte, gar in Existenznot brachte.

Obendrein wurde von einer prompten Begleichung – innerhalb von zwei Wochen – abhängig gemacht, ob ein Verlag ausgelistet würde oder nicht. Über die zitierten für die Zukunft kategorisch eingeforderten Konditionen – nichts davon Konditionsverhandlungen – mag jeder Leser sich seine eigenen Gedanken machen. Sie waren und sind weltweit jedenfalls bis dato wohl einmalig unerhört.

Der ganze Vorfall hat noch eine lehrreiche Hintergrund-Geschichte. Angus & Robertson wechselte seit den 1970er Jahren mehrmals den Besitzer – in direktem Zusammenhang mit seiner enormen Expansion. In den 1990ern folgte auf das Pressegrosso/Verlagshaus Gordon & Notch die Freizeitwaren-Handelskette Brash, die viele Läden neu ausgestattete sowie um des weiteren Wachstums willen Angus & Robertson mit dem Regionalfilialisten Bookworld fusionierte. Dann wurde A & R an den neuseeländischen Branchenprimus Whitcolls verkauft, der 2001 seinerseits vom englischen Handelskonzern W.S. Smith übernommen wurde.

2007 waren Whitcolls und Angus & Robertson dann Eigentum der Finanzinvestmentgruppe Pacific Equity Partners, die sie dem Vernehmen nach an die Börse zu bringen gedachte – da wäre eine Aufhübschung der Bilanzen gewiss dienlich gewesen. Im Gespräch war aber noch eine andere Sache: dass Whitcolls mit Angus & Robertson die angeblich zum Verkauf stehenden amerikanische Buchhandelskette Borders aufkaufen wollte – wozu natürlich ein vermehrter Kapitalgewinn nur hilfreich hätte sein können.

Genau daraus resultierte ein Argwohn vieler Australier: Das Vorgehen der A&R-Manager, so wurde angenommen, sei lediglich ein Versuch, die Verlage zur Mitfinanzierung einer weiteren Expansion oder Kaufpreissteigerung von Angus & Robertson zu veranschlagen. Beides aber läge letztendlich bloß im Interesse von Pacific Equity. 

„Hören Sie damit auf, Ihre Probleme auf die Lieferanten zu schieben und konzentrieren Sie sich auf die eigenen Inkompetenzen…“  (Guter Rat an einen Großfilialisten)

Dass Michael Rakusin mit dem Brief und der Causa an die Öffentlichkeit ging, war ein Akt von Zivilcourage, für den die ganze Buch ihm hohen Dank schuldet. Er ist aber noch weiter gegangen. Er ist auch aktiv geworden. Er hat – was nicht minder von großem Mut zeugt – die richtigen Konsequenzen gezogen, wie seine  – ebenfalls publik gemachte – Antwort an Angus & Robertson belegt: 

„Sehr geehrter Mr. Rimmer,
wir bestätigen den Eingang Ihres Schreibens vom 30. Juli 2007, der unsere weitere Zusammenarbeit mit Angus & Robertson beendet. Wie von Ihnen verlangt, werden wir am 17. August alle Angus & Robertson-Order stornieren und künftig von weiteren Lieferungen Abstand nehmen…“

Nun zählt Tower Books als Verlag mit einem breiten, eher populären Sachbuch- und Ratgeberprogramm plus anspruchsvoller Belletristik zu den unabhängigen Häusern Australiens von mittlerer Größe. Ihm ist aber auch eine Auslieferung mit immerhin 400 anderen Verlagen teils kleiner inländischer, teils kleiner bis großer ausländischer Verlage insbesondere aus den USA, Großbritannien, den Niederlanden, Italien, Frankreich wie der Bundesrepublik (Taschen) angeschlossen, die alle Buchsparten abdeckt. Michael Rakusin verfügte also über eine solide Kenntnis des breiten australischen Marktes, die in der Argumentation seines Briefs an Charlie Rimmer ihren Niederschlag fand. Auf diese Weise hat die Öffentlichkeit – wiederum erstmals – zumindest partiell Aufschluss über die Organisation, Arbeitsweise und geschäftliche Entwicklung eines Großfilialisten sowie deren Auswirkungen auf Verlage bekommen. Das heißt, Rakusin ging dann in die Offensive. Er fuhr fort:

„…Wir haben beobachtet, wie unser Umsatz mit Angus & Robertson seit 2000 Jahr um Jahr schmolz. Wir haben von Ihrer Seite die Kosten unwirtschaftlich kleiner Bestellungen in Folge von Eigentümerwechsel, einer Umstellung auf das Datenprogramm SAP, eines neuen Managements und von Lagerüberbeständen tragen müssen. Kurzum: Unser Umsatz mit Ihnen ist seit Ende 2000 bis 2007 von über A$ 1,2 Millionen auf A$ 600.000 gefallen.“

Anders gesagt: Rakusin stellt klar, wegen einer Serie von internen Problemen bei Angus & Robertson die Hälfte seines Umsatzes mit dem Großfilialisten verloren zu haben. Das ist starker Tobak. Hätte der Rückgang nicht auch an einem veränderten, weniger attraktiven Programmangebot gelegen haben können? Rakusin bleibt au Attacke: 

„Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Tatsache, dass während des gleichen Zeitraums unser Umsatz mit den anderen großen australischen Filialisten Dymocks, Book City, QDB und Borders um zweistellige Prozente wuchs, dass unser Umsatz auch mit Ihren Franchise-Läden substantiell zunahm und dass unser Gesamtumsatz in der gleichen Zeitspanne um mehr als 50 Prozent gewachsen ist.“

Der Abwärtstrend des Tower Books-Umsatzes bei Angus & Robertson stellt folglich eine singuläre, auf den Großfilialisten beschränkte Ausnahmeerscheinung dar und k a n n somit nur von ihm verursacht worden sein. Dergleichen Klartext ist in der Buchbranche wohl auch noch nie und nirgends offen gesprochen und öffentlich geworden.

Er lässt es auch darauf nicht beruhen. Rakusin macht sogar den geschäftlichen Umgang von Angus & Robertson mit Verlagen zum Thema – und rückt damit die Halbierung seines eigenen Umsatzes mit dem Gtoßfilialisten in ein nochmals neues Licht. In dem Brief heißt es weiter: 

„Sechs Jahre zuvor war es uns gestattet, Vertreter in Ihre Buchhandlungen zu schicken und dort die angemesseneBevorratung unserer Titel zu überprüfen. Dann wurden diese Vertreter ‚ausgeladen’ und wir mussten uns mit monatlichen Besuchen Ihrer zentralen Einkaufsstelle begnügen. Anschließend war Ihnen auch das zu viel des Aufwands, und wir wurden ersucht, unsere Novitäten auf elektronischem Wege zu präsentieren. Da gab es dann alle paar Monate eine neue, kompliziertere Schablone. Im laufenden Kalender-Jahr war uns vierteljährlich ein Besuch Ihres Zentraleinkaufs zugesagt, bei dem uns Gelegenheit zu Verkaufsgesprächen mit allen Einkaufsleitern für die verschiedenen Waren-Kategorien gegeben werden sollte. Bei dem ersten Treffen waren auch alle anwesend, Sie haben jedoch keine einzige unserer Novitäten geordert. Bei dem zweiten Treffen stand uns bloß ein Einkaufsleiter zur Verfügung; zu Bestellungen kam es wiederum nicht. Beim letzten Besuch waren zwei Einkaufsleiter zugegen. Bei all diesen Zusammenkünften hat Ihr überarbeiteter und personell unterbesetzter Zentraleinkauf nicht die Zeit gehabt, sich auch nur einen der neuen Titel anzuschauen, geschweige denn zu lesen.“

„Dass Angus & Robertson um eine höhere Marge kämpft“, folgert Michael Rakusin, „überrascht mich nicht. Was mich erstaunt, ist, dass Ihrem ‚Management’ nicht klargeworden ist: Einem Computerprogramm kann man sein Schicksal nur bis zu einem gewissen Punkt anvertrauen, und es gibt auch nur eine begrenzte Anzahl von ‚Vorzugs’-Vereinbarungen mit Großauslieferungen. Danach kommt es darauf an, die Ware im eigenen Geschäft zu kennen und den Zentraleinkauf in angemessener Weise zu besetzen. Am allerwichtigsten: Man muss ein kompetentes Verkaufspersonal ausbilden. Sie werden nur florieren, wenn Angus & Robertson wieder ‚Bücher’ führt. Bei Ihrem Geschäftszweig haben reine Kostenreduzierungsprogramme ihre Grenzen. Zum übrigen scheint es mir von höchster Bedeutung, dass Sie [damit] aufhören, Ihre Probleme auf die Lieferanten zu schieben und sich stattdessen auf Ihre zentralen Inkompetenzen konzentrieren und deren Probleme lösen.“

Um die Vorwürfe Rakusins auf den Kernpunkt zu bringen: Angus & Robertson hat sich eines höheren Gewinns halber einer drastischen Rationalisierung und Kostenreduzierung in seinen Arbeitsabläufen verschrieben und dabei die Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit als Buchhändler aus den Augen verloren. 

Und dieser zentrale Punkt hat sich in der Öffentlichkeit und bei den Medien als Volltreffer erwiesen. In den A & R-Filialen waren d dummerweise dann nämlich auch zwei Renner aus dem Tower Books-Auslieferungsstall nicht vertreten: Der als Buch des Jahres ausgezeichnete Roman Carpentaria von Alexis Wright sowie ein Titel, der seit neun Jahren ziemlich hoch oben auf Bestsellerlisten rangierte. Und weshalb nicht? Auf Grund der bis zur Inkompetenz runterrationalisierten Einkaufsabteilung von Angus & Robertson? Wegen einer lediglich 45-prozentigen statt der von A & R seit Jahren geforderten 50-prozentigen Grundrabattierung? Die australische Bevölkerung gewann jedenfalls den Eindruck, dass der Großfilialist nicht die Interessen und Bedürfnisse der Buchkäufer wahrnahm und zufriedenstellte, sondern primär eigentlich nur auf eine formale Gewinnmaximierung setzte.

(An dieser Stelle ist für unsere Leser vielleicht eine Erläuterung hilfreich. Die australische Buchwelt ist – wie übrigens die der meisten Länder – in einem fundamentalen Punkt nicht mit dem deutschen Buchmarkt vergleichbar. Dort gibt es nämlich keine Barsortimente. Und das bedeutet: Wenn Angus & Robertson einen Verlag bzw. eine Verlagsauslieferung auslistete, also von ihm direkt nichts mehr bezog, so wurden dessen Titel und Autoren überhaupt nicht in seinen Filialen geführt und verkauft; selbst auf Kundennachfrage nicht. Eine Auslistung kam folglich einem Totalembargo für den betroffenen Verlag und seine Autoren sowie dem kompletten dortigen Ausfall von Besorgungen des Lesepublikums gleich. Eine Auslistung von Verlagen hätte – trotz unserer Barsortimente – freilich auch im deutschen Sprachraum gravierende Folgen: Ihre Titel lägen nicht mehr aus. Sie wären also im Laden nicht mehr präsent).

Es hat hier zu Lande keine Wellen geschlagen, als ich über diesen australischen Fall 2007 auf BuchMarkt Online berichtete. Man hat es offenbar als unwahrscheinlich empfunden, dass dergleichen auch bei uns Einzug halten könnte und ein Großfilialist hier zu Lande eine Marktmacht erpresserisch ausnutzen würde. Man hat mir damals sogar Unfairness vorgeworfen, weil die vielen Partner bei den Filialunternehmen sich immer als seriöse, kompetente und faire Geschäftspartner verhalten hätten. Das schien mir bereits damals sehr fragwürdig. Inzwischen sind Parallelen zwischen dem „bösen“ expansiven Angus & Robertson von 2007 und der heutigen Thalia offenkundig. 

Gerhard Beckmann – seine Texte bei uns auf CulturMag

Siehe davon besonders:
Shutdown bei Orell Fuessli
Offener Brief an den Börsenverein des deutschen Buchhandels
In Sachen Thalia – Offener Brief von Gerhard Beckmann an den Präsidenten des Bundeskartellamts in Bonn
Offener Brief in Sachen Marktmacht im Buchhandel – Warum die Mega-Fusion von Thalia & Mayer‘sche & Ossiander so gefährlich ist 
Starke Argumente für die Buchpreisbindung – Fakten zur großen Wirksamkeit von Buchhandlungen vor Ort 
Gesetzgeber gefragt – Omerta bei den Großfilialisten Wenn die Buchpreisbindung nur auf dem Papier steht und das Barsortiment bedroht ist
Interview: Für menschliches Überleben ist das Buch unentbehrlich – Ein Interview über die unersetzbare Arbeit des stationären Sortiments mit Manfred Keiper
Ein Wutschrei von Gerhard Beckmann #Covid-19 – Der 17. März 2020 und Amazon.

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