
To call a spade a spade – Die Dinge beim Namen nennen
Kritischer Blick auf den Buchmarkt: Gerhard Beckmanns langer wechselreicher Weg durch die Strukturkrise der Verlagswelt – und die Gründe eines persönlichen Neu-Anfangs mit der „BuchMarkt“-Kolumne „Beckmanns Meinung“
Ich glaubte, für meine Arbeit als Verlagsleiter von Zsolnay in Wien endlich so viel vom Gewerbe rundum verstehen und auch konkret zu können gelernt zu haben, wie erforderlich wäre, um dauerhaft einen sicheren Kurs einschlagen zu können. So dachte ich 1987.
Ich war zweisprachig aufgewachsen und habe – auch mit dem Glück eines Forschungsstudiums an der Universität Cambridge, das mir, als 20jährigem, der Göttinger Historiker Hermann Heimpei vermittelt hatte – 1969 in London als Lektor eines kleinen Mail Order-Programms bei der Hamlyn Group mit ihrem revolutionären Massen-Marketing für „fine books with a common touch“ angefangen. War danach zum Senior Editor beim uralten Longmans Green avanciert, der sein Programm zu erweitern gedachte. Kam verlegerisch in die Hamburger Tradition von Claassen und Marion von Schröder, die 1967 bzw. 1968 verkauft worden waren – zu der einem breiten Publikum zugewandten Sachbuch-Nachkriegsgründung Econ – und nun in Düsseldorf weitergeführt wurden. Wurde 1978 bei Bertelsmann Geschäftsführer der AutorenEdition, die im Sinne der 60er Jahre für eine realistische, soziallkritische Prosa mit der autonomen Herausgeberschaft ihrer Autoren stand. Gründete und leitete von 1979 bis 1982 den Literarischen Verlag Steinhausen in München, der dem – global größten – deutschen Lese-Club-Marktführer aus Gütersloh international und im deutschen Feuilleton zu kulturellen Ehren verhelfen sollte. Wechselte nach Zürich, als Programmchef zu Benziger, der Ende des 18. Jahrhunderts aus der Klosterdruckerei im innerschweizerischen Einsiedeln hervorging und verlegerisch wie mit seinen Buchhandlungen für Theologie und allgemeine Literatur über den deutschsprachigen Raum hinaus bis in die USA lange maßgeblich war, Mitte der 1980er dann jedoch saniert und neu aufgestellt werden musste.
Da war ich für die Aufgabe in Wien doch vielseitig und bestens vorbereitet, oder? Zumal ich als Redakteur einer respektablen deutschen Regionalzeitung, als Assistent des Herausgebers eines englisch-französischen Periodikums für Kunst, Drama, Architektur und Musik, als freier Mitarbeiter einer renommierten kleinen Zeitschrift für Lyrik wie für die BBC und für Bodo Harenbergs Branchenmagazin „Buchreport“ obendrein noch medial gut geschult worden war.

„Ein Mann braucht bis zu seinem 48. Lebensjahr einen Mentor“
Ein amerikanischer Soziologe und Psychologe – der Name ist mir momentan entfallen – hat damals eine Aufsehen erregende wissenschaftliche These aufgestellt: Ein Mann braucht in der Regel bis zu seinem 48. Lebensjahr einen Mentor, um den nötigen Durchblick zu haben und mit Erfolg verantwortungsvoll handeln und führen zu können.
Ich habe Peter Bieri, den ich als Philosophen – für sein grundlegendes Buch „Das Handwerk der Freiheit“ und als literarischen Schriftsteller – unter dem Pseudonym Pascal Mercier – für seinen Romans „Nachtzug nach Lissabon“ ganz besonders schätze – einmal gefragt, worauf er seine andauernde Klarheit, Weitsicht und Motivation zu kritischen, konstruktiven Neuansätzen zurückführe. „Auf eine hervorragende Schule“, hat Peter Bieri geantwortet. Er ist am humanistischen Berner Gymnasium Kirchenfeld zur Schule gegangen, wo er neben Latein und Griechisch auch Hebräisch lernte. Mein eigenes Glück begann mit dem Besuch des Friedrich von Bodelschwingh-Aufbau-Gymnasiums in Bethel bei Bielefeld. Es wurde in den 1950ern noch immer von Dr. Georg Müller geleitet, einem führenden Mitglied der Jugendbewegung (vor dem Ersten Weltkrieg), der bei den Neukantianern in Marburg Philosophie studiert hatte; ein entschiedener Antifaschist und aktives Mitglied der Bekennenden Kirche, der nach 1945 zu einem der einflussreichsten Reformpädagogen wurde.

Mein Mentor, dessen hellsichtige Wegweisung mich bis heute trägt
Georg Müller war ein Meister in der Unterscheidung der Geister. Er hat uns mit der Philosophie von Platon bis zum Existentialismus als Lehrbasis von Denkoptionen zur Lebensorientierung vertraut gemacht. Er hat uns in die neue Sprachphilosophie als Korrektur zu dem von Wien ausgehenden und in der angelsächsischen Welt dominanten Logischen Positivismus eingeführt, dessen vor allem auf der Physik basierende eng naturwissenschaftlich abgezirkelte Theorie-Abhängigkeit noch in der blindwütigen Realitätsferne der politischen Stilarten unserer bundesrepublikanischen Gegenwart durchschlägt. Und über Georg Müller kam mir dessen Lehrer, Mentor und Freund nahe, der deutsch-amerikanische Historiker, Sprachphilosoph und Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy.
Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie bedeutend und anregend Rosenstock-Huessy von den 1930er bis in die 1970er Jahren gewesen ist – so muss auch die fundamentale Erkenntnis Thomas S. Kuhns vom Paradigmenwechsel, also von Grundveränderungen der wissenschaftlichen Rahmenbedingungen, als eine Folge seiner phänomenalen Neuordnung und phänomenologischen Umdeutung der Geschichte in seiner Studie „Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen“ betrachtet werden. Seine Soziologie erfasste und erforschte alle Lebensbereiche. Sein dynamisches Ethos, sein Motto für menschliches Verhalten in den immer wiederkehrenden und immer neuen persönlichen Krisen und gesellschaftlichen Umwälzungen lautete „respondeo etsi mutabor“. Es bedeutet, kurz gefasst, dass nicht das Individuum, wie in Descartes‘ Lehrsatz „cogito ergo sum“, der (geistige) Urheber der menschlichen Existenz und Überzeugungen ist, sondern dass wir primär im sozialen Bewusstsein und Handeln, also im Antworten auf ständig neuer Herausforderungen denken, leben und überleben lernen. Es ist dieses Motto, das für mich ganz konkret zur Leitlinie auch in Beruf und Kultur geworden ist.
Ich war noch mit den Traditionen aus der guten alten Zeit vertraut geworden und war in ihre Krisen geraten. Ich hatte, in Reaktion darauf, die Neuerungen der Buchbranche seit den 1960ern miterlebt. Und ich wurde schließlich von der Krise erfasst, die von diesen ihren kritischen Umwälzungen ausgelöst worden ist. Die Wiener Zukunft, an die ich 1987 fest glaubte, hat bloß drei Jahre gedauert. Zsolnay, mit dem ein Drucker und Club-Eigentümer nur kostenfrei hatte Verleger spielen zu können gedacht hatte, wurde an einen Medienkonzern verkauft, der Büchern in Banknoten umfunktionieren zu können hoffte. Eine neue verlegerische Position habe ich danach nicht mehr gefunden.
Ein Innenspieler auf Halb-Außen
Gott sei Dank, sage ich heute. Ich war damals 52 Jahre alt. Jung genug, um noch einmal von vorn zu beginnen. Bin also primär Publizist geworden. Freiberuflich, für führende Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich. Und, ab Mitte der 1990er Jahre immer stärker, Kultur- und Branchenjournalist, in erster Linie schließlich als Chefreporter und -korrespondent, für den “Buchmarkt“.
Ein Insider, der die Branche kritisch begleitet. Und ein Insider war ich noch in besonderem Maße, weil ich durch meine Frau, Giuliana Broggi, in die Interna der Buch- und Kulturwelt der romanischen Länder eingeweiht war. Sie war eine gebürtige Mailänderin, die ihre Kindheit und Jugend in Barcelona, Straßburg und Nizza verbracht hatte, als Tochter eines vom berühmten Hilbert in Göttingen promovierten Wirtschaftsmathematikers, der als Antifaschist zwanzig Jahre im Exil leben musste. Giuliana hatte in leitender Stellung bei Feltrinelli und Bompiani gearbeitet. Sie hatte Lampedusas „Der Leopard“ entdeckt und als Lizenzchefin auch für Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“, Alberto Moravia und andere literarische Größen wie zuletzt als Leiterin des Auslandslektorats bei Grasset in Paris gearbeitet und war ein Weltstar der Branche. Über sie bin ich – ein um sieben Jahre jüngerer „Neuling“ – bei den Eigentümern und Chefs fast aller bedeutenden Verlagshäuser (auch in den USA) „angekommen“. Und so habe ich die – oft schier unvorstellbaren –Hintergründe dortiger Verwerfungen ab den 1960ern „mitbekommen“. Es hat meinen Bick auf das, was sich ab den 1990ern bei uns abspielte, ungemein geschärft.

Verleger und Verlage überschätzen sich gern – ohne Autoren und echte Buchhändlersind sie Papiertiger
Deutschsprachige Verlage und Verleger haben die irgendwie belustigende Neigung, sich und ihre eigene “Welt“ für den Kosmos zu halten; sie verhalten sich, neudeutsch ausgedrückt, vornehmlich selbstreferenziell. Darum muss in diesem Rahmen zumindest angedeutet werden, welch entscheidende Bedeutung den Urhebern der Bücher in meinem Werdegang zukommt, und wenigstens zwölf Autoren und Autorinnen, Herausgebern und Übersetzerinnen und Übersetzer genannt werden: der Schweizer Friedrich Dürrenmatt, der mit seinen Dramen („Die Physiker“) und Romanen („Der Henker und sein Richter“) für die deutsche Nachkriegsliteratur Maßstäbe setzte; die bedeutende englische Philosophin und Schriftstellerin Iris Murdoch („Der schwarze Prinz“); der Nobelpreisträger William Golding („Das Feuer der Finsternis“), der Sizilianer Leonardo Sciascia, der den ersten enthüllenden Mafia-Roman schrieb; der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa ( „Gespräche in der Kathedrale“, „Der Hauptmann und sein Frauenbataillon“), Jürgen Serke und sein für die deutsche Geistesgeschichte revolutionäres Buch „Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft“; und Graham Greene („Der dritte Mann“, „Der stille Amerikaner“) mit dem zusammen ich bei Zsolnay die deutschsprachige Neuausgabe seines Gesamtwerks in die Wege leiten durfte, sowie die Übersetzinnen und Übersetzer Rainer Maria Rilke, Paul Celan, Hilde Spiel, Heidrun Adler und Franz Wurm.
Darum müssen hier auch selbständige Sortimenter erwähnt werden – gerade weil bei uns inzwischen vergessen zu werden droht, dass sie für die Autoren den Weg aus den Verlagshäusern hin zu den Lesern suchen und finden. In diesem Sinne auch hier wenigstens einige herausragende Begegnungen und Freundschaften, die für mein Verständnis des „Marktes“ für Bücher bestimmend gewesen sind: Bernard Stone mit seinem Turret Bookshop in Kensington (London), der die zentrale kommunale und kommunalpolitische Bedeutung des Buchhandels vorgelebt hat; Volker Hasenclever, der mir demonstriert hat, dass ein unabhängiger Buchhändler vor Ort über größere und vielschichtigere Marktkenntnisse verfügt als große Filialisten, Online-Algorithmer und Versender; Heiner Hugendubel, der hierzulande die Idee des Buchkaufhauses als Lese-Erlebnis-Ort initiierte; der viel zu früh verstorbene Friedhelm Eggers von der Heinrich-Heine-Buchhandlung in Essen, Vorstandsmitglied des Börsenvereins, ein international hochangesehener Pfadfinder zur Nutzung neuer Technologien im Dienste der guten alten Sortimenterkultur. Und zur dankbaren Erinnerung an Thomas Bez, den langjährigen Gesellschafter und Geschäftsführer des Barsortiments Umbreit, der uns im Januar diesen Jahres leider von uns gegangen ist – ein Fürsprecher wahren Buchhandels, der kompetenteste und entschiedenste Mahner für eine dringend notwendige Novellierung des Buchpreisbindungsgesetzes, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bisher vereitelt hat, dessen Ehrenmitglied er war. Ich verehre den Freund Thomas Bez. Er war in der Branche ein „rocher de bronze“ der Integrität.
Scheinwerfer auf große Verleger- und Unternehmerpersönlichkeiten, die in der Verlagsbranche vergessen, lange von niemand ernstgenommen und bis heute viel zu wenig gewürdigt werden – und ein Hohelied auf drei Frauen
Ein zusätzlicher Faktor für die Engführung des Kasten- und Kästchen-Denkens in der Branche scheint darin begründet, dass es kaum über die offiziellen Tellerränder hinausgeht. Uns scheint es in vielem an „common sense“ zu fehlen, auf Deutsch: an gesundem Menschenverstand, der speziell in Deutschland durch quasi-männerbündische Reflexe verdrängt wird. Die Entwicklung gesunden Menschenverstandes ist auf menschliche Zufälle, private Konstellationen und grenzüberschreitende Horizonterweiterungen zurückzuführen – und auf Frauen. Warum ist eigentlich kaum jemandem bewusst, dass der eigentliche intelligente, weitsichtige Kopf der Econ-Gruppe in Düsseldorf vielmehr Thea von Wehrenalp und nicht ihr Mann gewesen ist? Dass Monika Schöller eine der großen, bedeutenden deutschen Verlegerpersönlichkeiten war, nachdem ihr Vater ihr Mitte der 1970er Jahre S. Fischer übereignete – Monika Schöller, die,allen voran von dem Macho Siegfried Unseld bei Suhrkamp, eben nur als Tochter Georg von Holzbrincks belächelt oder verspöttelt wurde – und dass durch sie S. Fischer zum vorrangigen Haus für die Aufarbeitung der Nazi-Zeit wurde? Wer kennt denn noch den schier unglaublichen Aufstieg, von ganz unten und nebenher, der gebürtigen Liz Beckmann aus Wiedenbrück, die den Bertelsmann-Konzern und seine dezentralisierte Struktur vor dem zentralistischen Größenwahn des Vorstandschefs Thomas Middelhoff gerettet hat – dem später wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilten Manager, der das Schickedanz-Unternehmen Kaufhof/Quelle bzw. Arcandor dann in die Insolvenz manövriert hat?
Vielleicht ist es mir ersichtlich geworden, weil mein Leben von Kindesbeinen an starken Frauen hing, die mich dann privat und beruflich auf den Weg gebracht haben. Nach dem Tod meiner Mutter war es eine englische Tante, die für mich zu einer Mutter wurde – sie war 1939 zu ihrem Elternhaus gekommen, als ihr Londoner Ehemann seinen Chef auf eine Geschäftsreise nach Hamburg begleiten musste. Während er bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September mit dem deutsch-britischen Baron Schröder heimreisen konnte, verpasste Tante Frieda in Gütersloh den letzten Zug nach Ostende, der eine Stunde früher als fahrplanmäßig eintraf und abfuhr. Sie hat mich bis Ende 1945 aufgezogen, bis sie dann zu ihrem nach Australien ausgewanderten Mann reisen konnte. So habe ich heimlich rudimentär Englisch gelernt – Kenntnisse, die ich bald zu erweitern vermochte, dank einer Frau, die meine zweite, richtige Mutter hätte werden sollen, aber nicht werden durfte. Denn meinem Vater, einem Architekten, der ab Anfang der 1940er Jahre als technischer Leiter des Hafens im finnischen Turku fungierte, wurde von den Nazis die Ehe mit Tante Evelyn verboten, weil sie als Finnin keinen Arier-Nachweis vorzuweisen vermochte. Die Kinderärztin Evelyn Hartmann hat zehn Jahre auf meinen Vater gewartet, der nicht aus dem Krieg zurückkehrte, in Minneapolis, von wo aus sie mich mit einem hervorragenden englisch-deutschen Wörterbuch und Bildbänden über Amerika versorgte – und auf Englisch eine Korrespondenz führte. So bin ich schließlich zweisprachig geworden.
Welche Rolle die Mailänderin Giuliana Broggi in meinem Leben und Verlagsberuf spielte, habe ich bereits erwähnt. Sie ist nach einem zwölfjährigen Leiden an Alzheimer in Passau gestorben. Vor drei Wochen habe ich in Niederbayern nun auch meine letzte Lebenspartnerin verloren. Sie kam, mit einer total andersartigen Biographie, aus einer völlig anderen Welt, aus einem mir unbekannten Handwerk, von einer mir total fremden Kunst und Branche her. Und gerade deshalb bin ich durch sie zu einer neuen Sicht auf meine eigene Branche und zu einer schärferen publizistischen Auseinandersetzung mit ihr veranlasst worden. Sie beginnt dieser Tage mit einer Wiederaufnahme meiner früheren Kolumne „Beckmanns Meinung“ im „BuchMarkt“. Mit dieser Online-Einführung versuche ich die autobiographischen Hintergründe für diesen Anlass zu erklären.
Das unmittelbare, existentielle Miterleben einer bösen Parallele zur Totalgefährdung der Buchbranche veranlasst ein neues kritisches Engagement
Ingrid Eska war eine bedeutende Baukeramikerin, Bildhauerin und Pädagogin, die über zwei Jahrzehnte auch als Dozentin an der Kunstuniversität in Linz Maßstäbe setzte. Sie beeindruckte mit ihrem kompromisslosem Engagement für ihre Kunst, die sie als Handwerk begriff, im Dienst einer Ästhetik und Schönheit, welche die Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens vom Gewohnheitsmäßigen zu etwas fast Sakrosanktem werden ließen, wie es auch die Natur und Tiere für sie gewesen sind, denen sie so nah kam und für die sie eine Staunen erregende Empathie zeigte.
Es hat sich bei ihr mit einer Strenge verbunden, mit einer Schroffheit, mit einer Neigung zu Verurteilung, wenn sie Menschen begegnete, die die Natur und die Materialien der Erde missachteten, die gegen Leben, Art- und Funktionsgerechtigkeit verstießen, die pflichtvergessen und scheinheilig waren. Da kannte sie keinerlei Pardon. Denn sie hat maßlos unter dem rabiaten Niedergang ihres jahrtausendealten Kunsthandwerks während der letzten Jahrzehnte gelitten. Und sie hat die Literatur geliebt – besonders die russische Literatur von Autoren wie Turgenev, Tschechow, Gogol und Bunin – aber den zunehmenden Qualitätsverfall, die Unverbindlichkeit, die oft schamlose Oberflächlichkeit und augenscheinliche Unehrlichkeit des Umgangs miteinander, die „People-Lei“ unserer Branche verachtet, und dabei nicht selten keineswegs ausgenommen. Ich habe sie auch dafür lieben und schätzen gelernt. Es hat, wie gesagt, die Wahrnehmung meiner Branche radikalisiert und bewegt mich dazu, inzwischen horrend kritische Aspekte so ungeschönt wie möglich wie möglich als das zu benennen, was sie wirklich sind – „to call a spade a spade“, wie die Engländer sagen.
Es steht, wie mir immer deutlicher und schmerzlicher bewusst wird, schlecht um die Buchbranche. Spüren tun es offenbar mehr als man auf den ersten Blick meint, im Buchhandel und sogar in Konzernverlagen – dass es dermaßen weitergehen kann, so denn Buchgewerbe und -Industrie nicht total kaputtgehen sollen, geistig, künstlerisch und ökonomisch.
„Respondeo etsi mutabor“, wie ich es von meinen beiden Mentoren gelernt habe. Ich wäre froh, wenn dieser ihr Wahrspruch jedem Mitglied unserer Branche als Leitlinie einer ehrlichen Reaktion und offenen Diskussion ihrer wahren Lage dienen könnte.
Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist einer der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier. Auch sein Jahresrückblick 2021 bei uns ist hier zu finden.
Und siehe besonders von ihm:
Treppenwitz Statistik beim Börsenverein
Gerhard Beckmann: Es braucht eine andere Konzernverlagspolitik
Warnung vor der Marktmacht der Großfilialisten
Shutdown bei Orell Fuessli
Offener Brief an den Börsenverein des deutschen Buchhandels
In Sachen Thalia – Offener Brief von Gerhard Beckmann an den Präsidenten des Bundeskartellamts in Bonn
Offener Brief in Sachen Marktmacht im Buchhandel – Warum die Mega-Fusion von Thalia & Mayer‘sche & Ossiander so gefährlich ist
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Interview: Für menschliches Überleben ist das Buch unentbehrlich – Ein Interview über die unersetzbare Arbeit des stationären Sortiments mit Manfred Keiper
Ein Wutschrei von Gerhard Beckmann #Covid-19 – Der 17. März 2020 und Amazon.