Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Antje Bones & Ulrike Schrimpf über Kinder- und Jugendliteratur

Wenn man Worte hat, kann man froh sein – Ulrike Schrimpf spricht mit Antje Bones

… über Kinder- und Jugendliteratur und ihren aktuellen Roman „Nebenan ist doch weit weg“, der 2023 bei dtv in der Reihe Hanser erschienen ist.

„Es stimmt. Ich bin weit weg. Und es stimmt: Mir geht es gut. Mein
Brotkringel schmeckt hervorragend. Die Sonne scheint. Ich laufe durch
Krakau, ganz alleine. Ich bin frei. Ich glaube, ich fühle gerade in diesem
Moment eine Freiheit, die ich vorher noch nicht hatte.
Mir fehlt nichts. Nicht mal Anne.“

Mit „Nebenan ist doch weit weg“ hat Antje Bones einen Roman für Kinder und Jugendliche geschrieben, der seinesgleichen sucht, und das meine ich genauso: Warum er nicht mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, ist mir, wie vieles, was Preise und Würdigungen im Literaturbetrieb betrifft, schleierhaft. Denn mehr, als das, was der erfahrenen Kinder- und Jugendbuchautorin und -lektorin in diesem Roman gelingt, kann man von einem Buch, egal welchen Genres, nicht verlangen. „Nebenan ist doch weit weg“ ist einfühlsam, fein und klug konstruiert, dabei spannend und an keiner Stelle unangenehm pädagogisch. Antje Bones erzählt in einer eigenen, bewunderungswürdig klaren Sprache und behandelt zwar durchaus bekannte Themen, aber aus ungewohnter Perspektive. Die Charaktere, die sie gestaltet, sind echt und eigenwillig gearbeitet; sie werden beim Lesen erfahrbar, nicht erklärt, sodass die Geschichte unweigerlich bewegt und zum Nachdenken bringt. „Nebenan ist doch weit weg“ führt ins Träumen, Fantasieren und Hoffen. Was sonst will und muss Kunst?

Antje Bones Roman erzählt die Geschichte von Edith, die gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem kleinen Bruder Jakob und ihrer Hündin Lina von Berlin nach Polen umzieht. Die Themen Fremdheit und Ausgrenzung werden hier nicht aus der zur Genüge bekannten Perspektive erzählt ein Flüchtlingskind kommt nach Deutschland und hat es schwer, sondern aus der Perspektive einer deutschen Familie, die ins Ausland geht, nicht weil sie es muss, sondern weil sie es will, und auch nicht weit weg, sondern in ein an grenzendes Nachbarland, das, wie schon der Titel sagt, trotzdem ganz schön weit weg sein kann. Mit einem geschickten erzählerischen Kniff gelingt es Antje Bones, diese Auswanderergeschichte mit einer gravierenden historischen Ebene zu verquicken, der der Judenverfolgung im 3. Reich. Das wirkt an keiner Stelle erzwungen oder didaktisch herbeigeholt, sondern im besten Sinne des Wortes notwendig, was ein weiteres Qualitätsmerkmal des Buches ist: Es erzählt Erfahrungen von Unrecht und Leid, ohne dabei bedeutungsschwanger oder moralinsauer zu sein. Im Gegenteil, Antje Bones Romans bleibt trotz seines Tiefgangs so gut wie immer hell und leicht – eine Kunst, die nicht viele beherrschen.

Die Autorin bedient mühelos unterschiedliche Sprachregister und Schriftformen, Tagebuch, SMS und die Ich-Erzählung. Ihre verschiedenen Tonarten wirken nie peinlich anbiedernd an angebliche – von Erwachsenen gefühlte und beobachtete – Jugendsprachen, noch unangenehm erwachsen und steif. Die Schriftstellerin findet vielmehr ihren eigenen authentischen und bewegenden Ton, um für Klein und Groß, Kinder und Erwachsene, zu erzählen – auch das etwas, das in vielen Kinder- und Jugendbüchern nicht oder nur ansatzweise gelingt. „Nebenan ist doch weit weg“ ist damit ein Buch, das nicht nur Erwachsene toll, lesenswert, bedeutsam was immer finden und im Feuilleton rezensieren und auf Preislisten setzen, sondern das auch Kinder und Jugendliche direkt interessiert und packt. Damit hat Antje Bones die ultimative Herausforderung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur gemeistert –  ich liebe dieses Buch, und alle Kinder, denen ich es vorgelesen oder geschenkt habe, und das sind viele, tun es auch.

Antje Bones: Nebenan ist doch weit weg. Verlag dtv, München 2023. Mit Illustrationen von Michael Szyszka. Lesealter ab 11 Jahren. Hardcover, 304 Seiten, 16 Euro. Informationen zum Buch hier, das Taschenbuch erscheint im kommenden Frühjahr.

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„Ja, morgen ist wieder ein Tag. Ich wickle das rote Buch mit der goldenen
Hand aus dem Papier und lege es auf meinen Schreibtisch. Dann suche ich
meinen Lieblingsstift und schreibe vorn hinein: ,Für die Tage, die noch kommen.‘
Dann lege ich mich ins Bett. Stehe aber nochmal auf, um das Buch so
aufzustellen, dass ich es von hier aus sehen kann.
Wenn man Worte hat, kann man froh sein, denke ich und schlafe ein.“

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Liebe Antje, ich beginne ohne Umschweife: Warum schreibst du – mittlerweile schon über mehrere Jahrzehnte hinweg – für Kinder und Jugendliche? War / ist das eine bewusste Entscheidung oder ist sie dir eher ,passiert‘?

Zu Beginn ist es mir sicher eher passiert. Ich habe den Weg zu den Büchern nämlich rückwärts angetreten: Mein erster fester Job – neben dem Studium – war in einer Presse- und PR-Agentur in Köln. Da war ich hautsächlich fürs Kinderprogramm des WDR verantwortlich, das hat gut zu mir gepasst. Tausend Mal mehr als die Servicesendungen des Senders oder der „Tatort“ zum Beispiel, für die ich hier und da eine Pressekonferenz organisiert oder Pressetexte verfasst habe. Ich fühlte mich beim Kinderprogramm einfach sofort am richtigen Platz, zumal da eine Menge interessanter und unglaublich kreativer Leute am Werk sind. Auch deshalb habe ich später freiberuflich als Redaktionsassistentin und Gutachterin bei der „Sendung mit der Maus“ und bei „Käpt’n Blaubär“ gearbeitet.

Von dort aus zog es mich dann zum Ursprung der Geschichten, zu den Büchern, in den Verlag. Nach Hospitanz und Volontariat blieb ich eine Weile in Festanstellung im Verlag, bis mir klar wurde, was ich wirklich will: Schreiben! Bücher schreiben. Bücher für Kinder. Das war tatsächlich eine bewusste Entscheidung. Raus aus dem Nine-to-five-Job und rein in das Leben als Autorin. Mit allen Vor- und Nachteilen. Kein geregeltes Einkommen mehr, aber auch kein für mich geregelter bzw. vorgegebener und durchgetakteter Arbeitsalltag mehr.

Mein Leben in einer Festanstellung zu verbringen, war – und ist – für mich undenkbar. Das klingt vielleicht arrogant oder snobistisch. Aber es ist einfach so, dass ich unbedingt über meinen Tagesablauf selbst bestimmen muss. Ich bin das, was man gemeinhin hochsensibel nennt. Und zu viel Trubel um mich herum – die dauernden Unterbrechungen in einem Verlag mit zahllosen Telefonaten, endlosen Konferenzen und dauernden Ab- und Besprechungen, gemeinsame Mittagspausen –  ist zu viel für mich. Ich habe kaum eine andere Wahl, als allein zuhause zu arbeiten. Aber genau das genieße ich sehr. Die Ruhe und Einsamkeit beim Schreiben. Und das ganz legitim. Ich muss mich nicht (mehr) erklären. Jeder versteht, dass eine Autorin Zeit und Ruhe braucht.

Du schreibst nicht nur selbst Kinder- und Jugendbücher, sondern hast sie auch lange professionell zur Publikation ausgewählt und lektoriert. Was sind für dich wesentliche Kriterien für gute Kinder- und Jugendbuchliteratur? Welche Maßstäbe setzt du an und warum?

Ja, zur Publikation ausgewählt hat am Ende der Verleger. Ich hätte oft und gern anders entschieden. Am Ende war es allerdings gut so, die schlussendliche Verantwortung für die erscheinenden Titel nicht zu tragen, wer weiß… Aber ich denke schon, ich hätte mich mehr getraut, hätte künstlerischere Illustrationen, hätte abseitigere Themen gewählt. Wirtschaftlich wäre das womöglich nicht immer besonders klug gewesen. Deutschland ist meist sehr bieder. Immer noch und immer wieder. Oh! Das reimt sich – und was sich reimt, ist gut, wusste schon Pumuckl.

Polen hat zum Beispiel fantastische Illustrationen in Kinderbüchern und auch sonst, man denke nur an die berühmten Filmplakate. Aber auch in den Niederlanden, in Frankreich oder in den skandinavischen Ländern gibt es Kinder- und Bilderbücher mit modernen und unkonventionelleren Illustrationen und Geschichten. Du merkst es, in erster Linie waren es ästhetische Maßstäbe, auf die ich geachtet habe. Erstens fallen die gleich ins Auge und zweitens geht es im Bilderbuch, das ich redaktionell geleitet habe, ja auch hauptsächlich darum. Grundsätzlich ist das Bild im Kinderbuch wichtig und muss dementsprechend gut gewählt sein. Ein Bild / eine Illustration kann zum Beispiel eine Leichtigkeit in ein ansonsten schweres Thema bringen, kann ein Gegengewicht schaffen. Oder etwas ganz anderes zeigen, als im Text steht, also einen zusätzlichen Blickwinkel, eine neue Perspektive eröffnen. Natürlich muss die Sprache sitzen. Auch in kurzen Bilderbuchtexten. Vielleicht sogar da umso mehr.

Außerdem bin ich unbedingt dafür, Kindern etwas „zuzumuten“. Auch für Kinder Unbekanntes – bestimmte Worte oder fremde Kulturen oder…  – dürfen gerne auftauchen, dann lernen sie es eben im Buch kennen. Wunderbar! Das heißt aber nicht, dass immer etwas gelernt werden muss oder Probleme gewälzt werden müssen. Ich liebe auch alberne Titel. Bücher, die gar nix wollen. Nur albern sein! Monsterbücher!

Gibt es ein Kinder- oder Jugendbuch, das du besonders magst? Wenn ja, welches und warum?

Das ist ganz klar „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel. Es hat mich – in jeder Hinsicht – in die Mitte meines Herzens getroffen. Ich liebe jeden der ungewöhnlichen Charaktere, niemals stereotyp, immer individuell, oft skurril, mit wahren Stärken und Schwächen. Ich liebe die einfließenden Anekdoten und Kindheitserinnerungen, die Suche nach Sinn und Herkunft, die Verletzungen auf diesem Weg. Die großen Enttäuschungen in Liebe und Familie, aber auch der Halt und Zusammenhalt.

Die Sprache. Der Humor. Die Magie. Ich bin eine große Bewundererin!

Und wenn Sie das hier lesen, Herr Steinhöfel, ich würde so gerne mal einen
Kaffee oder ein Bier mit Ihnen trinken. Wenn Sie mal wieder in Berlin sind?

Leider wohnt er nicht mehr bei um die Ecke. Da hätte ich ihm mal auflauern und in die nächste Kneipe quatschen können… Aber er ist seit „Rico und Oscar“ aus der berühmten Dieffenbachstraße weggezogen, weil da ganze Busladungen von Kindern angekarrt wurden, um auf den Spuren seiner Bücher zu wandeln. Daran sieht man übrigens sehr gut, wie lesebegeistert und leseverrückt Kinder sein können. Und das wird sich auch nicht ändern, wenn du mich fragst. Was du ja mit der nächsten Frage tun wirst, hihi!

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„Der Mond scheint in mein Zimmer und taucht alles in silbrig blaues Licht.
Es ist immer noch sehr warm, und ich stehe auf, um das Fenster weit
aufzumachen. Als ich die Konzertkarte, das leere Kaugummipapier und
den Stein von der Fensterbank räume, wird mir klar:
Ich glaube an Freundschaft.“

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Du bist über viele Jahre hinweg und in verschiedenen Funktionen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur tätig gewesen. Was für wesentliche Entwicklungen beobachtest du? Wie hat sich die Literatur gewandelt? Gibt es Veränderungen, die dich besonders freuen, oder solche, die dich ärgern oder beunruhigen?

Ach, beunruhigen? Nee, eher nicht. Ich nehme wahr. Ich nehme zum Beispiel wahr, dass der Mainstream immer noch wichtiger wird. Eine Idee, ein Konzept, ein Manuskript, das nicht ins Marketing-Konzept eines Verlages passt, fällt durchs Raster und bekommt so gut wie nirgends eine Chance. Wobei Poetisches noch schneller durch dieses Raster rauscht, scheint mir. Viele Verleger verstehen sich eher – und sollen auch als solche agieren – als Manager. Wobei es, klar, auch Ausnahmen gibt.

Aber ja, das ärgert mich! Genauso wie es mich ärgert, dass Vieles nicht mehr „erlaubt“ oder nicht gern gesehen wird in den Verlagen. Man darf zum Beispiel im Kinderbuch kaum noch Alkohol oder Zigaretten oder so erwähnen. Jedenfalls nicht in einem Kinderroman, der sich nicht explizit einer bestimmten Problematik oder aktuellen gesellschaftlichen Debatte zu einer Problematik annimmt. In einer Fantasy-Reihe, die ich vor einigen Jahren schrieb, spielt ein chinesischer Glücksdrache eine große Rolle. Der erzählt zu Beginn von seiner Herkunft und dem Leben in China. Da habe ich vom Tiger-Bier geschrieben – wurde mir direkt gestrichen. Die Bücher büßen dadurch furchtbar an Authentizität, an Atmosphäre und nicht zuletzt an Realitätsabbildung ein.

Genauso ärgerlich finde ich es, dass manche Dinge bei Verlagen in Stein gemeißelt scheinen. Dass Jugendbücher ab 14 es schwer haben, ist Fakt. Da bricht der Markt – mehr bei den Jungs als bei den Mädchen – erstmal ein; in dem Alter sind andere Sachen wichtiger. Also wendet sich der Markt hauptsächlich an Mädchen. Und da höre ich immer wieder, dass ein Buch so gut wie unverkäuflich sein soll, wenn bei den „14+ Mädchen-Büchern“ der Hauptprotagonist ein Junge ist. Es sei denn, es handelt sich um eine Liebesgeschichte. Ich meine, was ist mit Tschick? Auerhaus? Bei meinen Lesungen befrage ich die Kinder regelmäßig. Frage, ob das stimmt, frage die Mädchen, ob sie nicht auch Bücher lesen würden, in denen ein Junge die Hauptrolle spielt. NATÜRLICH! DOCH! UND WIE! Überhaupt diese absolute Einteilung, in Bücher für Mädchen und für Jungs. Und die immer ausgeklügelteren Aufspaltungen nerven mich, ich verliere da den Überblick: Jugendbuch – Young Adult – New Adult, Enemies-to-lovers – Fake Dating… Fantasy – Urban Fantasy – High Fantasy – Low Fantasy… What?

Als Schriftstellerin, die zunächst fünf Kinderromane publiziert hat und dann in das Fach der „Erwachsenenliteratur“ gewechselt ist, weiß ich, mit wie viel Vorurteilen gegenüber dem Genre man sich als Kinder- und Jugendbuchautorin immer wieder konfrontiert sieht: Das fängt damit an, dass Autor:innen von Kinder- und Jugendliteratur für Lesungen, aber auch bei Buchverträgen, schlechter bezahlt werden als Autor:innen von Literatur für Erwachsene. Und es geht bis dahin, dass angenommen wird, man sei außerstande, ,anspruchsvolle‘ Literatur für Erwachsene zu schreiben, und habe sich deswegen dem ,minderen‘ Fach der Kinder- und Jugendliteratur zugewendet. Besonders bemerkenswert werden solche Haltungen dann, wenn erfolgreiche Autor:innen von Erwachsenenliteratur denken, jetzt schreibe ich mal eben so ein Buch für Kinder oder Jugendliche, denn das kann ja jede:r. Das sind, meiner Erfahrung nach, oft die schlechtesten Kinder- und Jugendbücher überhaupt. Oder? Was denkst du?

Nun ja, die – auch nicht in allen Fällen – schlechtere Bezahlung ist unangemessen und absolut nicht nachvollziehbar. Zumal es dem Kinderbuchmarkt im Vergleich zur „Erwachsenenliteratur“ gut geht. In der Pandemie hatten Kinderbücher ein echtes Hoch. Auf Corona folgten bekanntlich andere Krisen: Beschaffungsengpässe beim Papier, die Energiekrise und eine allgemeine „Kaufzurückhaltung“. Bei Ausgaben für Kinder wird aber wohl immer zuletzt gespart. Bei Kindern und bei Hunden. Was ich sagen will: Die Kreativen sollen und müssen besser bezahlt werden. Mit oder ohne Krisen.

Die von dir angesprochenen erfolgreichen Autor:innen von Erwachsenenliteratur bekommen fürs Kinderbuch oft Vorschusslorbeeren, weil sie als Garant für gute Unterhaltung oder für gute Umsätze gelten. Dafür, dass das meist nicht aufgeht, gibt es zahlreiche Belege. Ich möchte keine Namen nennen. Aber auch aktuell gibt es da Bücher, von denen ich denke, dass sie es niemals in die Buchhandlungen geschafft hätten, stünde nicht eben dieser bestimmte Name auf dem Cover.

Schlimmer aber noch sind die Promis, die Kinderbücher schreiben. Die finde ich in der Regel echt peinlich, beziehungsweise deren Bücher. Es wird krampfhaft ein Aufhänger gesucht bzw. geschaffen und dann bringen sie das große Marketing-Rad in Schwung. Es kommt überhaupt nicht auf den Inhalt und auf die Message an, die sie propagieren. Promis sind die Cash Cows, was genauso für die „Erwachsenenliteratur“ gilt. Schau dich mal um, welche „Promis“ du inzwischen auf den Buchmessen antriffst… Klar, die meisten Promis schreiben die Bücher nicht selbst. Da gibt es einen Ghostwriter oder eine Schwester, die auch schon mal was für Kinder geschrieben hat. Und / Oder im Lektorat wird noch wahnsinnig viel dran gemacht. Ich finde es erbärmlich.

Die Vorurteile gegenüber mir als Kinder- und Jugendbuchautorin, von denen du sprichst, erlebe ich so eigentlich nicht. Obwohl ich auch schon gefragt wurde, ob ich nicht mal ,richtige‘ Bücher schreiben möchte.

Inwiefern ist dir beim Schreiben deiner Bücher bewusst, dass du für Kinder und Jugendliche schreibst? Auf welche Weise denkst du beim Arbeiten an deinen Romanen an deine spezifische Zielgruppe?

So gut wie gar nicht. In erster Linie interessiert mich die Geschichte, die ich schreibe, selbst. Dass sie für Kinder oder Jugendliche ist, das läuft irgendwo in meinem Hinterkopf mit. Ganz automatisch, das muss ich mir nicht ständig vergegenwärtigen. Das ist einfach eine große Freude und fällt mir zum Glück leicht. Wobei „leichtfallen“ seltsam klingt, als würde ich mir keine gründlichen Gedanken machen. Vielleicht so: Es ist auf eine natürliche Art in mir angelegt.

Wenn es um Fakten geht, dann recherchiere ich selbstverständlich sorgfältig. Bei „Nebenan ist doch weit weg“ habe ich zum Beispiel genau nachgeprüft, was Kinder mit ungefähr elf Jahren in der Schule schon über den Holocaust erfahren haben. Ob und inwieweit und wie regelmäßig Religion unterrichtet wird, habe ich hingegen nicht nachgefragt. Weil ich dann denke, dass sich jede und jeder beim Lesen eine eigene Meinung oder ein eigenes Gefühl zum Glauben bilden kann. Eine Haltung dazu entwickeln kann.

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„,Deutsches Mädchen! Geh nach Hause! Geh nach Deutschland!‘, krächzt
sie.
Eiskalt. Mir wird eiskalt. Hier wohnt der Gletscher, schießt es mir in den
Kopf: Ewiges Eis. Eine Frau, die niemals lächelt.
Ich habe bestimmt eine Minute lang vergessen zu atmen, bevor ich den
kläffenden Hund wieder wahrnehme.
Ja, klar, klar wie Gletschereis. Sie meint mich.“

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Wie bist du auf die Idee gekommen, „Nebenan ist doch weit weg“ zu schreiben? Was war der erste Impuls, der erste Gedanke, das erste Bild, der oder das dich dazu angeregt hat?

Ich beginne – ich glaube immer – mit einem Gefühl! Ich habe ein Gefühl, das ich ausdrücken möchte. In diesem Fall war ich Dank eines Stipendiums vom „Literarischen Colloquium Berlin“ und der „Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit“ zwei Monate in Krakau in der „Villa Decius“.  In dieser Stadt wurde ich regelrecht überspült von Gefühlen und Eindrücken. Das sind meist lauter Kleinigkeiten wie das Spätsommerlicht im Park oder der von den Fassaden abblätternde Putz. Die wahnsinnig leckeren Kuchen. Die Hunde, die auf polnische Kommandos hören. Die habe ich für meine Hündin Lina, die mit mir in Krakau war, übernommen. Sie hört bis heute drauf.

Das Land Polen, seine Sprache, Geschichte und Kultur, auch Politik scheinen dir sehr vertraut zu sein. Du streifst in dem Roman zahlreiche Themen, die relevant für das Land sind, die aktuelle Schulpolitik, die Geschichte der polnischen Juden, Kinder, die bei ihren Großeltern oder sogar allein in Polen leben und aufwachsen, weil ihre Eltern z.B. in Deutschland arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, die problematische Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Polen, die Bedeutung der katholischen Kirche und des Glaubens in Polen etc. Was ist dein persönlicher Bezug zu dem Land?

Meine Oma väterlicherseits kommt aus Oliva, das ist bei Sopot, bei Danzig. Der Vater meiner Mutter wiederum stammt aus Masuren. Den habe ich aber leider nicht mehr kennengelernt, weil er sehr früh gestorben ist. Seine Mutter, meine Uroma Marie, hat ihn überlebt. Die habe ich noch kennengelernt und mochte sie sehr. Sie ist mir noch gut in Erinnerung. Eine bemerkenswerte Frau. Besonders wichtig aber: Mein Hund Murzyn. Mein allererster Hund. Er kam aus Przemysl. Das ist schon fast in der Ukraine. Für ihn habe ich ein Buch geschrieben. „Ein Hund namens Kominek“, bei Knesebeck erschienen. Murzyn ging nicht im Titel, weil es übersetzt das N-Wort bedeutet. Also habe ich Kominek draus gemacht, was so viel wie Kamin(chen) heißt.

Als ich nach Berlin zog, lag Polen buchstäblich so nah, dass ich problemlos öfter hinreisen konnte. Und das kann ich immer noch. Bis dahin hatte es keine besondere Rolle in meinem Leben gespielt, dass ich polnische Verwandtschaft habe. Aber als ich dann das erste Mal nach Polen kam, hatte ich sofort das Gefühl von Heimat. Von Nachhauskommen. Mir war auf sonderbare Weise alles total vertraut. In mir muss tatsächlich etwas von der berühmten slawischen Seele stecken. Zumindest die Melancholie. Die wohnt mir auf jeden Fall inne. Sie ist eine gute alte Vertraute.

Sprichst du selbst Polnisch? Und wird das Buch ggf. ins Polnische übersetzt? Das läge nahe, oder?

Niestety nie. Ich habe es eine Weile mit einer App versucht. Nur ein paar ganz winzige Brocken sind hängengeblieben.

Der gesamte Roman wirkt so genau und sorgfältig gearbeitet – da steht buchstäblich kein Wort zu viel oder an der falschen Stelle -,  dass ich davor nur meinen Hut ziehen kann. Wie gelingt dir das? Arbeitest du eher gezielt, planmäßig, strukturiert oder intuitiv und spontan?

Spontan. Wie gesagt, gehe ich immer mit dem Gefühl voran, lasse mich vom Gefühl leiten. Dann kommt natürlich eine Struktur im Laufe des Schreibens hinzu. Und Recherche, all das. Aber oft weiß ich auf Seite drei nicht, was auf Seite neun passiert. Im Detail eh nicht, das ist ja, unter anderem, das Großartige am Schreiben. Manchmal tue ich mich mit dem Ende etwas schwerer als mit dem Anfang. Da gibt es so viele Möglichkeiten.

Ich feile meist nicht sehr lange an meinen Sätzen und bin mir unsicher, ob das gut oder schlecht ist. Dafür habe ich aber immer mal wieder Pausen beim Schreiben eines Romans. Keine Blockaden. Aber ich muss zwischendurch manchmal länger draußen mit meiner Hündin spazieren gehen oder sowas. Was mir wiederum ein schlechtes Gewissen macht, weil ich denke, dass ich nicht arbeite. Setze ich mich dann wieder an den Schreibtisch, merke ich allerdings, dass ES in mir gearbeitet hat. Das erlebe ich immer wieder und möchte lernen, mich endlich mal darauf zu verlassen.

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„Ich kann aber auch eine ganz andere (Geschichte) erzählen. Eine aus der
Zukunft. Eine von den großen Gefühlen. Eine über die Liebe irgendwann.
Denn davon habe ich einen Traum: Ich wünsche mir jemanden, der so
schöne Briefe schreibt wie Elias. Der irgendwann mit mir in einem Haus
wohnt. Und der mir dann immer noch schreibt. Und ich ihm.
Liebesbriefe. Jeden Tag.
Ich kann noch so viele Geschichten erzählen.
Ich bin Schriftstellerin.“

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Edith, die Protagonistin in „Nebenan ist auch weit weg“, schreibt Tagebuch und will Schriftstellerin werden. Du thematisierst in dem Buch immer wieder auch das Glück von Worten und Sprache, nicht nur, indem die Leser:innen Edith dabei begleiten, wie sie die polnische Sprache erlernt. Wie viel und was können Kinder und Jugendliche mit dieser Thematik anfangen? Wie sehen deine Erfahrungen damit aus, z.B. auch bei Lesungen?

Sprache ist Heimat, Sprache gehört zur kulturellen Identität. Inwieweit Sprache für Kinder zur eigenen Identifikation dient, erlebe ich oft bei Lesungen, gerade mit diesem Buch. Ich frage zu Beginn immer, wer schon mal umgezogen ist. Von einer Stadt in die andere. Selbst da gibt es schon Unterschiede in der Sprache, die auch auf die Mentalität schließen lassen. Und nicht wenige Kinder sind aus einem anderen Land hier nach Deutschland gekommen. Die Sprache spielt eine große Rolle für sie. Sie wollen – oft mehr noch als die Erwachsenen – unbedingt dazugehören und sich nicht durch ihre Sprache ,verraten‘. Gleichzeitig pflegen sie aber auch noch ihre Muttersprache in der Familie. Das kann innerliche Konflikte geben. Aber auch Rückhalt.

Nach einer Lesung an einer Europäischen Schule in Frankfurt sprachen mich zwei Mädchen an. Sie kamen gebürtig aus Polen und haben sich bei mir bedankt, „dass mal jemand so über ihr Heimatland“ geschrieben hat. Denn selbst – oder womöglich gerade da, ich weiß es nicht – an einer Eliteschule rangieren die Polen nicht so weit oben wie Briten oder Franzosen. Sie hätten sich schon öfter ihrer Herkunft geschämt, sagten die zwei…

Wie wichtig ist dir beim Schreiben die Sprache, auch im Verhältnis zu der Geschichte, der Figurengestaltung, den behandelten Themen…?

Dazu kann ich eine kleine Anekdote erzählen: Ich habe mich vor ein paar Jahren um ein Stipendium bei der „Akademie für Kindermedien“ in Erfurt beworben. Mit den Anfängen, der Idee zu „Nebenan ist doch weit weg“, übrigens. Allerdings nicht für die Kategorie Buch, sondern für Film. Ich wurde auch zur Auswahlwoche eingeladen. Sie fanden, es sei eins der poetischsten Projekte, das ihnen seit Langem vorgestellt wurde. Die Woche in der Akademie hat Spaß gemacht, war hochinteressant, und ich habe einiges gelernt. Sie haben mir das Stipendium aber am Ende nicht gegeben. Sie liefern offiziell keine Begründung, haben mir aber durch die Blume zu verstehen gegeben: Alles, was ich am Schreiben liebe, das Poetische, die „schöne Sprache“, sei beim Drehbuchschreiben so nicht gefragt. Ich würde nicht glücklich werden in einem Drehbuchkurs. Und da hatten sie wahrscheinlich auch recht.

Welche Aspekte von „Nebenan ist auch weit weg“ sprechen besonders die Kinder und Jugendlichen an, denen du auf Lesungen und in Workshops zu dem Buch begegnest? Hast du ihre Interessenschwerpunkte im Vorfeld erwartet oder haben sie dich überrascht?

Das ist auf jeden Fall der Umzug. Das haben viele schon in irgendeiner Form selbst erlebt. Sie wissen, was es bedeutet, alles Gewohnte hinter sich lassen zu müssen. Die Briefe, die sich Kaja und Elias schreiben, sorgen meist für ordentlich Gesprächsstoff. Es gibt immer viele Spekulationen über die Hintergründe, warum sich die beiden Kinder wohl schreiben, denn ich lese ja nicht alles vor. Die leise Liebesgeschichte wird auch meist kommentiert – mit „Ohs“ und „Ahs“. Oder mit Gekicher. Die polnische Sprache sorgt oft für Lacher. Auch die „Fettnäpfchen“ in die Edith tritt, weil sie anfangs die Sprache noch nicht gut spricht.

Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Kinder- und Jugendbuchautor:innen, deren Bücher ich besonders schätze und mag, sich dadurch auszeichnen, dass sie sich ausnehmend gut und intensiv an ihre eigene Kindheit und Jugend erinnern. Dass sie die Gefühle und Wahrnehmungen von damals noch lebendiger in sich tragen als andere und sich daher auch so gut in Kinder und junge Menschen einfühlen und aus ihrer Perspektive schreiben können. Kannst du damit etwas anfangen und würdest du das auch von dir behaupten?

Tatsächlich kann ich mich gar nicht so gut an meine eigene Kindheit und Jugend erinnern. Da braucht es schon intensive Beschäftigung damit, sei es aus Recherchegründen für ein Buch oder aus therapeutischen Gründen. Oder es fällt mir etwas ein beim Lesen oder beim Filmeschauen oder so.

Neulich habe ich noch einmal „Der Junge muss an die frische Luft“ angeschaut. Der spielt ja im Ruhrgebiet, nicht weit weg von meiner Heimat. Allein die Sprache rührt mich zu Tränen. Ja, Sprache! Daran ist so viel gekoppelt. Ich wohne in Berlin und bin immer froh und richtig glücklich, wenn ich hier auf jemanden treffe, der wie ich aus Nordrhein-Westfalen kommt. Da docke ich sofort an. Dann kommt alles in Gang. Alles.

Und ich bestehe zunächst nur aus Gefühl. Das habe ich mit Kindern gemein. Erst im nächsten oder übernächsten oder überübernächsten Schritt kommt der Verstand ins Spiel. Das ist im Leben oft nicht so hilfreich, beim Schreiben – gerade für Kinder – schon!

Deine Heldin Edith sagt an einer Stelle des Romans, die ich hier auch zitiere, nachdem sie über verschiedene Glaubensarten nachgedacht hat, sie glaube an die Freundschaft. Woran glaubst du?

An die Natur.

Ich würde gerne mal ein Buch darüber machen, mit Kindern und für Kinder. Woran sie glauben. Nichts Religiöses im eigentlichen Sinn. Eher im philosophischen Sinn.

Zum Schluss die unvermeidliche Frage, die du vielleicht schon nicht mehr hören kannst: Glaubst du, du wirst in Zukunft auch mal ein Buch für Erwachsene schreiben? Wenn ja, wie könnte es z.B. aussehen?

Ick weeß et nich, liebe Ulrike.

Da muss mich das Gefühl packen. Ich schließe es nicht aus, arbeite aber auch nicht darauf hin.

Liebe Antje, danke für das Gespräch!

Dziękuje bardzo, liebe Ulrike.

„Mir fällt gerade auf: Es ist doch nicht so ganz ruhig hier. Irgendwas
knackt in den Ecken. Oder auf dem Dach? Oder im Garten? Höre ich eine
Katze? Bin müde. Gute Nacht, ihr fremden Geräusche.“

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  • Ulrike Schrimpf wuchs in Berlin auf, studierte dort und in Paris Literaturwissenschaft, lebte und arbeitete seit 2010 als freie Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Dozentin in Wien. Sie hat drei Söhne, die Familie ist 2023 nach Augsburg umgezogen. Sie hat bislang den Roman „LAUTER GHOSTS“ und ein gleichnamiges Theaterstück geschrieben, zusammen mit Axel Holst den Erzählungsband »Blinde Versuche über das Töten: von Menschen«, zusammen mit der Künstlerin Johanna Hansen den Lyrikband »pariser skizzen. je te flingue«, sowie diverse Kinderromane und Sach- und Fachbücher. Ihre Internetseite hier. Im Oktober erscheint ihr Gedichtband

Siehe auch von ihr bei uns:
Sprache, Form und Dichtung. engramme. dinge ohne augen zeugen. gedichte zu den arolsen archives, CulturMag Mai 2024
Ein vertikaler Riss in der Wirklichkeit. Ein langes Interview mit Steve Rasnic Tem, CulturMag April 2024
„Auf den sich ausbreitenden Irrsinn sei zu achten.“ Ein Gespräch mit der Künstlerin und Schriftstellerin Ulrike Damm, CulturMag Februar 2024
Herzschlaglektüre: Was Tote träumen. Ulrike Schrimpf zu Andreas Pflügers Roman „Wie Sterben geht“, CulturMag Dezember 2023
Jan Kuhlbrodt „Krüppelpassion“, CulturMag November 2023
„Ich will runter in den Schacht.“ Tanja Schwarz‘ aktueller Roman „Vaters Stimme“. Ein Gespräch, CulturMag Oktober 2023

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