Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Ulrike Schrimpf: Jan Kuhlbrodt „Krüppelpassion“

„Er spricht ohne Luft zu holen. Spricht und spricht, als ginge es um sein Leben, das zu retten ihm enorm wichtig scheint. Als wäre es, einmal der Vergangenheit entrissen, für immer da, wo andere das Leben, ein Leben erwarten. Der Vollstrecker hört ohne irgend eine Regung zu.“

Das Erzählen gegen den Tod hat eine lange literarische Tradition: Sheherazades Märchen von 1000 und 1 Nacht , Boccaccios Decamerone, Kleists Novellen Der Findling und Die Verlobung in St. Domingo und Camus’ La Peste sind einige bekannte Beispiele dafür. Jan Kuhlbrodts aktueller Roman „Krüppelpassion“ reiht sich in diese Tradition ein und fällt doch gleichzeitig aus ihr heraus, sprengt und erweitert sie, vor allem um den wesentlichen Aspekt des Schreibens mit einer Erkrankung, in einem erkrankten Körper. Wie gehen ein Körper, ein Gehirn, ein Er-Leben mit einer unabwendbar fortschreitenden und den Betroffenen immer weiter einschränkenden Krankheit um? Und wie die Gesellschaft, die Mitmenschen?

Allein der Titel „Krüppelpassion“ ist kühn und zugleich treffend gewählt – an einer Stelle heißt es in dem Text, es sei heutzutage nicht mehr erlaubt, Kranke als „Krüppel“ zu bezeichnen, wohl aber, sie als solche zu behandeln. Jan Kuhlbrodts als „Roman“ bezeichnete Textsammlung  – was ist heute ein Roman, und was keiner mehr? Die Frage interessiert mich, ehrlich gesagt, nicht, solange mich der Text bewegt, packt und mit sich führt – ist eine Ansammlung von miteinander verknüpften Prosaskizzen und anderen Miniaturen, Erinnerungen und Reflexionen zu allen möglichen auch philosophischen und existentiellen Fragestellungen. Sie stellen Momentaufnahmen, Rückblenden und Zukunftsvorstellungen eines aus meiner Sicht unbestechlich kritisch, unabhängig und tief denkenden, schreibenden und lesenden Menschen dar, eines Ich-Erzählers, der an Multipler Sklerose erkrankt ist, also an einer unheilbaren Nervenkrankheit. 

„Wir sind alle Sterbebegleiter, und keiner wird der Letzte sein, der stirbt.“

Ich bin in meinem Leben immer besonders beeindruckt von Menschen und Künstler*innen, die eigenständig, eigenwillig und streitbar ihren individuellen Weg in ihrem Denken, Schaffen und Schreiben gehen. Jan Kuhlbrodt scheint mir, ohne dass ich ihn persönlich kenne, ein solcher zu sein, und ich bekomme seit Jahren, ohne dass er das weiß, über die sozialen Medien Denkanstöße von ihm, die wichtig und inspirierend sind für mein eigenes Arbeiten.

Was mich von Anfang an an seinem Buch angezogen und mich dazu gebracht hat, es unbedingt lesen zu wollen, war 1. meine Neugier auf Jan Kuhlbrodts Prosa – ich kannte ihn bis dahin nur als Lyriker und Literaturkritiker – , 2. sein offenes und kritisches Verständnis von literarischen Gattungen und Genres, das mir nah ist, und 3. sein ehrlicher, direkter und gleichzeitig überhaupt nicht voyeuristischer Umgang mit seinem persönlichen Lebenshintergrund und seiner Krankheit.

Jan Kuhlbrodt macht daraus kein Geheimnis, im Gegenteil: Er schreibt über seine Erkrankung, darüber, was es bedeutet, ein Leben ohne Zukunft zu leben, und er stellt den Umgang unserer Gesellschaft mit „Krüppeln“ konfrontativ in Frage. Auch das sind eine Haltung und Thematik, die mir nahe sind. Die Frage, wie Körper und Geist zusammenhängen, wie untrennbar das Eine mit dem Anderen verbunden ist, wie sehr der Körper also Geist ist und andersherum, beschäftigt mich seit langem, und ich finde Antworten und Impulse dazu nicht nur z.B. in der ganzheitlich denkenden traditionellen chinesischen Medizin, sondern auch in literarischen Werken von Menschen, deren Schreiben unweigerlich und offenkundig von ihren körperlichen Bedingtheiten geprägt war und ist. Als eindrückliches Beispiel fällt mir dazu Prousts Recherche ein: Als ich als Studentin einen langen literaturwissenschaftlichen Text dazu las, inwiefern die schwere Asthmakrankheit, an der Proust litt, sein kontinuierliches Ringen um Atem und Luft, seinen Stil, den Rhythmus seiner Sprache, den Einsatz von Momenten der Stille, des Schweigens, des Weg- und Auslassens, aber auch seine scheinbar ewig langen, sich über ganze Seiten windenden und rankenden Sätze beeinflusst hat, erschloss sich mir nicht nur das Schreiben Prousts besser, sondern auch unsere existentielle Gemachtheit aus Fleisch und Gedanken, Liebe und Blut, Erinnerungen, Knochen, Schlaf, Verdauung und Frohsinn.

„Es fühlte sich in etwa an, wie wenn man beim Fangen in Luft greift. Manchmal schossen die kleinen Stromstöße, die die Nervenbahnen entlang glitten, einfach ins Leere oder lösten sich irgendwie plötzlich auf. Die Signale verloren sich wie Funksprüche eines gekenterten Raumschiffes im Weltall. Eigentlich ein Stoff für Lem, wenn mein Körper das Weltall wäre. Mit den verlorenen Funksprüchen verlor sich jedoch auch meine Zukunft, beziehungsweise wurde sie derart kalkulierbar, dass von Zukunft gar nicht mehr die Rede sein konnte.“

Jan Kuhlbrodt legt in seinem Buch Zeugnis von unserem geistig-fleischlichen Verwobensein ab: Der fragmentarische Charakter des Buches spiegelt auch formal die Brüchigkeit unserer Existenz wider, alles, was nicht definitiv gesagt, erzählt, reflektiert, geschlussfolgert, endgültig abgeschlossen werden kann. Auf im besten Sinne des Worte schlichte, nämlich gänzlich uneitle, Art und Weise behandelt der Autor einerseits biografische Fragen, andererseits Fragen der Erkenntnis: Er schildert Szenen aus seiner Jugend in der DDR und als Soldat in der Kaserne, bemerkenswerte, auch komische, berührende Ausschnitte eines Lebens, andererseits das kontinuierliche Fortschreiten seiner Erkrankung: das letzte Mal Fahrradfahren, das letzte Mal Treppensteigen, der zunehmende notgedrungene Rückzug in die Welt der Bücher, das Erleben von Hindernissen auf Lesungsreisen und im Lehrbetrieb, Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgeschlossensein, die Einsamkeit und Isoliertheit des Erkrankten und die Frage danach, wie wahrhaftig gelebte Solidarität aussehen könnte: 

„(Solidarität hieße im Übrigen, dass solange das so ist, ALLE draußen [außerhalb des Deutschen Literaturinstituts, an dem Jan Kuhlbrodt früher gelehrt hat, und das nur von Gehfähigen betreten werden kann] blieben. Das wird allerdings nicht eintreten. Solidarität wird nicht eintreten, weil sie dem Interesse der Mehrheit zuwiderläuft. (Solidarität ist meist nur ein Lippenbekenntnis.)“

„Bin ich die Krankheit oder ist die Krankheit ich?“, fragt sich das erzählende Ich an einer Stelle des Textes, an die auch zu setzen wäre: „Bin ich mein Körper oder ist mein Körper ich?“ und „Wer bin ich überhaupt? Und die Anderen? Die Welt?“ oder: „Träume ich, dass ich lebe, oder lebe ich, dass ich träume?“ 

Jan Kuhlbrodt geht in seinem Schreiben nicht minder wesentlichen Themen nach; es ist einerseits ein reflektiertes, übergeordnetes, sich auf nennenswerte Denker und Philosophen beziehendes Schreiben und andererseits ein persönliches, wütendes, aufbegehrendes Schreiben. Dabei wahren Autor und Erzähler immer und zu jedem Moment ihre Souveränität, rutschen weder in Kitsch ab, noch in Pathos, noch in Selbstmitleid. Jan Kuhlbrodts Schreiben in „Krüppelpassion“ ist von der Suche nach Klarheit, Erkenntnis und einem gewissen Galgenhumor getrieben, dabei authentisch, berührbar und berührend – eine bemerkenswerte Leistung: „Das muss man schon aushalten, dass man am Leben notwendig verzweifelt.“ 

So ist sein Roman ein wesentlicher, in Form und Gehalt, einer, auf den ich nicht verzichten möchte und an den ich noch lange denken werde, einer, auf den auch andere nicht verzichten sollten. Er gehört ab jetzt zu den Büchern meiner Bibliothek, die bleiben werden, no matter what:

„Mein Entwicklungsroman: Der Roman des Beginns und des Verlaufs einer Krankheit. Meiner Krankheit. Der Roman eines Gehenden, der seine Gehfähigkeit nach und nach verliert. Der Roman eines Sitzenden. Eines Rollenden. Letztlich eines Liegenden, der nach und nach das Atmen einstellt.
In den Augen sah man bis eben noch das Gehirn arbeiten. Sie zeigten Angst. Reine Angst, wie es schien, denn es war nicht mehr auszumachen, wovor.

Jetzt aber los!“

Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion  – oder vom Gehen. Gans Verlag, Berlin 2023. Hardcover, Fadenbindung, 240 Seiten, 30 Euro.

  • Ulrike Schrimpf wuchs in Berlin auf, studierte dort und in Paris Literaturwissenschaft, lebte und arbeitete seit 2010 als freie Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Dozentin in Wien. Sie hat drei Söhne, die Familie ist seit kurzem nach Augsburg umgezogen. Sie hat bislang den Roman „LAUTER GHOSTS“ und ein gleichnamiges Theaterstück geschrieben, zusammen mit Axel Holst den Erzählungsband „Blinde Versuche über das Töten: von Menschen“, zusammen mit der Künstlerin Johanna Hansen den Lyrikband „pariser skizzen. je te flingue“, sowie diverse Kinderromane und Sach- und Fachbücher. Ihre Internetseite hier.

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