Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Beckmann: Lob der inhabergeführten Buchhandlungen

Ohne die unabhängigen inhabergeführten Buchhandlungen geht gar nichts 

Ein Fazit für die Zukunft des Lesen nach Corona  – von Gerhard Beckmann

Der britische Neurologie Dr. David Lewis – Gründer und Leiter des unabhängigen Forschungsinstituts MindLab, das der University of Sussex angeschlossen ist, wo er lehrt – hat eine bedeutsame  wissenschaftliche Entdeckung gemacht. Eine für uns allgemein äußerst angenehme Entdeckung, denn es kann keine angenehmere Therapie gegen die Belastungen dieser Tage als die Arznei, der er eine hohe Wirksamkeit attestiert. Und unseren Buchhändlerinnen und Buchhändlern muss sie Mut machen. Seine Studie hat nämlich ergeben, dass Lesen ein optimales Mittel zum Abbau von Stress ist. Und das ist, nach dem pandemischen Mega-Stress und den politischen Stress-Steigerungen seit Anfang diesen Jahres mit Hochinflation, Energie-Krise und Krieg vor unserer osteuropäischen Haustür mit offenem Ausgang, eine noch wichtigere Nachricht als zu ihrer Entstehungszeit (2009):  Lesen ist – gerade in Krisen- und Notzeiten – ein  unentbehrliches Heilmittel erster Güte. So gesehen, sind wir gut dran, da der selbständige, unabhängige Buchhandel während der vergangenen zweieinhalb Jahre schlüssig unter Beweis gestellt, dass er uns zuverlässig mit Büchern versorgt, die wir brauchen.  

Es ist freilich dringend, dass die Studie, deren Kenntnis hier zu Lande kaum verbreitet scheint, publik wird. Denn für weite Teile der Bevölkerung ist Lesen seit zwei Jahrzehnten keine tägliche Gewohnheit, keine kulturelle Selbstverständlichkeit mehr. Allzu viele wissen nicht mehr aus persönlicher Erfahrung von der Kraft des Lesens im Leben. Über sieben Millionen Deutsche haben sich dauerhaft vom Lesen verabschiedet. Und dass unsere Medien, so wie sie sind, eine Nachricht unters Volk bringt, die schon dreizehn  Jahre alt ist, darf bezweifelt werden. Es ist darum ratsam, dass Buchhändlerinnen und Buchhändler die Leute mit den Ergebnissen der Studie von David Lewis vertraut machen – immer wieder, mit einem Plakat im Schaufenster oder an einer Säule im Laden, mit einer interessant gestalteten Info-Auslage an der Kasse, mit einer Brief-Aussendung an den Kundenstamm, die sie mit der einen oder anderen Buchempfehlung koppeln könnten, oder online mit einem wiederholten Newsflash bzw. auf ihrer HomePage. Der Buchhandel wird ja überhaupt zu einer immer wichtigen Quelle von Informationen und Nachrichten, die für uns zunehmend substantiell sind.

Hier also die interessanten Resultate der von David Lewis an der University of Sussex durchgeführten Studie:

  1. Bereits sechs Minuten eines ununterbrochenen, schweigenden Lesens genügten, um den erhöhten Herzschlag eines Menschen unter Stress zu verlangsamen, seine Muskelverspannungen zu lindern und das Stress-Niveau zu senken.
  2. Lesen führt zu einer Absenkung des erhöhten Stress-Levels um 68 Prozent. Sie liegt damit signifikant stärker höher als beim Hören von Musik (61 Prozent), als beim Trinken einer Tasse Tee oder Kaffee (54 Prozent) bzw auf einem Spaziergang (42 Prozent). Besonders auffällig ist der Vergleich mit Videospielen, die den Stress lediglich um 21 Prozent vom Höchststand reduzieren.
  3. Wie Dr. David Lewis in einem Interview ausführte, hat sich folgendes erwiesen: „Das konzentrierte Lesen eines Buches führt zur höchsten Entspannung. Wer sich der Lektüre eines wirklich fesselnden Buches hingibt, vermag den Sorgen und dem Stress des täglichen Lebens zu entkommen, weil er sich für eine Zeitlang auf Entdeckungsreise ins Reich der schöpferischen Fantasie eines Autors begibt. Das Lesen eines Buches geht über bloße (passive) Ablenkung hinaus. Es bedeutet ein aktives Engagement der eigenen Vorstellungskraft, weil die Wörter auf der gedruckten Seite die eigene Kreativität dazu anregen, in einen effektiv veränderten Bewusstseinszustand einzutreten.“

All das, so folgerte Dr. David Lewis 2009, wird „ganz besonders relevant in Zeiten ökonomischer Unsicherheit, in der in allen von uns ein beträchtlicher Hang zum Eskapismus rege wird“. Sein Befund ist allem Anschein nach durch die Corona-Krise bestätigt worden. Das Interesse an Büchern und Lesen hat offenbar weithin zugenommen, insgesamt um 25 Prozent. Dabei ist eines extra hervorzuheben: Am meisten ist es bei jungen Menschen (zwischen zehn und neunzehn bzw. von 20 bis 29 Jahren gewachsen, mit 34 bzw. 32 Prozent – Altersgruppen, die lange als zunehmend desinteressiert an der Nutzung von Büchern gegolten haben. 

Die Frage ist dann aber: Wie haben die Menschen zu den Büchern gefunden, die sie faszinieren und lesen wollen? Und da hat die Pandemie eine weitere überraschende Erkenntnis zutage gefördert. Vor fünf oder sechs Jahren herrschte noch die Meinung vor, das Internet werde dem Buch-Einzelhandel ein Ende machen; es war die Angst vor Amazon. Und natürlich ist in den vergangenen zwei Jahren der Online Umsatz in Deutschland stark gestiegen. bei Büchern wie eben im allgemeinen. Bei Amazon mit Büchern freilich nur um 7,2 Prozent – der Online-Gigant ist also keineswegs mehr die Krake, die den Handel mit Büchern komplett an sich zu reißen droht. Und die Großfilialisten an den Bestlagen unserer Innenstädten und in Verkaufszentren haben beachtliche, wenn nicht gar bedrohliche Umsatzeinbußen erlitten – nicht nur durch die Lockdowns des Buchhandels, sondern dann auch durch das Ausbleiben ihrer Laufkundschaft auf Grund der generell immer wieder eingeschränkten bürgerlichen Bewegungsfreiheit. Gewonnen aber haben die guten alten Sortimente, die viele – einmal laut und vernehmlich sogar Markus Lanz im ZDF –  längst als veraltet oder als Auslaufmodell belächelt hatten: der unabhängige inhabergeführte Buchhandel. Gut dreitausend Unternehmen gehören ihm in der Bundesrepublik noch immer an, insbesondere dank  der Buchpreisbindung. (In Großbritannien sind es, vergleichsweise, nur mehr rund tausend.) 

Damit hatte kaum einer in der Branche gerechnet. Es war eine Überraschung, wie sich an den vielen, einander fast überschlagenden Dankes- und Lobeshymnen aus den Marketing und Vertriebsabteilungen gerade von Konzernverlagen erkennen ließ, die auf die Großfilialisten fixiert waren. Ein befreundeter Verleger erklärte rundheraus, ohne diese Buchhandlungen wäre die Versorgung der Bevölkerung mit Büchern bestimmt zusammengebrochen. Karin Schmidt-Friederichs, die Vorsteherin des Börsenvereins, hat die Findigkeit, den praktischen Ideenreichtum und den beispiellosen Einsatz gewürdigt, mit dem diese Sortimenterinnen und Sortimenter sich allen Hindernissen zum Trotz für das Buch engagierten. Und, bitte, es lohnt sich, vor allem in den großen Verlagen einmal darüber nachzudenken, warum sie es getan haben?

Gewiss, sie taten es nicht  bloß aus Idealismus. Natürlich haben sie sich auch oft bis fast über die Grenzen ihrer persönlichen Kräfte ins Zeug gelegt, um das Überleben ihrer Unternehmen zu sichern. Es war aber auch kein Idealismus, wie er sich in Sonntagsreden so schön abstrakt für höhere Werte ausgeben lässt. Es  geschah – ich habe mit etlichen darüber gesprochen – vor allem in dem Bewusstsein, wie bedeutsam, wie lebenswichtig Bücher gerade in diesen sozial eingeschränkten, sorgenvollen Zeiten für die Menschen sind. Sie haben sich mit der Kundschaft identifiziert,  in dem Wissen, dass diese Leute jetzt dringend Bücher brauchen und sich darauf verlassen, dass sie ihnen die nötigen  Bücher liefern. Da ist mir plötzlich ein neuer Sinn in dem heute betriebswirtschaftlich vernutzten Begriff der Kundenbindung aufgegangen. Buchhändler besitzen ein hohes Maß an sozialer Intelligenz.

Sie kennen ihre Kunden, und sie kennen sich eben auch wirklich mit Büchern aus. Sie wenden eine Menge Zeit auf, um zweimal jährlich die Vorschauen für die Neuerscheinungen aus den Verlagen zu sichten – die zu Labyrinthen von Wegwerfwaren, Fehlanzeigen und Falschanpreisungen entartet sind, in denen man sich kaum mehr zurechtfindet. Sie studieren, was es an Lese- oder Prüfungsexemplaren gibt – ich weiß von Geschäften, wo vom Chef bis zum Azubi an die tausend Titel im Jahr gründlich unter die Lupe genommen werden. Unter den Kolleginnen und Kollegen wird über die Lektüren kommuniziert. Sie bilden eine lesende Community, die mit der lesenden Community unter den Kunden in Verbindung steht. So können, von Ort zu Ort verschiedene, im idealen Fall einmalige kulturelle Lese- als geistige Lebensoasen entstehen. Kommt hinzu, dass solche Buchhandlungen mit internen Communitys in den Verlagen in  Kontakt stehen, mit Lektorinnen und Lektoren – auch über die Reisevertreter der Verlage ein Kommunikationsweg, dem sie viel Zeit und Aufwand widmen. (Es ist eingravierender Unterschied zu den Großfilialisten, die den Einkauf für ihre Ketten von Husum bis Konstanz sozusagen mit einer bürokratischen Gleichschaltungsarmatur zentral steuern, die in den Großverlagen auf den Vertriebsapparat mit sogenannten Key-Accounters isoliert ist.) 

Ihre Vielfalt und die Vielfalt ihrer Buchsortimente spiegelt die reale Vielfalt der Lesebedürfnisse des Publikums, das so etwas zu schätzen weiß. Im öffentlichen Bewusstsein,  das zunehmend stärker durch  die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen geprägt wird, ist dieser vielteilige Qjualitäts-Buchhandel, der ja im wesentlichen kommunal und regional operiert, kaum mehr präsent. Das gilt auch für die Großverlage, die damit in eine gefährliche Falle geraten sind. Denn diese Buchhandlungen sind keineswegs bloße Restbestände aus der vor-vormodernen Vergangenheit, Sie sind nicht die altmodischen Nischen, als die von den Konzernen kleingemacht  werden.  Sie sind vielmehr – über die Zeiten von allen Corona-Viren hinaus – die Dynamos der Branche. Die Konzernverlage sollten die unabhängigen  Buchhändler nicht mehr, wie in den letzten Jahrzehnten, vernachlässigen und links liegen lassen. Sie müssen sich endlich bewusst werden, dass die rund dreitausend inhabergeführten Unternehmen gesamthaft kaum weniger Umsatz machen als  Amazon oder Thalia – einen Umsatz, den, sollte er wegfallen,  weder der Online-Gigant noch der größte Großfilialist auch nur im Traum ersetzen könnte. Im Übrigen würden die Verlage ohne die Arbeit der Selbständigen darüber hinaus mit Amazon und allem den Großfilialisten bald in schwere Not geraten. Vor allem letztere könnten nämlich ohne die passionierte und kreative Tätigkeit der Unabhängigen auf Dauer weder funktionieren noch überleben.    

Buchhandlungen sind die Garanten der erneuerbaren Energien und die stetigen Erneuerer des Buchmarkts 

In Deutschland werden jährlich rund 950 Literaturpreise regulär zu Ruhm und Ehrung hervorragender Autorinnen und Autoren verliehen – auch, um sich mit ihnen selbst zu ehren und das Publikum zu Kauf und Lektüre ihrer Werke zu motivieren. Die Kür wird in der Regel einer Fachjury aus dem Literatur-, Medien- oder Wissenschaftsbetrieb übertragen. Es gibt nur einen namhaften Preis, in dem eine große Community die Wahl trifft. Er ist relativ neu. Er wird erst seit 2015 verliehen – von unabhängigen, inhabergeführten Buchhandlungen, wie ich sie eben skizziert habe. Im vergangenen Jahr haben rund 850 Sortimenterinnen und Sortimenter daran teilgenommen und insgesamt 232 neue Titel als ihr „Lieblingsbuch“ präsentiert. Der Preis demonstriert den immensen Einfluss, um nicht zusagen: die Macht, die der selbständige Buchhandel darin hält, ein großes Publikum für neue Literatur zu kreieren und zu überzeugen. Ich möchte das an drei bedeutenden Titeln zeigen, an drei erzählerischen Erstlingswerken, an Autorinnen, die vorher also kein Mensch kannte – bis der unabhängige Buchhandel kam und sie beispielhaft zu großen, langlebendigen Bestsellern machte. 

Es handelt sich um Dörte Hansen und ihren Roman „Altes Land“, die den Buchhändlerpreis 2015 gewann; um Deborah Owens, die ihn 2020 für ihr Buch „Der Gesang der Flusskrebse“ erhielt; und um Susanne Abel, deren Roman „Stay Away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe“ im vergangenen Jahr zu den fünf Titeln auf der Short List für den Preis stand und von dem aktuell inzwischen über 200.000 Hardcover-Exemplare gekauft worden sind (schätzungsweise doppelt so viele wie heute die Populärst-Action-Schocker von Sebastian Fitzek) – meine Besprechung „Neubeginn der deutschen Gegenwartsliteratur“ bei CulturMag hier. Literarische außergewöhnliche, eindringliche Romane, die dem Publikum erstmals ein kritisches neues Thema unsrer Zeit nahegebracht haben. Dörte Hansen hat der durch die Immobilienbranche und Massenmedien mobilisierte Verkitschung eines heilen Lebens auf dem Lande ein Ende bereitet. Deborah Owens rückte unsere mordsgefährdete Natur und Umwelt ins Licht, die durch eine abstrakt technologische Klimaschutz-Ideologie aus dem Blick geraten war. Und Susanne Abel hat am Beispiel der deutsch-amerikanischen  Nachkriegsgeschichte das Elend veranschaulicht, in das Frauen und Kinder auf der Flucht durch eine rassistische Politik geraten (meine Besprechung bei CulturMag hier). 

Diese Romane exemplifizieren auch, dass der unabhängige Buchhandel Bücher in Bewegung setzt, die dann vom Mainstream der Vertriebskanäle übernommen und weiter getragen werden. Sie dokumentieren, was David Lewis in seiner wissenschaftlichen Studie bewies, dass faszinierende Wörter auf der gedruckten Seite die eigene Kreativität der Lesenden anregen, in einen effektiv veränderten Bewusstseinszustand einzutreten. Und sie belegen, welch eine zentrale Rolle unabhängige, inhabergeführte Buchhandlungen für die nach Corona dringend notwendige Renaissance der Innenstädte spielen werden.            

Gerhard Beckmann, den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier. Auch sein Jahresrückblick 2021 bei uns ist hier zu finden.

Und siehe besonders von ihm:
Treppenwitz Statistik beim Börsenverein
Gerhard Beckmann: Es braucht eine andere Konzernverlagspolitik
Warnung vor der Marktmacht der Großfilialisten
Shutdown bei Orell Fuessli
Offener Brief an den Börsenverein des deutschen Buchhandels
In Sachen Thalia – Offener Brief von Gerhard Beckmann an den Präsidenten des Bundeskartellamts in Bonn
Offener Brief in Sachen Marktmacht im Buchhandel – Warum die Mega-Fusion von Thalia & Mayer‘sche & Ossiander so gefährlich ist 
Starke Argumente für die Buchpreisbindung – Fakten zur großen Wirksamkeit von Buchhandlungen vor Ort 
Gesetzgeber gefragt – Omerta bei den Großfilialisten Wenn die Buchpreisbindung nur auf dem Papier steht und das Barsortiment bedroht ist
Interview: Für menschliches Überleben ist das Buch unentbehrlich – Ein Interview über die unersetzbare Arbeit des stationären Sortiments mit Manfred Keiper
Ein Wutschrei von Gerhard Beckmann #Covid-19 – Der 17. März 2020 und Amazon.