Geschrieben am 21. Februar 2024 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2024

Katrin Doerksen: Berlinale 2024 – Logbuch #2

Sie ist eine der besten Filmkritikerinnen der Republik und wir freuen uns, dass Katrin Doerksen – dieses Mal im Tandem mit Thomas Groh – für uns wieder die Berlinale beobachtet und in lockerer Folge davon berichtet. – Schauen Sie gerne wieder vorbei. Ihr gemeinsamer Vorbericht für 2024 hier. Katrins Logbuch #1 (Zwischen Bußgang und Befreiungsschritt liegt manchmal nur ein Gegenschuss) hier. Thomas Grohs Berlinale-Log (1) und (2) hier nebenan.

Menschenaffen auf einem Stein im All

„Die Hoffnung liegt nicht im Stück selbst“, erklärt Lars Eidinger als Dirigent in Sterben seinem Orchester, das nichts mit der Musik anfangen kann, die es gerade zu proben gilt. „Die Hoffnung liegt darin, dass ein Haufen Menschenaffen auf einem Stein im Weltall zusammenkommt, um gemeinsam die Luft zum Schwingen zu bringen und diese Töne zu produzieren.“ An diese Szene muss ich denken, als ich am selben Abend in Sasquatch Sunset einer Bigfoot-Familie beim Überleben zuschaue. Nun ist es so, dass dieser Film im Berlinale Special läuft und Sterben im Wettbewerb. Aber so oder so sind die Verbindungslinien auffällig, die sich in diesem Jahrgang nicht nur zwischen den einzelnen Filmen ziehen lassen, sondern auch zwischen ihren Programmslots im Stundenplan. Aus den überall auftauchenden Mustern spricht eine Sensibilität für die Festivalkuration, die es so unter Kosslick gewiss nicht gab. Doppelt und dreifach schade, dass und wie Carlo Chatrian ohne eine einzige Vertragsverlängerung aus seinem Amt entlassen wurde.

Lars Eidinger in: Sterben, R: Matthias Glasner, DEU 2024, Wettbewerb
© Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Aber zurück zum Punkt: Sterben. Matthias Glasners dreistündiges Porträt einer dysfunktionalen Familie nimmt sich erst einmal die Zeit zu zeigen, wie sehr im Alltag jeder ein Gefangener seiner eigenen Perspektive ist. Unbewusstes Main-Character-Syndrome. Wir sehen die selbe Zeitebene aus drei verschiedenen Sichten. Zuerst Lissy Lunies, von der im Kino vorzeitig gealterten Corinna Harfouch grandios als warmer Gefühle unfähiger Klotz gespielt. Als ihr dementer Ehemann ins Pflegeheim kommt, ist das für sie eine Erleichterung, denn Lissy hat mit Krebs, Diabetes, Nierenversagen, beginnender Blindheit und sorgsam verborgenen Schuldgefühlen wirklich genug am Hals. Dann ihr Sohn Tom (Eidinger), der als Dirigent bis zum Hals in den Proben zu einem neuen Stück namens „Sterben“ steckt, die Komposition seines besten depressiven Freundes. Und schließlich force majeur Lilith Stangenberg als seine Schwester Ellen, ein Irrlicht von einer Frau mit einer wunderschönen Singstimme, die leider nur mit ausreichend Alkohol zum Vorschein kommt.

Sterben hätte wirklich stählern werden können, aber stattdessen kaut der Film dich durch und spuckt dich aus; stellt dich im wahrsten Sinne des Wortes vor die Frage: Was ist wohl schlimmer? Ein Zahnarztbesuch oder gemeinsamer Kaffee und Kuchen mit einem Familienmitglied, zu dem dein Verhältnis ambivalent ist, ohne Puffer zwischen euch? Im Abspann steht dann wie zur Bestätigung: „Hans-Uwe Bauer als mein Vater.“ Schon vorher dringt es dem Film aus jeder Pore, dass es sich dabei um eine persönliche Angelegenheit für Matthias Glasner handeln muss. So ehrliche Sätze über den freiwilligen und unfreiwilligen Tod, so ehrliche Bilder über die Pflege Dementer in Altenheimen produziert vielleicht nur jemand, der sie schon selbst im System hat.

Dabei ist Sterben alles andere als langgezogenes Leiden, der Film schlägt immer wieder unerwartete Volten, wird zwischendurch zur Liebesgeschichte, zur Tragikomödie und zum Meta-Diskurs inklusive Kotzanfall in der Philharmonie, thematisiert neben Alter und Krankheit auch Abtreibungen, Suizid, psychische Störungen, Sucht und Verdrängung, die gefühlte Liebesverpflichtung gegenüber leiblichen Familienmitgliedern und die nicht weniger komplizierten Alternativen. Man zeige mir eine einzige Person, für die nicht mindestens ein Aspekt dieses Films genau dorthin piekst, wo es wehtut. Und mittendrin das Fitzelchen Hoffnung, die Menschenaffen auf einem Stein mit ihrer Musik.

Sasquatch Sunset, R: David & Nathan Zellner USA 2024, Berlinale Special
© Sasquatch Sunset

Da ist die Verbindung zu Sasquatch Sunset: Scheinbar unberührte Wälder im Norden Kaliforniens, durchstreift nur von Pumas, Stinktieren, Waschbären und einer Familie Affenartiger, die eines Tages auf ein verlassenes Zeltlager stößt und zum ersten Mal in ihrem Leben Musik zu hören bekommt. Schock! Die (wenn man es einmal von Grunzern absieht) komplett ohne Dialoge auskommende Komödie der Zellner-Brüder (Kumiko Treasure Hunter) schwankt beständig zwischen existenziell und kreatürlich – und damit zwischen ganz ähnlichen Polen der Menschheitserzählung wie Sterben und eine ganze Reihe weiterer Filme auf dieser Berlinale. Der Film ist vielleicht weniger ein bis in jede kleinste Verästelung durchdachtes Meisterwerk als eine wild ausgeschmückte Idee. Aber fuck it – warum eigentlich nicht? Wir sind schließlich im Kino. Die Energie, die Menschen seit Jahrzehnten darauf verwenden den Bigfoot zu finden, ihre ‚Sichtungen‘ zu dokumentieren/inszenieren und die entsprechenden Aufnahmen online totzuanalysieren, spricht doch dafür, dass wir manchmal nicht viel mehr brauchen als eine fixe Idee, die uns den Antrieb gibt jeden Tag aufs Neue aus dem Bett zu steigen.

Einer der Affen in Sasquatch Sunset versucht immerzu zu zählen: Die Eier in einem Nest, die Sterne am Himmel, die Jahresringe eines Baumstamms. Nie kommt er über die Drei hinaus obwohl er seine Finger zur Hilfe nimmt, die Anstrengung fällt ihm förmlich aus dem Gesicht. Ähnlich angestrengte Minen sehe ich kurz darauf in A Traveler’s Needs von Hong Sang-soo. Isabelle Huppert spielt darin eine Französischlehrerin in Südkorea mit ungewöhnlichen Methoden. Statt mit ihren Schülern die üblichen Duolingo-Phrasen zu pauken, fragt sie, was diese in einem bestimmten Moment gefühlt haben. Anschließend überträgt sie ihre Antworten auf Karteikarten ins Französische und gibt sie ihnen zum Nachsprechen und Lernen. Die bloße Frage nach ihren Gefühlen bringt die Leute dabei spürbar aus dem Konzept, sie stammeln und flüchten sich in Gemeinplätze (oder auch hier: in die Musik), ziehen die Stirn kraus, und ich wette, würde es helfen wie beim Zählen die Finger zur Hilfe zu nehmen, würden sie auch das tun.

Isabelle Huppert in: Yeohaengjaui pilyo | A Traveler’s Needs von Hong Sangsoo,
KOR 2024, Wettbewerb © 2024 Jeonwonsa Film Co.

A Traveler’s Needs ist zuerst mal der typische Hong-Sang-soo-Film: Schauspieler aus seinem vertrauten Ensemble, eine kleine, unscheinbare Geschichte, weitgehend improvisierte Dialoge und ein roher digitaler Look. Ein bisschen geisterhaft gleitet Isabelle Huppert in die Leben ihrer Schülerinnen hinein und wieder hinaus und gibt dabei fast nichts von sich selbst preis. Vielleicht ist sie wirklich eine Hochstaplerin, wie die Mutter eines ihrer Schüler sofort vermutet. Trotzdem lockt diese schmale Französin in der grünen Strickjacke etwas in ihnen hervor, wozu sie allein nicht fähig waren. Mehrfach stolpert sie auf ihrem Weg durch die Stadt über Gedenksteine mit auf Koreanisch eingravierten Gedichten, die sie mithilfe umstehender Personen und des Internets übersetzen lässt oder selbst aus dem Englischen ins Französische überträgt. Lyrik zu übersetzen ist besonders, man versucht sich an die Vorlage zu halten so gut es geht und erschafft doch automatisch etwas Neues, es geht gar nicht anders. Exakt den Effekt haben Hong Sang-soos Filme auf mich. Sie sind immer wieder Varianten der selben Themen, der selben grundsätzlichen Sicht auf die Welt, als würde er unentwegt versuchen sich selbst zu übersetzen, sich verständlich zu machen, die Fragen zu finden, die uns verlässlich aus dem Konzept bringen. Die neuen Nuancen, die er dabei findet, rühren mich jedes Mal aufs Neue an.

Architecton, R: Victor Kossakovsky, DEU, FRA 2024, Wettbewerb
© 2024 Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH, Point du Jour, Les Films du Balibari

Auch das ist eben ein Filmfestival: Eine Reise, die dich darüber staunen lässt, was dich auf dieser Welt alles anrühren kann. Im Wettbewerbsfilm Architecton sind es tanzende Steine. Sie prallen von einem industriellen Förderband ab und Victor Kossakovsky montiert zu den Aufnahmen in Zeitlupe das einzige Stück aus dem Album „Theorie of Becoming“ des Komponisten Evgueni Galperine, das einen Beat hat – die unerwartetste Clubszene des Festivals. Der Essayfilm beschreibt eine Art Wasserkreislauf der Steine: Vom Gebirgsfelsen zum Steinbruch, zum Baustoff, zur Ruine, zu Staub. Seinen wuchtigen Bilder von Kriegszerstörung in der Ukraine, von den Trümmern in türkischen Erdbebengebieten und antiken Ruinen im Libanon setzt Kossakovsky das Gartenbauprojekt eines italienischen Architekten entgegen, der auf der Wiese hinter seinem Haus von milde verwunderten Bauarbeitern einen einfachen Steinkreis verlegen lässt. Ein gelungener Kniff, um den Film einerseits nicht in Erhabenheitskitsch kippen zu lassen und andererseits laut darüber nachzudenken, wie Architektur ihren Teil zu einem nachhaltigen Leben auf unserem Planeten beitragen kann.

Der Bösewicht in dieser Erzählung: Der Beton, der hässliche, seelenlose und nach nur wenigen Jahren wieder abbruchreife Bauten hervorbringt. Der Stein hingegen mag seine Form verändern, aber er überdauert. Angesichts der Zerstörung, die Kriege und Naturkatastrophen nach sich ziehen, liegt in dieser Vergegenwärtigung ein ähnlicher Trost wie in den musizierenden Menschenaffen. In jedem Moment sind wir Teil eines Kontinuums, das unsere Wahrnehmung übersteigt. Wie schön, dass auf Leinwände projiziertes Licht uns das gelegentlich ins Bewusstsein rufen kann.

Giuseppe Quatriglio 1954, in: Il cassetto segreto, R: Costanza Quatriglio, ITA, CHE 2024, Forum © Fondo Giuseppe Quatriglio

Wenn sich derweil ein roter Faden in der Berlinalesektion Forum identifizieren lässt, dann ist das eine ganze Reihe von Beiträgen, in denen filmemachende Kinder versuchen die Arbeit und das Vermächtnis ihrer Eltern in nächster Generation fortzusetzen. Da ist zum Beispiel Il cassetto segreto, in dem die sizilianische Regisseurin Costanza Quatriglio das Archiv ihres Vaters an die zentrale Regionalbibliothek übergibt: Giuseppe Quatriglio war fast achtzig Jahre lang Journalist, reiste als Korrespondent um die halbe Welt. Sein Nachlass umfasst unzählige Negative und Abzüge, Kassetten mit Tonaufnahmen und Video, alte Kameras, Bücher, Zeitschriften, Artikel, Notizen, Briefe, Akten und Dokumente. Im Laufe des Films wird ein Heer an Bibliothekarinnen und Archivarinnen versuchen ein System in diese überwältigende Materialsammlung zu bringen.

Il cassetto segreto ist aber auch eine persönliche Suche: Gleich zu Beginn des Films findet die Regisseurin in einem Karton eine Audiokassette mit der Aufschrift „Costanza“, legt sie ein, drückt auf ‚Play‘ – und hört ihr eigenes Babygeschrei. Sie hält die Kamera in den Händen, ist also selbst nicht zu sehen, aber ihre Aufgewühltheit überträgt sich auch so. Wie sie im Raum umherirrt, immer wieder versucht eine nüchterne Zentralperspektive zu finden und schließlich an dem Vorhaben scheitert, sich auf einem Stuhl niederlässt, die Kamera leicht zitternd. Solche Momente entstehen nur ungeplant, als unmittelbare Reaktion der Filmemacherin auf einen Reiz, der in ihr zu arbeiten beginnt.

Lana Gogoberidze, in: Deda-Shvili an rame ar aris arasodes bolomde bneli | Mother and Daughter, or the Night Is Never Complete von Lana Gogoberidze, GEO, FRA 2023, Forum
© 3003 Film Production

Einen vergleichbaren Schlüsselmoment gibt es in Mother and Daughter, Or The Night Is Never Complete. Die georgische Regisseurin Lana Gogoberidse, inzwischen selbst in ihren Neunzigern, dreht für einen Film in einer verlassenen Wohnung in Tiflis. Erst nach ein paar Tagen am Set fällt ihr auf, dass es sich um die Wohnung eines Freundes ihrer Mutter handelte, die sie als Kind selbst häufig besuchte. Irgendwann erschoss sich der Freund, um seiner drohenden Verhaftung zu entgehen. Ausgehend von dem Déjà-vu in der Wohnung führt uns Gogoberidse tief hinein in den dunklen Sumpf der Terrorherrschaft unter Stalin, aus der das Schaffen ihrer eigenen Mutter herausragt wie ein heller Stern aus ewiger Nacht: Nutsa Gogoberidse, 1902 geboren, war die erste Regisseurin Georgiens mit einer glasklaren künstlerischen Vision. Ihre Filme ließen sich als Metapher auf die Sowjetmacht lesen und so wurden sie meist parallel zu ihrem Erscheinen direkt wieder verboten. Nach der Exekution ihres Ehemannes landete sie selbst in einer Todeszelle, wurde letztendlich aber nach Sibirien verbannt, wo sie ein ganzes Jahrzehnt ihres Lebens verbrachte.

Lana Gogoberidse demonstriert in Mother and Daughter Or The Night Is Never Complete anhand zahlreicher Filmsequenzen, wie die Arbeiten und Erfahrungen ihrer Mutter ihr eigenes Werk prägten. Aber am beeindruckendsten sind die Filme von Nutsa Gogoberidse selbst; lange verschollen geglaubt, in Archiven wiederentdeckt und hier ausschnittweise zu sehen: Die Aufnahmen eines Ochsen in harschem Sommerlicht, der im 1934er Stummfilmdrama Ujmuri wie wild versucht sich aus einem Moor freizustrampeln, gehören zu den intensivsten Bildern im ganzen Forumsprogramm.

Park Maeui, Park Soo-nam, in: Voices of the Silenced von Park Soo-nam, Park Maeui, JPN, KOR 2023, Forum

Mutter und Tochter sind auch die zentrale Konstellation in Voices of the Silenced von Park Soo-nam und Park Maeui. Erstere, alleinerziehende Mutter und Betreiberin eines Barbecue-Restaurant, begann eines schönen Tages Dokumentarfilme zu drehen, die Erinnerungen und Traumata ethnischer Koreaner in Japan festzuhalten. Sie interviewte Zwangsarbeiter und sogenannte Trostfrauen, Überlebende der Atombombenabwürfe, die bis an ihr Lebensende um Kompensation und Anerkennung kämpften. Nun droht Park Soo-nam zu erblinden und ihre Tochter übernimmt. Eine Zusammenarbeit, die vor Reibung nicht gefeit ist: Gleich zu Beginn äußert die Tochter Zweifel am Stil ihrer Mutter, überlegt, wie sich deren schwergewichtige Lebensthemen auch einem jüngeren Publikum zugänglich machen ließen. Doch diese verweigert sich jedem Zugeständnis an leichte Verdaulichkeit, ihr geht es um die authentische Wiedergabe historischer Fakten, um Zeugenschaft.

Es wird dann recht schnell deutlich, dass sich die Mutter durchsetzen konnte: Voices of the Silenced ist ein Film, dem sein Anliegen wesentlich wichtiger zu sein scheint als seine Form. Das meine ich nicht mal als Werturteil, schließlich ist das Ergebnis durchaus wirkungsvoll. Aber statt durch Poesie oder spektakuläre money shots erreichen die Regisseurinnen ihren Effekt eher durch die schiere Menge und Komplexität ihrer Materialien. Zu einem der wenigen auflockernden Momente gehört ein TV-Interview mit Park Soo-nam aus den Neunziger Jahren, in dem eine sichtlich faszinierte Moderatorin fragt, ob die Regisseurin wirklich niemals verheiratet war. Ihre mit unbeweglicher Mine vorgetragene Gegenfrage: „Meinen Sie, ich hätte mit einem Ehemann all das hier realisieren können?“

Katrin Doerksen

Ihr Berlinale-Vorbericht für 2023 hier
Ihr Berlinale-Tagebuch #1 2023 für hier und # 2 hier.

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