Geschrieben am 14. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Berlinale 2023 – Ein Vorbericht von Katrin Doerksen

Anleitung zum kontrollierten Rausch: Filmtipps für die Berlinale 2023

Sie ist eine der besten Filmkritikerinnen der Republik und wir freuen uns, dass Katrin Doerksen für uns wieder die Berlinale beobachtet und in lockerer Folge davon berichten wird. – Schauen Sie gerne wieder vorbei. Hier geht es zu ihren Texten bei uns – d. Red.

Bis jetzt ist es nur anekdotische Evidenz, aber in diesem Jahr scheinen sich alle wieder etwas mehr auf die Berlinale zu freuen. Nach der zweigeteilten Pandemieausgabe 2021 und der etwas reduzierten Festivalvariante 2022 kehrt die Normalität an den Potsdamer Platz zurück. Es ist der vierte Chatrian-Jahrgang, gesegnet mit Kristen Stewart als spannendster Jury-Präsidentin seit Langem und einem immerhin in Teilen vielversprechenden Programm. Aber bevor es in die Vollen geht: Ein paar dringende Empfehlungen aus den Nebensektionen.

Abrechnung mit der Ära Trump: Tina Satters „Reality“

Tina Satters Film Reality hätte auch dem Berlinale-Wettbewerb gut gestanden. Sydney Sweeney (das Gesicht des Euphoria-Hypes) spielt Reality Winner, die Whistleblowerin mit dem unvergesslichen Namen, die 2017 ein internes NSA-Dokument an die Presse leakte, das die russische Einmischung in die US-Wahl 2016 nachwies. In der ersten Einstellung sitzt sie noch in ihrem Großraumbüro, über sich ein Fernsehbildschirm, auf dem Fox-News in schrillen Tönen den Rausschmiss des FBI-Direktors Comey verkündet. Einen knappen Monat später verlässt sie ihren Arbeitsplatz und wird vor ihrem Haus in Augusta, Georgia – legere Jeansshorts an den Beinen und papierne Einkaufstüten unterm Arm – von zwei Agenten des FBI in Empfang genommen. Was nun folgt, ist ein Kammerspiel, dessen Dialoge sich ausschließlich aus Winners Vernehmungsprotokoll speisen.

Sydney Sweeney in Reality (USA 2023), Regie: Tina Satter. Sektion: Panorama 2023 © Seaview

Der Fall Reality Winner ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Sie erhielt die längste Gefängnisstrafe für die Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen aller Zeiten – kein Vergleich etwa zu den lächerlichen Konsequenzen der Petraeus-Affäre. Im Film ist dieses Ungleichgewicht staatlicher Paranoia und maskuliner Selbstüberschätzung von Anfang an präsent. Das Haus einer allein mit einem Hund und einer Katze lebenden Frau, schmal und blond, das von einer Horde breitbeiniger Typen eingenommen, abgesperrt, durchsucht wird. Aber auch eine durchtrainierte Air-Force-Veteranin mit Commendation Medal an der Wand und Glock unterm Bett, eine Linguistin mit beeindruckenden Kenntnissen in Farsi, Dari und Paschtu, der die Agenten jovial verklickern, sie hielten sie selbstverständlich nicht für ein Spionage-Mastermind. Sicher habe sie nur einen Fehler gemacht.

Die Absurditäten ziehen sich wie ein roter Faden durch Reality: Die Agenten versuchen Wartezeit mit lockerem Smalltalk zu überbrücken, erzählen unbeholfen von ihren Verletzungen beim Crossfit und ihren Hunden. Alles Hunde-Menschen, schlussfolgert Reality – wer Katzen hat, erkennt die Doppeldeutigkeit dieser Feststellung sofort. Dann unterbrechen plötzlich Leerstellen den Dialogfluss. Jeweils an den Stellen, über die Reality Winner – sie ist derzeit mit Fußfessel auf Bewährung – bis heute nicht sprechen darf. Zum Beispiel darüber, welche Informationen sie an die Presse leakte, obwohl das natürlich jeder weiß.

Noch ein Detail sticht hervor: Reality Winner scheint ein Anime-Fan zu sein. An ihrem Arbeitsplatz, in ihren vom FBI Seite für Seite abfotografierten Notizbüchern, an ihrer Kühlschranktür finden sich kleine Pokémon-Sammelfigürchen, Zeichnungen. Und mehrfach auch Sticker der frühen Miyazaki-Figur Nausicäa, der Prinzessin aus dem Tal der Winde, die im Alleingang dem Geheimnis der toxischen Sporen auf die Schliche kommt, die den Großteil ihrer Welt bedecken. Nicht nur sind sie ein Resultat der Umweltverschmutzung. Die gefürchteten Pflanzen, die sie absondern, reinigen auch die Atmosphäre, stellen in mühevoller Kleinarbeit das Gleichgewicht des Planeten wieder her. Letztlich ist es egal, ob dieser symbolträchtige Nausicäa-Sticker ein Einfall des Filmteams war oder der Wahrheit entspricht. Reality zeigt ja deutlich genug, dass Realität in erster Linie dadurch konstituiert wird, was wir über sie erzählen.

Prosecutor Julio Cesar Strassera  in El juicio | The Trial (ARG, ITA, FRA, NOR 2023), Regie: Ulises de la Orden. Sektion: Forum 2023 © Memoria Abierta

Arbeit am kollektiven Trauma: Ulises de la Ordens „El juicio“

Zwischen 1976 und 1983 werden während der Militärdiktatur in Argentinien etwa 30.000 Menschen entführt, gefoltert und ermordet. 1985 begann ein Prozess gegen die Mitglieder der Junta, den der in Buenos Aires geborene Ulises de la Orden in El juicio (The Trial) auf seine Essenz eindampft: Ursprünglich 530 Stunden protokollarisches Found-Footage-Material direkt aus dem Gerichtssaal, in thematischen Kapiteln neu angeordnet. Es geht um die mageren Rechtfertigungen der Täter, um ihre Foltermethoden, um den Antisemitismus der Generäle, die Gewalt gegenüber speziell weiblichen Gefangenen und immer wieder auch um Einzelfälle, geschildert von sichtlich gebrochenen Eltern, Geschwistern, teils Überlebenden selbst.

Das ist stellenweise schwer zu ertragen, aber der Regisseur weiß, was er seinem Publikum über drei Stunden hinweg zumuten kann. Die inhaltlich harten Stellen wechseln sich ab mit Passagen, in denen der Film die Atmosphäre im Saal regelrecht fühlbar macht: Die Hälfte der Anwesenden raucht Kette, ein General spielt nervös mit dem gläsernen Aschenbecher vor sich. Nachts gegen zwei Uhr fallen selbst den engagierten Anklägern beinahe die Augen zu. Und trotzdem ist der Saal zum Bersten gefüllt mit Zuschauern, ihren Geschichten, Verlusten und Traumata. El juicio zeigt eindrucksvoll, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn sie erst mühsam lernen muss, ihren Institutionen wieder zu trauen.

Gehen und Bleiben (DEU 2023), Regie: Volker Koepp. Sektion: Forum 2023 © Salzgeber

Auf literarischer Spurensuche: Volker Koepps „Gehen und Bleiben“

Manchmal schenkt einem die Zeit pures Filmgold. Da kommt Volker Koepp in seinem Dokumentarfilm immer wieder auf die Liebe Uwe Johnsons zu Katzen zurück. Ein alter Studienfreund packt sogar ein Geschenk aus, das der Schriftsteller ihm einmal per Post sandte: Eine kleine Trillerpfeife mit einer Plastikkatze, die vor einem Vogel in einem Käfig lauert. Dann, ganz am Schluss des Films, filmt Koepp geduldig eine gescheckte Katze auf einem Friedhof. Als sie aufsteht und zu laufen beginnt, folgt er ihr und sie beschreibt federnden Ganges einen perfekten Bogen, der die Kamera zu einer marmornen Grabplatte führt. Darauf die einfache Inschrift: Uwe Johnson.

Solche Momente entstehen nur, weil sich Volker Koepp ausgiebig Zeit lässt. Gehen und Bleiben ist seine dreistündige Annäherung an den (ost- und gesamtdeutschen, pommerschen und mecklenburgischen, je nachdem, wen man fragt) Schriftsteller Uwe Johnson. Für Eingeweihte ist das ebenso faszinierend wie für Neugierige. Koepp nähert sich ihm nicht auf textanalytischem oder chronologisch biografischen Weg, sondern über die Geografie, die Geschichte der Orte, die ihn und sein Schaffen prägten: Anklam und Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern, die Lübecker Bucht, Leipzig, das englische Sheerness on Sea. Dazu trifft Koepp Menschen, die zu verschiedenen Graden mit Johnson bekannt waren: Der alte Studienfreund, ein Güstrower Theologe, der Schauspieler Peter Kurth. Manchmal haben sie seine Texte studiert, manchmal leben sie nur in Häusern, in denen er sich einst aufhielt. Koepp lässt verschiedene Grade an Abschweifungen zu: Manchmal geht es minutenlang um die persönlichen Kriegserinnerungen seiner Interviewpartner, manchmal um die verbliebenen Türme einer mecklenburgischen Burgruine aus der Schwedenzeit, die Schwalben, die in ihr nisten. Um den Nebel auf mecklenburgischen Feldern, aus dem plötzlich eine versprengte Kuh auftaucht. Eine Meditation auch über die Bedeutung von Heimat, aber völlig frei von identitätspolitischem Geschwätz.

Schule als Spiegel der Gesellschaft: Ilker Çataks „Das Lehrerzimmer“

Schule ist ein Schlachtfeld. Sowieso immer und besonders in Ilker Çataks Das Lehrerzimmer. An einem Gymnasium häufen sich Diebstähle. Ein türkischstämmiger Junge wird verdächtigt, weil er ein bisschen Geld in der Tasche hat. Für Carla Nowak (Leonie Benesch) sind diese Anschuldigungen inakzeptabel. Sie ist jung, idealistisch, unterrichtet eine Siebte Klasse in Mathematik und Sport und will unbedingt alles richtig machen. Aber als die Ereignisse ins Rollen kommen, entgleitet ihr zunehmend die Kontrolle. Mobbende Kinder, meckernde Eltern, ein aufgescheuchtes Kollegium, die Schülerzeitung mit lauter sich berufen fühlenden Investigativreportern im Nacken und über allem dräuend die dissonanten Orchesterarrangements des Augsburger Komponisten Marvin Miller. Das Lehrerzimmer lässt einem keine Ruhe. Im Gegenteil: Unter narrativen Gesichtspunkten könnte man dem Film ankreiden, wie viele zentrale Punkte seiner Geschichte er bewusst offen lässt. Unbefriedigend. Aber das ist genau der Punkt. Sieh her, scheint Ilker Çatak zu sagen, das hier ist die hässliche Realität. Versuch gar nicht erst, dich an hehren Vorstellungen von Wahrheit und Gerechtigkeit festzuklammern. Leb damit.

Tshuchi Kanou in Ishi ga aru | There Is a Stone (JPN 2022), Regie: Tatsunari Ota. Sektion: Forum 2023 © Tatsunari Ota

Wieder zum Kind werden: Tatsunari Otas „There is a Stone“

Ich will einen Flusslauf entlang wandern und flache Kieselsteine aufeinanderstapeln wie die Figuren in Ishi ga aru (There is a Stone). In Tatsunari Otas Film macht ein namenloses Mädchen aus Tokio einen Ausflug in eine eher ländlich geprägte, ihr unbekannte Region irgendwo in Japan. Anfangs erkundigt sie sich noch nach den Touristenhotspots der Gegend, als ihr aber niemand befriedigende Antworten liefert, lässt sie sich einfach treiben. Spielt Fußball mit ein paar Grundschuljungs, denen ein Mitspieler für ihr Team fehlt. Am Fluss stößt sie auf einen jungen Mann, der Steine über das Wasser hüpfen lässt und irgendwie bleiben die beiden aneinander hängen. Frei von Namen, frei von Psychologie, frei von Arbeit, frei von narrativen Konventionen folgt man ihnen den Flusslauf entlang und währenddessen verwandeln sie sich immer mehr in Kinder zurück. Steine, Äste, seichtes Wasser und Sand werden zu Spielzeug, die Zeit endlos gedehnt. Ishi ga aru ist einer dieser Filme, in die man sich wunderbar fallen lassen kann, in denen man (dem Charme eines Ghibli-Films von Isao Takahata übrigens nicht völlig unähnlich) nichts wissen und verstehen muss, nur hinschauen.

Gegen Ende führt der Mann Tagebuch; man schaut ihm dabei über die Schulter, wie er die Seite mit seinen gedrungenen Schriftzeichen füllt: Aufgestanden, gefrühstückt, ein Mädchen getroffen, Steine gestapelt… Wie bei einer Wiederholungseinheit in der Schule zieht, während er das schreibt, noch einmal die gesamte Begegnung der Zwei vor dem geistigen Auge vorbei. Die Einzelheiten dieses kleinen, handlungsarmen, bezaubernden Forumsfilms werden daher womöglich viel tiefer im Gedächtnis bleiben als all die großen Prestigeproduktionen im übrigen Festivalrausch.

Katrin Doerksen

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