Geschrieben am 19. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Katrin Doerksen: Berlinale-Tagebuch #1

Peter Dinklage in She Came to Me (USA 2023), Regie: Rebecca Miller. Berlinale Special 2023 © Protagonist Pictures

Sie ist eine der besten Filmkritikerinnen der Republik und wir freuen uns, dass Katrin Doerksen für uns wieder die Berlinale beobachtet und in lockerer Folge davon berichten wird. – Schauen Sie gerne wieder vorbei. Ihr Vorbericht für 2023 hier. Und hier geht es zu ihren Texten bei uns – d. Red.

Im Kino schaut jeder für sich allein

Kommen ein Opernkomponist in der Schaffenskrise (Peter Dinklage) und eine nymphomane Schlepperkapitänin (Marisa Tomei) in die Kneipe… Klingt wie die Rampe zu einem dreckigen Witz, ist aber der Wendepunkt in She Came To Me, Rebecca Millers Eröffnungsfilm der Berlinale, der seinen Humor genau aus dem Clash solcher skurriler Figuren bezieht. Neben den eingangs Erwähnten gibt es da noch eine erfolgreiche Psychologin mit Putzfimmel (Anne Hathaway) oder einen Gerichtsstenografen mit Hang zu historischen Reenactments (Brian d’Arcy James). Die einzig ‚Normalen‘ in dieser Welt sind zwei Teenager, idealistisch, überdurchschnittlich klug und bis über beide Ohren ineinander verliebt.

She Came To Me ist ein New Yorker Großstadtmärchen in der klassischen Funktion des Star-Magneten für den Roten Teppich am Potsdamer Platz, das am besten funktioniert wenn es seine satirischen Ambitionen hintanstellt und so eine unerwartet reine Geschichte über Figuren übrig lässt, die in ihren sozialen und familiären Rollen zu kämpfen haben. Dann ist der Film vielleicht politisch keine sonderlich schlagkräftige Parabel auf die Spaltung der westlichen Gesellschaft, aber eine Art moderne Romeo-und-Julia-Variante, in ihren besten Momenten spielfreudig und hoffnungsfroh stimmend. 

Jay Baruchel, Pranay Noel, Steve Hamelin, Matt Johnson, Ethan Eng, Ben Petrie, Michael Scott in BlackBerry, CAN 2023, Regie: Matt Johnson. Sektion: Wettbewerb 2023 © Budgie Films Inc.

Einem Kollegen fällt auf, dass das Publikum der Berlinale-Pressevorführungen nur für europäische Filme applaudiere. Ich glaube, das liegt eher an der offiziellen Atmosphäre im Berlinale-Palast im Vergleich zu den übrigen Kinos, als dass damit ein bewusstes Statement gesetzt wird. Jedenfalls habe ich hier schon ein paar nordamerikanische Filme gesehen, die durchaus Applaus verdienen.

Die letzten Jahre haben uns vertraut gemacht mit weltverändernden Ideen, die in den Köpfen von Nerds in Garagen Gestalt annehmen, mit Board-Meetings, Investoren und der Börsenaufsicht. Erst waren da die unvermeidlichen Steve-Jobs-Biopics und The Social Network, dann die geradezu obsessive Lust an gescheiterten Startups wie Theranos oder WeWork, die alle ihre eigenen limited series bekamen. All diesen Produktionen gemein war die Prämisse einer oder mehrerer Lichtgestalten im Zentrum, irgendwo auf der Skala von Visionär bis brillanter Verkäufer. Egozentrisch, manchmal Betrüger oder schlichtweg Spinner. In BlackBerry gibt es ebenfalls zwischenmenschliche Beziehung, die zwischen Großraumbüros und Privatjets zerbrechen, es gibt Exzentrismen, Hybris und Verrat. Aber der Film verfällt nicht der geradezu romantischen Erzählung vom Aufstieg und Fall eines verrückten Masterminds. Er erzählt eher die Geschichte einer Aufreibung an den unerbittlichen Regeln des Marktes und der voranschreitenden Zeit. Aber im Mittelpunkt steht die Liebe zum Produkt, die Liebe zu Tech.

Matt Johnson nimmt sich des einst weltbesten Smartphones der Welt an, das irgendwann zu dem Smartphone wurde, das alle besaßen bevor sie sich ein iPhone kauften. Mit seinen Reißschwenks und dem Handkameragewackel erinnert der Film in den ersten Minuten entfernt an die Bürosatire The Office. Johnson drehte zuvor zwei aus Found-Footage-Material zusammengesetzte Independentfilme. Diesmal nutzt er sein eigenes Material, aber einen gefundenen Stoff. Einen Teil der jüngeren Geschichte, deren Meilensteine die meisten von uns jeden Tag mit sich in der Hosentasche herumschleppen. BlackBerry macht etwas mit einem, wenn man sich an die Geräusche eines Modem erinnert. Wie man aus dem Internet gehen musste, um die Leitung zum Telefonieren zu benutzen, wenn man Steve Jobs’ erste iPhone-Präsentation verfolgt hat, wenn man mit den Firmenlogos von Apple und Nintendo unendliche Möglichkeiten assoziiert. Die Anflüge von Nostalgie werden aber schon bald vom Business geschluckt und dann scheint es keine Welt mehr außerhalb zu geben. Der Firmenmitgründer Doug, dem das technische Spezialwissen und der geschäftliche Instinkt fehlt, steigt irgendwann aus der Firma aus und verschwindet somit auch ohne Drama, mir nichts, dir nichts aus dem Film. Im Epilog heißt es, er habe seine Aktien auf BlackBerrys Höhepunkt verkauft und gehört heute zu den reichsten im Verborgenen lebenden Männern der Welt. Ihm, diesem Typ mit labbrigen Shorts und Bandana, gönnt man es am meisten.

Hannah Gross, Sophia Lillis, Michael Cera in „The Adults“, USA 2023; Regie: Dustin Defa. Sektion: Encounters 2023 © Universal Pictures Content Group Guy 

Dann The Adults, der in einem gesichtslosen Hotelzimmer beginnt. Eric packt seinen Laptop und eine Bluetoothbox aus, er ist sichtlich vertraut mit der Anonymität des Reisens. Nur, dass er diesmal nicht in der Fremde ist, sondern auf Heimatbesuch. Schnell bei seinen Schwestern reinschauen, das neue Baby seines Freundes begutachten, die alte Pokerrunde beehren, dann geht der Flug zurück. Aber Eric nimmt ihn nicht. Tag um Tag verlängert er spontan seinen Aufenthalt und je länger er bleibt, desto komplizierter wird das Verhältnis zu seinen Schwestern, seiner Vergangenheit, seinem eigenen emotionalen Ballast. Michael Cera spielt den Eric, dessen mausblonde Locken und fliehendes Kinn seit 2007 für alle Ewigkeit mit seiner Rolle im damaligen Indiehit Juno verwachsen ist.

Stilistisch ist The Adults gar nicht unähnlich, ein ruhiger Indiefilm in entsättigten Farben, eine Kleinstadt mit kahlen Bäumen, einem Nullachtfünfzehn-Diner und typisch vorstädtischen Mittelstandshäusern. Und darin: Drei Geschwister, die verzweifelt versuchen an alte Zeiten anzuknüpfen, als sie davon träumten als Singer/Songwriter-Trio durchs Land zu touren. Die ihre alten Kompositionen singen und spontan in alberne Tänze und noch albernere Stimmimitationen ausbrechen, weil ihnen das leichter fällt als sich ernsthaft zu sagen, dass sie sich lieben. Die Assoziation mag weit hergeholt klingen, aber irgendwie ist The Adults auch ein Zombiefilm. Aus seiner Welt sind echte Kinder genauso eliminiert wie ältere Menschen. Übrig sind nur noch die neurosengeplagten Millennials.

Jesse Eisenberg in Manodrome (GBR, USA 2023), Regie: John Trengove. Sektion: Wettbewerb 2023 © Wyatt Garfield 

Noch ein verlorener Millennial in John Trengoves Manodrome: Jesse Eisenberg spielt so etwas wie Michael Ceras bösen Zwilling; einen Typen, den man gern mit dem Schlagwort ‚Incel‘ abwatschen würde. Nur, dass er das nicht ist. Ralphie stemmt Gewichte im Fitnessstudio, arbeitet als Fahrer und lebt zusammen mit seiner schwangeren Freundin in einer vielleicht nicht perfekten, aber doch meist liebevollen Beziehung. Trotzdem ist er empfänglich für die ausgestreckten Fühler eines Männerbundes, der sich in der Villa von Dad Dan (Adrien Brody) trifft – eine merkwürdige Mischung aus Wohngemeinschaft, Selbsthilfegruppe und quasireligiösem Kult. Trengove verschränkt in seinem Porträt toxischer Männlichkeit individuelle Baustellen wie ein schwieriges Vaterverhältnis und unterdrückte Homosexualität mit wirtschaftlichen Gegebenheiten, der Kälte Corporate Americas gegenüber seiner workforce und schafft damit den Taxi Driver seiner Generation – den Uber Driver.

Apropos: Vom Festival selbst würde man sich eine etwas weniger subtile Auseinandersetzung mit einem seiner neuen Hauptsponsoren wünschen.

Marlene Burow in Irgendwann werden wir uns alles erzählen, DEU 2023, Regie: Emily Atef. Sektion: Wettbewerb 2023 © Pandora Film / Row Pictures

Harter Schnitt. Die Berlinale 2023 hat ihr erstes Meisterwerk: Bis jetzt habe ich im Wettbewerb wie einige andere auch von der deutschen Trias gesprochen: Petzold / Hochhäusler / Schanelec. Spätestens jetzt müssen wir auch Emily Atef dazu zählen. Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist ihre Adaption des gleichnamigen Romans von Daniela Krien. Sommer 1990. Für einen kurzen Moment ist die Luft nicht nur mit Hitze angefüllt, sondern auch mit einem Hauch von Veränderung, den manche als Bedrohung empfinden und manche als puren Freudenrausch. Für Maria (wenn Marlene Burow für den Film nicht als Beste Darstellerin ausgezeichnet wird, dann weiß ich auch nicht) und Johannes (Cedric Eich) fühlt es sich utopisch an. Als sie mit dem Auto aus ihrem Dorf in der ehemaligen DDR aufbrechen, wo beide auf dem Hof seiner Eltern unterm Dach leben, und über die Grenze in den Westen fahren, bricht es aus ihr heraus: „Ich kann’s immer noch nicht glauben.“

Der Film erzählt vor dem Hintergrund dieses einmaligen historischen Moments von einer Liebe, die nicht sein darf. Nicht die von Maria und Johannes, dem dackeläugigen Welpen, der vom Kunststudium in Leipzig träumt. Stattdessen verliebt sich Maria in Henner (Felix Kramer), den einzelgängerischen Bauern vom Nachbarhof, der doppelt so alt ist wie sie. Sie 19, er 40. Aber das ist gar nicht der zentrale Konflikt, dem Himmel sei Dank. Vielmehr spiegelt sich in den Figurenkonstellationen des Films – zwischen Maria und Henner, aber auch den Übrigen – die düsteren Seiten der deutschen Geschichte, die verschleppten Traumata. Emily Atef scheut nicht davor zurück, gleich mehrere Sexszenen zu inszenieren. Allesamt sind sie bedeutsam und manchmal ist dabei nicht ganz klar, was man eigentlich sieht: Gewalt, Zärtlichkeit, gegenseitiges Einverständnis, Machtkämpfe? Offensichtlich ist dafür in jedem Augenblick Marias starke Persönlichkeit, wie sie Henner die Stirn bietet, sich nicht scheut zu nehmen, was sie will. Dann gibt es eine Szene, in der Johannes’ Familie Besuch bekommt: Vom Onkel, der vor Jahren in den Westen gegangen ist und nun mit Frau und Kindern das erste Mal wieder in die Heimat kommt. Das Auto fährt auf den Hof und er steigt zuerst aus, nähert sich zögernd wie ein kleiner Junge mit Schuldgefühlen, legt schließlich die Arme um seine kleine Mutter, schluchzt leise. Plötzlich stehen sich zwei einander fremde Familien gegenüber, die doch eigentlich Eine wären; sie geben sich schüchtern die Hände, umarmen sich dann doch, weinen ein bisschen, lachen. Emily Atef filmt das als reines Understatement, die Kamera auf Distanz. Aber es ist die berührende Szene, die ich bisher auf diesem Festival gesehen habe.

Wo wir gerade bei deutscher Geschichte sind. Dominik Grafs Essayfilm über deutsche Schriftsteller im Nationalsozialismus, der im Programm der Woche der Kritik untergekommen und dort auch gut aufgehoben ist, beginnt mit einem Exkurs zum Psychiater Douglas M. Kelley, der 1945 gefangen genommene NS-Größen unter anderem mithilfe von Rorschachtests psychologisch untersuchte. Die Herangehensweise leuchtet ein, als Grafs Stimme aus dem Off erklärt, die Ergebnisse des Forschungsteams um Kelly seien bewusst nicht veröffentlicht worden, weil sie nicht die gewünschten Schlussfolgerungen zuließen. Die Täter waren keine Monster. Nur ganz normale Menschen.

Jeder schreibt für sich allein liefert ebenfalls keine befriedigenden Antworten. Wie sollte er auch? Basierend auf dem gleichnamigen Buch von Anatol Regnier folgt er dem Schriftsteller bei seiner Suche in Archiven, in Gesprächen über die Autoren, die nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland blieben, ihre Motive, ihre Irrtümer, ihre Zwänge: Erich Kästner, Hans Fallada, Gottfried Benn, Ina Seidel… Das ist in mancherlei Hinsicht eine Zumutung. Visuell trägt der Film seine prekäre Quellenlage zur Schau; der JPG-Codec kräuselt ständig die Konturen unbeholfen auf schwarzem Grund eingeblendeter historischer Fotos. Aber die raue Machart ist ein Störfaktor im besten Sinne: Jeder schreibt für sich allein ist eine filmische und gedankliche work in progress, eine dreistündige Materialsammlung, an der man sich abarbeiten muss, die einen zwingt Ambivalenzen auszuhalten, die Liebe zu seinen literarischen Helden ebenso zu hinterfragen wie sein Urteil über Täter, Mitläufer, Menschen, die eben ihr Leben ohne das Privileg einer historischen Feldherrenperspektive zu leben versuchen. Während Dominik Grafs Essayfilmen – dazu zwingt er einen – denkt auch jeder für sich allein.

Here (BEL 2023), Regie: Bas Devos. Sektion: Encounters 2023 © Erik De Cnodder

Mein Samstagabend endet mit einem Film über Moos. In den Vorab-Empfehlungen zur Berlinale hatte ich einen japanischen Forumsfilm über Steine empfohlen – Here ist sein Geistesverwandter. Der Belgier Bas Devos bannt die Geschichte eines rumänischen Bauarbeiters aus Brüssel auf wunderschön körnigen Kodakfilm. Dessen Arbeit ist beendet und bevor er am Montag in die Heimat aufbrechen will, verbringt er die Zeit damit seinen Kühlschrank zu leeren. Aus allem übrig gebliebenen Gemüse kocht er Suppe, die er an seine Bekannten verteilt, und trifft dabei mehrfach auf eine chinesischstämmige Biologin, die an Moosen forscht. Der perfekte Vorwand, um winzige Zweigchen, halbtransparente Blättchen und Wurzeln unters Mikroskop zu legen, in schwelgerischen Detailaufnahmen tausendfach zu vergrößern. „Wie ein kompletter kleiner Wald“, bestaunt die Biologin eine Moosflechte, „aber die meisten Leute übersehen das einfach.“ Wie wahrscheinlich auch diese beiden Menschen im Alltagsgewusel einer Großstadt von den meisten Leuten übersehen würden.

Umso schöner, diese Neugier auf der großen Leinwand zu sehen. Eine außerirdisch anmutende Faszination zweier Menschen füreinander, die so groß ist, dass man schon mal vergessen kann einander nach seinem Namen zu fragen.

Katrin Doerksen

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