Im siebten Teil erzählen
Susanne Saygin,
Kerstin Schoof,
Frank Schorneck,
Claudia Schwartz,
Wallace Stroby,
Gisela Trahms,
WEB,
David Whish-Wilson,
Thomas Wörtche
vom Jahr und es wird auf den „Tatort“ zurückgeschaut. Chaotisch, unterhaltsam, kenntnisreich – die Tops & Flops von LitMag, MusikMag & CrimeMag: Bücher, Filme, Musik, TV, Kino, Alltag und Wahnsinn … ungeordnet & unabhängig.
Susanne Saygin
Eigentlich kein Jahr für einen Rückblick.
2016 war ein Jahr, in dem ich mehr Zeit damit verbracht habe, meinen Garten zu bestellen und die Vögel auf dem Tempelhofer Feld zu beobachten, als mich mit der aktuellen Kulturproduktion auseinanderzusetzen. Ein Jahr, in dem ich deutlich weniger gelesen habe als sonst, und mir von dem Gelesenen kaum etwas in Erinnerung geblieben ist, ein Jahr, in dem ich ganze drei Mal im Kino war, davon zwei Mal im gleichen Film, ein Jahr, in dem ich zwei Ausstellungen besucht habe, von denen die eine so schlecht war, dass sie sofort wieder verdrängt habe. Denkbar schlechte Ausgangsbedingungen also für einen Jahresrückblick. Und doch gibt es das eine oder andere, das sich im Gedächtnis festgehakt hat.
Gleich zu Beginn des Jahres etwa Sarah Polleys Dokumentarfilm Stories we tell, in dem die kanadische Filmemacherin gnadenlos ihre Familiengeschichte aufrollt. Irgendwann in diesem Film sagt Polleys alter Vater: „Wenn man mitten drin ist in einer Geschichte, dann ist es noch gar keine Geschichte. sondern nur ein Durcheinander, ein dunkles Tosen, eine Blindheit. Eine Geschichte entsteht daraus erst später, wenn man sie sich selbst oder einem anderen erzählt.“ Ein Allgemeinplatz, sicher, aber deshalb nicht weniger wahr.
Anfang März bin ich allein in einer unwirtlichen Pension auf den Kanaren. Draußen tobt über Tage eine Schlechtwetterfront, drinnen ist es kalt und klamm. Ich liege mit Fieber im Bett, zum Schlafen bin ich zu unruhig, zum Lesen reicht meine Energie nicht, also schlage ich die Zeit mit der ersten Staffel von Fargo tot. Kombiniert mit einer konsequenten Diät aus Tüten-Gazpacho und Kamillentee vielleicht ein eher unorthodoxer Heilansatz, aber allemal ein vergnüglicher.
Wieder ein paar Wochen später, eher zufällig, die Entdeckung von Shane Meadows This is England . Die Serie über eine Skinhead-Gang in den Midlands zu Beginn der Achtziger ist zwar schon fast zehn Jahre alt, vermittelt aber ein besseres Verständnis für das Lebensgefühl sozial schwacher Heranwachsender in wirtschaftlich abgehängten Regionen als alle Sonntagsreden über die verlorene Jugend Dunkeldeutschlands. Der grandiose Soundtrack der Serie umfasst auch einige Tracks des viel zu früh verstorbenen Gavin Clark. Wen Clarks Cover von Please Please Please Let Me Get What I Want nicht anrührt, der hat kein Herz im Leib.
Dann ein langer Sommer ohne Erinnerung an kulturellen Konsum, mit Ausnahme von Nell Zinks verschrobenen und ziemlich lustigen Romandebüt Der Mauerläufer. Im September Toni Erdmann, gesehen einmal in einem vollbesetzten Kino im ehemaligen Ostteil von Berlin, in dem das Publikum jeder irrwitzige Wendung des Films mit vollem Gefühlseinsatz mitgeht, das andere Mal in einem gediegenem Kreuzberger Programmkino inmitten von Menschen, die sich selbst durch archaische Fellkostüme und Nacktpartys nicht aus der Reserve locken lassen.
Anfang November, ganz kurz vor Schluss, Julian Rosefeldts Videoinstallation Manifesto im Hamburger Bahnhof: Über sechzig Künstlermanifeste in dreizehn Monologen verdichtet, die von Cate Blanchett in vollkommen unterschiedlichen Rollen präsentiert werden. Eine furiose Arbeit über Entwürfe für eine bessere Welt und vermutlich das Beeindruckendste, was ich in den vergangenen Jahren an zeitgenössischer Kunst gesehen habe.
Tage später der Schock der US-Wahl. Man mag den Refrain des Titelsongs von Neil Youngs neuem Album Peace Trail als Reflektion auf diesen Erdrutsch lesen:
The world is full of changes
Sometimes all these changes make me sad
(I have to plant them seeds, till something new is growing)
Aber ob das wirklich reichen wird?
Und was soll man zu Syrien sagen? Und zur Türkei? Und der Ukraine?
Zu Susanne Saygin geht es bei uns hier entlang.
Kerstin Schoof
Ein Highlight des Jahres, das den Vorteil hat, gleich mehrere zu sein: Kate Tempest. In den Kategorien Lyrik, Roman, Musik und Konzert des Jahres an erster Stelle – allein diese Vielfalt an multiplen Produktionen, die sich doch wieder zum Gesamtkunstwerk zusammensetzt, ist einfach beeindruckend. Narrative und Figuren, einzelne Textfetzen wandern von der CD ins Gedicht oder tauchen im Roman wieder auf und verdichten sich zu einem Universum, das durchaus klaustrophobische Züge annehmen kann. Eingängige Reime und seitenlange Psychedelik, in der das Innere der Protagonisten im Außen zerfließt, Spannung und Tempo eines Thrillers – in Kate Tempests Repertoire ist alles vorhanden. Drogendeals und Begegnungen zur falschen Zeit am falschen Ort, die langsam aber sicher eskalieren: im Roman Worauf du dich verlassen kannst gehen Action und Sozialstudie explosive Verbindungen ein. Der Südosten Londons als ein System mit unsicheren Koordinaten, in dem viel möglich, aber auch alles schnell wieder vorbei sein kann – nicht selten erinnert Tempests Mikrokosmos an Simon Lewis, der ebenfalls am Goldsmiths College studiert und seinen Backpacker-Krimi Go Ende der Neunziger in Lewisham, New Cross und Peckham angesiedelt hat.
Neben dem Schreiben hat Tempest in 2016 Theaterstücke inszeniert und eine Tour absolviert, auf der sie das Konzeptalbum Let Them Eat Chaos auf die Bühne gebracht hat. Ein Konzeptalbum! Und es funktioniert.
Genannt seien trotzdem einige weitere Highlights des Jahres: Herausragend in Sachen Film war natürlich Maren Ades Toni Erdmann. Ebenfalls richtig gut: Arrival, der Linguisten-SF von Dennis Villeneuve. Und musikalisch sehr spannend Michael Wollnys Interpretation des Nachmittags eines Fauns mit dem Norwegian Wind Ensemble, aufgeführt in Leipzig und Frankfurt.
Frank Schorneck
Mein ganz persönlicher literarischer Höhepunkt des Jahres war das Gespräch mit John Irving. Schon zum dritten Mal hatten wir das Vergnügen, ihn zu – und durch Verkettung diverser Umstände mussten wir die Gesprächszeit nicht mit anderen Journalisten teilen. Irving hat die Gabe, seinem Gesprächspartner das Gefühl zu geben, ganz intime Ansichten und Einsichten zu erfahren – und man ist keineswegs enttäuscht, wenn man bei der abendlichen Lesung dann einige Statements in nahezu gleichem Wortlaut hört.
Sein aktueller Roman Straße der Wunder drängt sich nicht zwangsläufig als Highlight auf: Beim ersten Lesen war ich hin- und hergerissen zwischen der altbekannten Irving-Magie und dann doch einigen Längen. Vermutlich hätte ich den Roman mit diesen gemischten Gefühlen zur Seite gelegt. Wegen der Vorbereitung auf das Interview jedoch habe ich mich noch ein zweites Mal an die Lektüre gemacht und dabei mehr auf die Details und die Struktur der Erzählung, auf die Entwicklung diverser Motive, achten können. Und das hat sich durchaus gelohnt. Dem Charme Irvings ist auch unsere neunjährige Tochter erlegen und nach der abendlichen Lesung im Thalia-Theater musste ich ihr auf Englisch vorgetragenen Passagen noch auf Deutsch als Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Da könnte die nächste Generation Irving-Leser heranwachsen…
Genau andersherum verhält es sich mit Cornelia Funke: All-Age-Bücher standen ursprünglich nicht auf meiner Lektüreliste, sogar um Harry Potter habe ich einen Bogen gemacht, als der große Hype war. Erst mit dem abendlichen Vorlesen bin ich nun in dieses Buchmarktsegment vorgedrungen. Drachenreiter war eines der ersten Bücher von Cornelia Funke, das ich meiner Tochter vor ein paar Jahren vorgelesen habe. Dass die Autorin nun die Geschichte weitergesponnen hat, hat uns beide sehr gefreut – und die hohen Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Leider war es nicht möglich, einen Interviewtermin mit Frau Funke zu bekommen, aber den Besuch einer Lesung ließen wir uns nicht entgehen.
Im Bereich des Kinderbuches sind mir in diesem Jahr einige empfehlenswerte Titel in die Finger geraten, besonders hervorheben möchte ich allerdings Nelli und der Nebelort von Annika Scheffler. Und wer die Autorin noch nicht kennt, sollte sich auch ihre Romane für Erwachsene unbedingt mal ansehen!
Musikalisch haben mich in diesem Jahr drei akustische Acts besonders beeindruckt, die übrigens allesamt irische Wurzeln haben:
Da ist zum einen Liam O’Maonlai, der gemeinsam mit Peter O’Toole beim angenehm familiären Düsseldorfer Acoustic Summer Festival eindrucksvoll unter Beweis stellte, dass er nicht ohne Grund als „bester weißer Soulsänger der Welt“ gehandelt wird. Mit Charisma und Stimmvolumen pendelt er zwischen gälischen Traditionals und Hits der Hothouse Flowers. Die haben übrigens ganz frisch eine neue Platte augenommen (momentan nur als Download erhältlich), was die Hoffnungen auf eine Tour der kompletten Band nährt.
Kurz vor Jahresende kam David Gray in die Christuskirche nach Bochum. Im Lauf des „solo acoustic evenings“ präsentierte er an Gitarre und Klavier sehr reduzierte und intensive Interpretationen von Hits und Raritäten.
Den absoluten Höhepunkt jedoch lieferten die aus Nordirland stammenden Therapy? mit ihrer „Wood & Wire“-Tour. Unplugged ist gerade wieder angesagt, doch Therapy? lassen sich von dieser Welle nicht weichspülen. Vielmehr beweisen sie, dass man mit akustischen Gitarren und einem kleinen Drumkit beeindruckend abräumen kann. Das Songwriting kann auch ohne Verstärkung und aufs Wesentliche reduziert überzeugen. Große Spielfreude und Improvisation lassen gar Elemente von Country, Blues oder Jazz einfließen. Die begleitende CD wurde allerdings schon vor Beginn der Tour aufgenommen. Hier stehen die Musiker noch hörbar am Beginn des Experiments, die Songs wagen sich noch nicht allzu weit von den Originalversionen weg. Die CD war nur auf den Konzerten und für kurze Zeit über die Homepage der Band erhältlich. Vielleicht führt der Erfolg dazu, dass es noch ein offizielles unplugged-Release gibt? Es darf aber auch gerne wieder lärmen auf der nächsten Scheibe.

„Dunkelfeld“: Hauptkommissar Karow (Mark Waschke) und eine Polizistenwitwe (Ursina Lardi) als Gefangene – Foto: RBB/ Oliver Vaccaro
Claudia Schwartz
Der Goldene Schuss — 2016
Unter diesem Titel schaut das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung immer auf das «Tatort»-Jahr zurück. Claudia Schwartz, die bei der NZZ als Autorin federführend für Fernsehkritik ist, hat für uns das Jahr 2016 zusammengefasst.
Es gab wenige Höhepunkte in diesem «Tatort»-Jahrgang. Das Highlight liefert Berlin mit der Folge «Dunkelfeld». Kaum raufen sie sich zusammen, wird Grosses draus: Die Berliner Hauptkommissare Nina Rubin und Robert Karow umkreisten sich in ihren ersten drei Folgen misstrauisch, feierten erst einmal ihre gegenseitige Abneigung, wo Karows Vergangenheit zwielichtig blieb. Die vierte Folge, «Dunkelfeld», lieferte nun mit der Enträtselung von Karows Geheimnis eine fulminante Auflösung – und eine gute Voraussetzung, dass sich hier ein neues Team gleich ganz nach vorne spielt: rasant, geistreich, aber nicht überdreht.
Den Goldenen Schuss 2016 für den besten Tatort verleiht die NZZ deshalb an «Dunkelfeld». Meret Becker und Mark Waschke spielen wunderbar zusammen! (Inna Hartwich hat darüber in der NZZ geschrieben.)
In Dortmund erhält man das Niveau aufrecht: Wie im letzten Jahr, so geht auch 2016 der NZZ-Preis für das Gesamtwerk an die Dortmunder. Das vom Drehbuchautor Jürgen Werner erfundene «Tatort»-Team hält seit neun Folgen horizontales Erzählen durch, ohne sich in belanglosem privatem Knatsch zu verlieren. Das Jahr 2017 hätte am 1. Januar unter dem Titel «Sturm» auch gleich von den Dortmundern in gewohnt spannungsreicher Manier eröffnet werden sollen. «Sturm» ist ein Thriller, der in hohem Tempo und in Echtzeit schildert, wie das vierköpfige Ermittlerteam nach dem Mord an zwei Polizisten versucht, ein potenzielles Attentat zu verhindern. So viel sei hier schon verraten: Der Film ist ein Highlight. Aber weil hier auch das islamistische Thema eine Rolle spielt, hat sich die ARD nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin kurzfristig dazu entschlossen, diesen «Tatort» auf Ende Januar zu verschieben. Natürlich müsse ein «Tatort» nah an gesellschaftlichen Realitäten sein. Aber «mit Rücksicht auf die Opfer, ihre Angehörigen, Betroffene und das Empfinden von Zuschauern» wolle man diesen «Tatort» nicht am Abend des ersten Tages im neuen Jahr, sondern mit grösserem zeitlichem Abstand zeigen, so die Begründung. (Joachim Güntner hat in der NZZ über die Dortmunder geschrieben.)
Eine Frage der Liebe: Petzolds «Polizeiruf»-Zweiteiler: Der Autorenfilmer Christian Petzold lieferte mit «Wölfe» eine wunderbare Fortsetzung seines Krimi-Zweiteilers, dessen Auftakt unter dem Titel «Kreise» dem Meuffel-Darsteller Matthias Brandt die wunderbare Barbara Auer zur Seite stellte. Constanze Hermann (Barbara Auer): «Die grosse Liebe ist etwas, das ich zurzeit überhaupt nicht gebrauchen kann.» Wir finden das schade und plädieren ganz im Gegenteil für eine Petzold-Serie, welche den beiden leise verbundenen Ermittlern nochmals eine berufliche wie private Chance gibt. (Inna Hartwich schrieb in der NZZ dazu.)
Münster: Geht es auch ohne Klamauk? Ausgerechnet die Münsteraner konterkarierten 2016 ihren Hang zum Lustigsein aus Anlass ihrer 30. Folge, «Feierstunde», in der Professor Boerne Opfer einer Geiselnahme wurde und das Ganze sich für Boerne lebensbedrohlich entwickelte. Das Urteil unserer Kritikerin lautete, Münster müsse Münster bleiben, will heissen: Herr Boerne sei nun wirklich nur Boerne, wenn er hart und arrogant auftrete. – So viel von den Boerne-Fans. Wir anderen haben diesen ernsthaften Versuch des eingefleischten Teams durchaus begrüsst, das eigene Image wieder einmal gegen den Strich zu bürsten und für Überraschung zu sorgen. (Daniele Muscionico darüber in der NZZ.)
Thiel und Boerne sind übrigens weiterhin die beliebtesten «Tatort»-Ermittler; die Münsteraner Folgen «Feierstunde» mit 13,3 Millionen Zuschauern und «Ein Fuss kommt selten allein» (mit 12,75 Millionen Zuschauern) waren auch 2016 die quotenstärksten ARD-Spielfilme. Auf Platz drei folgen der Jubiläums-Tatort «Taxi nach Leipzig» (mit 11,53 Millionen Zuschauern, siehe weiter unten) und der zweitletzte Konstanzer Fall, «Rebecca».
Schlechteste Quote für die wagemutigen Luzerner: Der Schweizer «Tatort» zum Thema Sterbehilfe hat 2016 am wenigsten Zuschauer (6,79 Millionen) interessiert. Das Ergebnis präsentierte sich zwar insgesamt durchzogen, weil bei «Freitod» der Hang zum Kitsch unübersehbar war. Trotzdem bewies das Schweizer Fernsehen – nach der hervorragenden «Tatort»-Folge «Ihr werdet gerichtet» –hier erneut Risikobereitschaft in der Wahl des brisanten Themas Sterbehilfe.(Der freie Tod, von Joachim Güntner in der NZZ.)
Trinkfest und weiterhin das Dream-Team: Der Rostocker «Polizeiruf 110» stellt weiterhin unser Lieblingsteam: Niemand schafft es, in einer einzelnen, eigentlich recht belanglosen Filmsequenz das ganze Leben zu umfassen, wie das Rostocker Ermittlerduo Sascha Bukow /Katrin König es immer wieder von neuem vorführt. Diesmal machten die beiden aus einem kleinen Absacker im Büro beinahe einen grossen Liebesfilm, den Frau König gerade noch einmal verhinderte, als sie zu Bukow sagte: «He, ich bin’s.» Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner machen auch aus einem mittelmässigen Film grosses Kino. Und sind längst der Beweis, dass die Deutschen Serie können. (Fazu Claudia Schwartz in der NZZ.)
Der 1000. „Tatort“ ist eine Mogelpackung – und enttäuscht: Es sollte ein «Tatort»-Jubiläumsjahr werden, und für den 1000. «Tatort» hat die ARD ein bisschen an der Schraube gedreht und 13 Folgen, die der ORF im Alleingang produziert hatte, nicht mitgezählt. Die Jubiläumsfolge brachte unter dem altgedienten Titel «Taxi nach Leipzig» Charlotte Lindholm und Klaus Borowski mittels einer Geiselnahme zusammen und holperte als Konzeptfilm ganze 90 dialoglastige Minuten durch die dunkle Nacht. (Dazu Claudia Schwartz.) Siehe auch das CrimeMag-Exklusiv-Stück Friedhelm Werremeier.
Das kommt 2017: Beim Südwestrundfunk experimentieren sie mit «Babbeldasch», einem Odenthal-«Tatort». Es handelt sich dabei um eine «Kriminaloperette ohne Gesang», wie der Filmemacher Axel Ranisch über seine erste Inszenierung für die Reihe «Tatort» sagt. Das Ludwigshafener «Tatort»-Team und die Darsteller des Amateurtheaters Hemshofschachtel erarbeiteten die Handlung in gemeinsamer Improvisation aufgrund eines Treatments (ohne ausformuliertes Drehbuch) gemeinsam – und ohne Kenntnis davon, wer der Mörder sein würde. Ausgestrahlt wird der Krimi am 26. Februar 2017. Es spielen Ulrike Folkerts, Andreas Hoppe, Lisa Bitter, Peter Espeloer, Annalena Schmidt, Malou Mott, Petra Mott, Andreas Assanoff u. v. a.
Schwarzwald-«Tatort»: Die Dreharbeiten für die erste Folge des neuen SWR-«Tatorts» finden im Frühjahr 2017 statt. Die Kommissare Franziska Tobler und Friedemann Berg werden ihren Sitz in Freiburg haben, aber in der Region ermitteln. Dem Nebel des eingestellten Bodensee-«Tatorts» folgen nun also die Bäume. Die Schauspieler Hans-Jochen Wagner und Eva Löbau werden in den Rollen der Kommissare unterstützt von Harald Schmidt, der sich hier als Kriminaloberrat Gernot Schöllhammer versucht. Die Ausstrahlung des ersten «Tatorts» mit diesem neuen Team soll Ende 2017 stattfinden.
Mit freundlicher Erlaubnis des Verlags der „Neuen Zürcher Zeitung“. Claudia Schwartz trat 1994 trat in die Feuilletonredaktion der NZZ ein, war zehn Jahre deren Kulturkorrespondentin in Berlin und ist bei der NZZ als Autorin federführend für Fernsehkritik. Ihre NZZ-Artikel hier. Ihre Präsenz auf Twitter hier. Claudia Schwartz bei CrimeMag.
Wallace Stroby
2016 was a challenging year here in the States in many respects, and I’m happy to see the end of it. However, it was a pretty good year for movies. Here are four that stood out for me:
HELL OR HIGH WATER – Dir: David Mackenzie. An almost-perfect character-driven crime film about two brothers who go on a bank-robbing spree to buy back their late mother’s ranch. As the Texas Ranger pursuing them, Jeff Bridges gives another of his great late-career performances. Chris Pine and Ben Foster are terrific as the brothers, and Brit director Mackenzie (STARRED UP) has the sharp eye for American landscapes and situations that sometimes only non-American directors can bring to the game (ie. Louis Malle’s ATLANTIC CITY). HELL OR HIGH WATER could have easily been a classic 1970s film – think Ben Johnson as the Ranger, and Alan and Jesse Vint as the brothers.
BLOOD FATHER . Dir: Jean Francois-Richet. Another European director’s take on an American genre film. It faded quickly at the box office, but it’s a short, sharp crime thriller, clocking in at a cracking 88 minutes of pure pulp pleasure. Mel Gibson gives one of his best performances in years as an ex-con trying to protect his teenage daughter from a criminal gang that’s marked her for death. Richet (MESRINE) handles both the character scenes and action setpieces with equal confidence, including a major MAD MAX homage about halfway through the film. Michael Parks, as a burned-out Vietnam vet/neo-Nazi, steals every scene he’s in – as usual.
ARRIVAL. Dir: Denis Villeneuve. Canadian director Villeneuve (SICARIO) crafts an original sci-fi thriller with Amy Adams as a linguistics professor tasked with trying to communicate with a race of alien beings who’ve sent 12 ships to Earth for unknown reasons. A quiet, somber, sometimes frightening and always fascinating film that also uses music (including Max Richter’s “On the Nature of Daylight”) to great effect. It’s a movie rich with ideas and mystery, and an ending that sneaks up on you. I found it deeply moving.
MANCHESTER BY THE SEA. Dir: Kenneth Lonergan. Finally an American director. Lonergan has only made three films (YOU CAN COUNT ON ME, and MARGARET are the first two), but they’re all great, and MANCHESTER may be his masterpiece. Casey Affleck, in a career (so far) performance, is a troubled, self-isolating loner charged with taking care of his teenage nephew after his brother’s sudden death. A life-affirming film about grief that doesn’t shy away from some brutally emotional moments, but also reminds us that the little sweetnesses of life that keep us going can sometimes be found in the least-likely places – including playing with your teenage friends in a terrible punk band.
Be warned though: It’s a stone heartbreaker.
Zur Website des Autors. Offenlegung: Im Frühjahr erscheint, übersetzt von Alf Mayer, Wallace Strobys zweiter Crissa-Stone-Roman Geld ist nicht genug (Kings of Midnight) bei Pendragon.
Gisela Trahms
Einkaufen in Venedig
Nur flüchtig blicken die beiden Herren zur Tür, als die Glocke geht, dann beugen sie sich wieder über ihr Auftragsbuch. Venedig, sagen ihre Mienen, ist nicht nur schillerndes Wasser, sondern Alltag und harter Stein, besonders im Winter. Du, Reisende, kannst gern ein bisschen Untergang üben und melancholisch sein, aber bitte mit deinesgleichen auf der Piazza San Marco oder am Rialto, nicht in diesem Geschäft. Wir haben zu tun. Wir kleiden die Wohnungen der Venezianer und diese selbst, wie dir das deckenhohe Regal mit den Stoffballen zeigt, denn glücklicherweise gibt es hier Menschen, die den eigenen Körper und seine Maße schätzen und eine Nähmaschine besitzen, doch zu diesen gehörst du nicht.
Ich stehe reglos und denke: ja, vielmehr nein, ich nähe wahrhaftig nicht. Aber ich sehe hier nicht nur Stoffe, sondern auch Steppwesten, dort an dem Ständer hängen mindestens zehn. Was, wenn ich eine wollte? Und im Schaufenster habe ich etwas gesehen…
Die Herren murmeln geschäftig.
Attendo, das heißt: ich warte.
Der Jüngere legt das Metermaß auf die Theke und nähert sich, einen Seufzer in den Mundwinkeln.
Signora?
Posso…? In vitrina?
Si, si, sagt er freundlich und lässt noch andere Wohllaute folgen, unter ihnen „per curiosità“, was wohl die Zweifel an meiner Kaufabsicht ausdrückt. Aber als ich ihm gezeigt habe, was ich vielleicht doch möchte, wird sein Blick ernst und er eilt ins Lager und kommt zurück mit einer flachen Pappschachtel. Sanft nimmt er den Deckel ab, schlägt das Seidenpapier auseinander und da liegt es.
Intimo, wird er später auf den Kassenzettel schreiben, ein strahlendes Wort, Betonung auf der ersten Silbe. Es bedeutet: Wäsche.
Mein Italienisch kreist seit Jahren um einen festen Nullpunkt, um es mit Brodsky zu sagen. So kann ich nicht mit eigenen Worten wiederholen, was der Signor Verkäufer lange weiß, dass nämlich das schlechthin vollkommene Unterhemd per donne vor mir liegt. Das Abbild des Urbilds, würde Plato sagen, käme er vorbei.
Damit die Vollkommenheit sich entfaltet, stelle ich mich zaudernd.
Also zupfen die geübten Finger das Gebilde auseinander. Ein mild glänzender, cremefarbener Schlauch senkt sich von der Schachtel auf die Theke, so anmutig schmal und schlank, dass höchstens ein Arm hinein zu passen scheint, aber natürlich werden die millimeterfeinen Rippen aus Merino und Seide sich liebevoll dehnen, genau wie die Bögen der unteren Kante. Oben blüht zarte Spitze, und dass auch sie millimetergenau passen wird, ist klar. Reine Natur, versichert das angefügte Schildchen, aber, so spüre ich, kein bisschen öko, weder ruppig noch Gänseblümchen, sondern diskreter, verständiger, haltbarer Eros.
Mein Blick sucht den des Verkäufers. Er preist und zeigt, ich seufze und zahle.
Aber die größte Überraschung erwartet mich beim Auspacken im Hotel. In der Schachtel steckt jetzt ein durchsichtiges, vom Hemdchen gewölbtes Etui, bedruckt mit dem Firmenlogo, und darüber leuchtet in schwarzer Schrift ein Zitat: „Estraneo alla bellezza non può essere nessuno – “. Darunter der Name der Autorin: Emily Dickinson.
Ja, da hätte ich es natürlich sowieso kaufen müssen. Ein Hersteller, der seine Produkte mit Versen von Emily Dickinson bewirbt, muss unterstützt werden, das versteht sich von selbst. „Estranged from Beauty – none can be – / For Beauty is Infinity – ”
WEB
ATOPIA
Only Angels Have Wings Howard Hawks (Criterion)
The Searchers John Ford (BluRay)
Aspalt Jungle John Huston (Criterion)
Ukigusa Monogatari Yasujiro Ozu
A Multitude of Angels Keith Jarrett (plus Sleeper)
Desert Solitaire Edward Abbey (jetzt auch auf deutsch!)
The Colonel´s Wife Gerald Seymour
Werneckhof München Tohru Nakamura (** 2016)
Don´t Explain Heinz Sauer Michael Wollny
69 Hotelzimmer Michael Glawogger (mit Workingman´s Death)
Hanoi Altstadt (always) VR Vietnam
Entdeckung Naomi Kawase (Filme)
High and Low Akira Kurosawa (wiederentdeckt dank Göhre/Mayer Cops in the City)
Essaouira Maison des Artistes
Cancale Chateau Richeux & Le Coquillage
Charlie Haden Rambling Boy (plus Last Dance)
Richard Stark (always)
Wanderer Sterling Hayden (immer noch nicht auf deutsch)
Viet Thanh Nguyen The Sympathizer (plus www.diaCRITICS.org)
Marcelino Truong Ein schöner kleiner Krieg. Saigon 1961-1963
Leser der Filmkritik kannten das Kürzel WEB und schätzten Wolf-Eckart Bühlers Texte über John Ford und seine Stock Company, zum Polizeifilm oder zu linken Filmemachern wie Leo Hurwitz, Irvin Lerner, Abraham Polonsky. Im Frühsommer 2016 zeigte das Filmmuseum München eine Retrospektive seiner Filme (Text von Alf Mayer dazu hier). Gerade erschienen ist beim US-Klassikerlabel Criterion der John-Huston-Film „The Asphalt Jungle“, mit dabei WEBs Dokumentarfilm „Pharos of Chaos“ (1982) über den Schauspieler Sterling Hayden, dem auch sein Film „Der Havarist“ (1983) dann galt. Ev. Anfragen/ Rückmeldungen über: webhell (at) t-online.de
David Whish-Wilson
Thanks for the opportunity to condense my favourites this year into a small list, which naturally has lots of Australians and goes as follows (in no particular order):
Four Days and Drainland by Iain Rogers (Broken River Books, 2015).
Four Days, by young Australian crime writer Iain Rogers is one of the best debut novels I’ve read in a long time. The prose is elegant and perfectly balanced to capture the atmosphere of sleaze and corruption of a particular period in Queensland’s history, and the follow-up, Drainland, builds on this exploration with the same stylish, fierce and unflinching gaze.
The Sound, by Sarah Drummond (Fremantle Press, 2016).
Another very impressive debut, set in first contact 19C Western Australia among a multicultural cohort of sealers, soldiers and kidnapped Indigenous women, told in a shimmering and lyrical style that perfectly captures both the desperation but also the beauty of the location and the resilience of Australia’s first people.
The Knick – Season 2. This US series set around the Knickerbocker hospital in early 20C New York is a fascinating look at both early medical practice and its evolution, conveyed by a terrific cast of characters that enables it to explore the period’s race, gender, class and politics in ways that are illuminating and echo into the present.
Hustle, by Tom Pitts. This is a funny, tense and tough novel by San Franciscan crime writer Tom Pitts about two young junkies looking to raise a stake and get away from the street.
Kingdom. I inhaled this tough but tender series set in an MMA gym in Venice, California. The fighting is just a backdrop to the representation of the complicated lives of the Kulina family.
Gunshine State, by Andrew Nette (280 Steps, 2016). I love a heist story and this is one of the best to emerge from Australia. Nette is a pulp scholar and his familiarity and love for the genre shows through in a plot with expertly delivered twists and turns.
To Name Those Lost, by Rohan Wilson (Allen & Unwin, 2015). Rohan Wilson is one of Australia’s finest young writers, and this novel (and his earlier The Roving Party, 2012) shows why. Set in 1860’s Tasmania during a time of great social unrest, the language Wilson employs to capture the voice of the two main characters has a dark poetry all of its own.
Gomorrah – Seasons 1 & 2. Following on from Leonardo Sciascia’s 1960s and 70s fictional and non-fictional explorations of the way mafia crime pervades all aspects of Italian life, from the street to the boardrooms and offices of power, and based on Roberto Saviano’s book of the same name, Gomorrah paints an intimate picture of how power is exercised in one of Naples poorer communities.
Resurrection Bay, by Emma Viskic (Echo Press, 2016). This award winning Australian crime novel is another terrific debut, centring around the profoundly deaf character of Caleb Zelic who investigates the savage murder of a friend and the disappearance of another.
Burn Patterns, by Ron Elliott (Fremantle Press, 2016). Ron Elliott is a former scriptwriter and you can tell. The plot is taut and rises towards its satisfying conclusion, but what I enjoyed most about this novel was the incisive observations made by the central character, psychologist and ‘Fire Lady’ Iris Foster, in her narrative therapy sessions as she unlocks the mysteries behind some seriously deviant behaviour.
Website des Autors hier. Gerade in Australien herausgekommen ist David Whish-Wilsons Old Scores, nach Line of Sight und Zero to the Bone der dritte Band seiner großen und elegant-kühlen Korruptionstrilogie. Band 1, Die Ratten von Perth, erscheint im Herbst 2017 bei Suhrkamp. Offenlegung: Der hier Folgende ist dafür verantwortlich.

(c) Christine Frenzl
Thomas Wörtche
Das ist schon tricky mit den Jahres-Highlights. Zum einen, weil sich mit fortschreitender und ergo abnehmender Lebensdauer die Zeit knautscht. Jeden Monat ist praktisch Jahresende, was dieses Jahr war oder letztes oder gar vorletztes, das verschiebt und verschachtelt sich in meiner Wahrnehmung zunehmend. Hat mich gerade eine Kiste Cava gekostet, weil ich ein Event vom letzten Jahr stur zwei Jahre zurückverlegt und darauf gewettet habe. Passiert mir nie wieder und deshalb kann ich auch für diesen Rückblick meine Hand nicht für chronologische Korrektheit ins Feuer legen. Zum anderen: Man kommt ja zu nix. So viele Filme, die ich nicht gesehen habe, so viele Bücher, die ich nicht gelesen habe, so viele Musik, die ich nicht gehört habe, so viele Fußballspiele, die an mir vorbeigerauscht sind – ach! Und so viel Sachen, über die ich (noch) nicht länger schreiben konnte. Deswegen einfach ein paar Splitter:
Bewegte Bilder:
Borgia, III. Staffel: Geschichte als Grand Guignol. My favorite kick: Die genial geschnarrte Ansage des großartigen Schauspielers Victor Schefé (als Johannes Burckhardt, ein realer, wichtiger Chronist der Zeit und ein bemerkenswert korruptes Kerlchen in einem Meer der Korruption), wenn der jeweilige Papst auftritt: „Verbum incarnatum“. Falls Sie sich wundern, sollten Sie mich anrufen …
Banshee. Small Town, Big Secrets III. Staffel: Nur etwas für cineastische Grobmotoriker. Schnell, gemein, auch für abgebrühte Zuschauer mit dem einen oder anderen “Autsch”-Faktor. Die Geschichte von einem Gangster, der sich als Kleinstadtsheriff im Amish Land etabliert und das fröhliche Rauben und Morden nicht sein lassen kann. Sex´n violence vom Feinsten, großartig geschmacklos. Hohe Schauwerte (Ivana Miličević, Lili Simmons). Blitzableiter für eigene Aggros & Antidot gegen schlechte Laune. Nicht wirklich pc.
La Isla Minima – Mörderland: Südspanien, September 1980, also während der transición, als die Demokratie noch längst nicht fest im Sattel saß, was für die Figurenkonstellation wichtig ist. Zwei Stadtpolizisten müssen zwischen den Reisfeldern einen Mädchenmörder jagen, was nicht sehr originell ist, aber umso genialer gemacht. Wortkarg (dringend die O-Version schauen), mit unfassbaren Bildern – Luftaufnahmen, die das von Menschen gemachte Geomorphing zeigen, das man gerne als „Natur“ mißversteht. Weil ohne mystischen Fidelwipp auskommend, True Detective I überlegen.
True Detective II Staffel: Hat mit TRD I nur den Namen gemeinsam, und das stört. Denn die II. Staffel ist eine brillante Hommage an den Film Noir, dessen Ästhetik hier noch abgekühlter, kristalliner rüberkommt. Bilder, Bilder …
Suburra von Stefano Sollima, nach dem Roman von Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini. Stefano Sollima, der Sohn des großen Sergio Sollima war und ist für zwei der besten europäischen Fernsehprojekte ever verantwortlich: Romanzo Criminale und Gomorrha, die zeigen, dass auch Europäer gemeine, radikale, wirklich wehtuende Arbeiten abliefern können, wenn man sie in Ruhe arbeiten lässt. Kaum habe ich sowas geschrieben, fällt mir siedend heiß ein, dass auch der Suburra-Film leider einen Produzenten-Schluss hat. Carlo Bonini meinte, er könne damit leben. Naja, nothing is perfect.
Musik:
Obwohl ich beim Arbeiten pausenlos Musik höre, meine Kopfhörer sind vermutlich schon festgewachsen (danke, Franz!), höre ich nicht genug Musik. Also kaum neue Musik, geschweige denn solche, über die ich länger nachdenken könnte. Deswegen sind mir nur drei neue CDs in diesem Jahr im Gedächtnis geblieben, aber die sind erste Sahne:
Natürlich das Abschiedswerk von Leonard Cohen: You want it darker, dessen Besprechung eigentlich kein Nachruf sein sollte, aber dann doch einer wurde. Baaa. Dazu noch einmal der dringende Hinweis auf die schöne Bilder-Biographie: Leonard Cohen – Almost Young, die der Schirmer/Mosel Verlag anlässlich des traurige Anlasses noch einmal frisch im Angebot hat. Ziemlich wehmütig, so ex post betrachtet.
Marianne Dissard: Cibola Gold, eine grandiose Kompilation der Sängerin, die wie kaum eine andere durch die Musikstile tanzt und fliegt. Virtuos, sexy, intelligent.
Danny Dziuk: Wer auch immer, was auch immer, wo auch immer. Kratzbürstiges Rumprügeln mit den Abscheulichkeiten der Welt, cum kleinen Glücksmomenten. Musikalisch brillant, meisterhafte Texte mit Witz und Esprit. Wäre in einer besseren Welt in den Charts unter den Top Ten, ganz oben.
Bücher:
Ricardo Adolfo: Maria von den abgesägten Gewehrläufen. Skandalöserweise ist dieser großartige Roman über die aktuelle Situation in Portugal – und nebenbei der beste literarische Kommentar zum Krisenwahnsinn dort und anderswo – hier völlig weggerutscht. Auch mea culpa, weil das Buch eigentlich bei Penser Pulp erscheinen sollte und schon beinahe fertig produziert war, bevor es dann von dem wunderbaren A1 Verlag gerettet wurde. Deswegen an der Stelle keine medienhygienische Bescheidenheit: Adolfos Groteske über Maria und ihre Außenseiter und Randgruppenleute aus den Suburbs von Lissabon, die beschließt, etwas gegen die Krise zu tun – und sei´s eben mit der abgesägten Flinte – ist witzig, kein bisschen wehleidig, bizarr und robust, formal virtuos gemacht (und von Barbara Mesquita genauso brillant übersetzt) und von großer subversiver Power. „So gehet hin und leset“ (verbum incarnatum, siehe oben).
Petra Boden/Rüdiger Zill (Hg): Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten. „Poetik und Hermeneutik“ nannte sich eine locker assoziierte Forschungsgruppe, die zwischen 1963 und 1993 existierte und es auf immerhin 17 dickleibige Tagungsbände brachte. PuH war ein strikt interdisziplinäres Unternehmen, personell gemischt aus Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Linguisten, Theologen, Historikern und Soziologen und bis auf einen kleinen harten Kern auch nicht kontinuierlich besetzt. So allmählich setzt sich die wissenschaftshistorische Aufarbeitung dieses Think Tanks in Bewegung, der so ziemlich in alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen hineinstrahlte, wenn auch oft eher subkutan oder kontrovers. Die Teilnehmerlisten sind ein wahres Who-is-who: Clemens Heselhaus, Odo Marquard, Hans Blumenberg, Renate Lachmann, Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser, Wolfgang Preisendanz, Thomas Luckmann, Reinhart Koselleck, Rainer Warning. Manfred Fuhrmann, Juri Striedter, Dieter Henrich, Jürgen Schläger, Aleida und Jan Assmann, Gabriele Schwab etc. etc. Auch wenn PuH oft als Unternehmen der „Konstanzer Schule“ galt, das war es nicht wirklich, zumal das Schlagwort „Konstanzer Schule“ eine gewisse Homogenität insinuiert, die es schlicht nicht gab. Ich kann mich an vieles gut erinnern, denn ganz an der alleräußersten Peripherie schwirrte auch der junge TW herum. Heute würde man sagen, dass PuH schon früh „kulturwissenschaftlich“ gedacht und diskutiert hat, auf jeden Fall extrem anregend, ein intellektueller Steinbruch ohnegleichen. Und eine Feier avancierten Denkens, hinter das, wenn man sich heute Akademia und ihre publizistischen Spin offs so anschaut, vieles Aktuelles wieder zurückgefallen ist. Besonders die Bände „Die nicht mehr schönen Künste“, „Terror und Spiel“, „Positionen der Negativität“, „Das Komische“ oder der letzte Band „Kontingenz“, geben Ansatzpunkte zu Hauf, die man für die Kriminalliteratur fruchtbar hätte machen können, ja müssen. Aber das lag damals dann doch außerhalb des Gesichtsfeldes. Dass man Splitter und Fragmente von PuH-Denke hin und wieder in meinen Texten findet, ist allerdings kein Zufall. Aber egal, wer sich auch nur ein bisschen für die Geschichte der (hauptsächlich west-) deutschen Geisteswissenschaften interessiert, findet in den Interviews Berge von Material und Querverweisen.
Und dann war da ja noch das Luther-Jahr. Willi Winklers Biographie Luther. Ein deutscher Rebell ist sehr vergnüglich lesbar, ist enorm materialreich, und hat einen originellen, basal-skeptischen Blick auf das welthistorische Mönchlein und zudem einen höchst erfreulichen Sinn für die komischen, bizarren und toxischen Aspekte der Reformiererei. Kombiniert mit den Borgias (s.o.), ein bisschen Blättern im Machiavelli (sollte man grundsätzlich hin und wieder tun) und den Bildwelten von Lucas Cranach, Albrecht Dürer & Co. schützt all das vor blauäugiger Naivität im Umgang mit den heutigen Realien.
Und so ganz persönlich? Tja, der FC Bayern hat dem aktuellen Parvenü zum Jahresende gezeigt, wo der Hammer hängt.
Zudem habe ich gelernt, dass man auch „schwierige“ (wieso eigentlich?) Bücher wie James Gradys grandioses Die letzten Tage des Condor gegen den erbitterten Widerstand grenzdebiler Amazon-Kritiken erfreulich gut verkaufen kann. Na also!
CulturMag-Beiträge von Thomas Wörtche finden Sie hier.