Geschrieben am 16. März 2013 von für Crimemag, DVD, Film/Fernsehen

DVD: Romanzo Criminale

RomanzoCriminale_Cover_Staffel2_finalSound & Frau Del Rauso

– Stefano Sollimas TV-Serie „Romanzo Criminale“ nach dem Drehbuch und dem Roman von Giancarlo De Cataldo ist eine Apotheose der 70er Jahre in Rom. Eine Heimatgeschichte der Gewalt, ein Epos vom Aufstieg einer Gruppe von Vorstadtdieben zu den kriminellen Herren der italienischen Hauptstadt und ihrem Niedergang. Als TV-Serie ein Meilenstein und ein Hauptwerk jener jüngeren europäischen Kriminalepik, die erst auf dem Bildschirm volle Gestalt annimmt. Von Tobias Gohlis

Ein paar Jungs aus der römischen Vorstadt

Nach 8 DVDs oder 22 mal 55 Minuten schließt sich der Kreis. Der alte Mann, der in der ersten Szene der Serie von ein paar Straßenjungen zusammengeschlagen worden war, einen von ihnen erschossen und die umliegenden Mietshäuser angebrüllt hatte: „Ich gehörte mal zum Libanesen!“ steht wieder in Francos Bar, in der sich vor 12 Jahren seine Bande getroffen hatte. Es ist 1989, die Mauer ist gefallen. Der alte Mann träumt. Er ist der einzige Überlebende. Da sind sie wieder, strotzend vor Lässigkeit, Gewalt und Jugend: Dandi im taillierten Lederjäckchen, Scrocchiazeppi, der nur unter dem Pantoffel seiner geldgierigen Frau hervorkam, wenn es etwas zu überfallen gab, der kühle Freddo und natürlich der Libanese – alle sind noch einmal in ihrem alten Lokal im Souterrain einer Durchgangsstraße im römischen Maglina-Viertel versammelt. Sie hängen ab wie immer, stoßen eine Kugel, schwadronieren, schlucken ein Bier. Polizeisirenen ertönen, der Alte flüstert dem Libanesen zu: „Die Bullen kommen!“ Der Libanese, wild und großspurig wie immer: „Bufalo, die stören mich nicht, ich bin tot.“ Die Bande verschwindet aus dem Bild, der alte Mann steht zwei Polizisten gegenüber, zieht seine Waffe, fällt. Suicide by cop.

Es ist schon einige Wochen her, dass ich die Serie „Romanzo Criminale“ von Stefano Sollima gesehen habe, abend für abend 3 Folgen. Ich gestehe, als ich jetzt wieder den Metallklang der E-Gitarren aus der schlichten und doch raffinierten Intromusik hörte, die von ferne an Western erinnert, da wollte ich mich gleich vor den Screen klemmen und alles wieder und wieder sehen, statt diesen Text zu schreiben.

joe-rivetto-romanzp-criminale-4-510x510„Romanzo Criminale“ – zu deutsch: Kriminalroman – ist Kult in Italien und besonders Kult in Rom. Kaum hatte ich das Thema bei einem Besuch in Rom bei den Taxifahrern angetestet, wurden mir Heldengeschichten berichtet: Wie Dandi Emmanuela Orlandi aus dem Vatikan entführte – was er vermutlich nicht tat. Wo der Libanese erschossen wurde. Wie sie mit dem Papstattentäter Ali Agca kollaborierten … Und das Geschäft hätten die Taxis auch gefunden, wo man T-Shirts mit den Konterfeis der Schauspieler Francesco Montanari (Libanese), Vinicio Marchioni (Freddo) oder Alessandro Roja (Dandi) kaufen kann.

Giancarlo de Cataldo in Richterrobe (Foto © Tobias Gohlis)

Giancarlo De Cataldo in Richterrobe (Foto © Tobias Gohlis)

Aufstieg

„Romanzo Criminale“ füllt gleich mehrfach eine Leerstelle. Zunächst war es die Maglianabande selbst, die in ihrer Hochzeit zwischen 1977 und 1982 in das Machtvakuum des organisierten Verbrechens vorstieß. Wie die Staaten der Welt ihre Botschafter beim Vatikan unterhielten die diversen Fraktionen des organisierten Verbrechens bloß Sendboten und Statthalter in der Hauptstadt, aber keine Besatzungstruppen. In einem komplizierten Hin und Her von Bündnissen und Gewaltakten (in der Serie konzentriert auf den Kampf mit „Terribile“) übernahmen die Jungs aus dem tristen Vorort Magliana faktisch die Macht und kontrollierten den gesamten Drogenhandel, die Prostitution und das illegale Spiel. De Cataldos Roman „Romanzo Criminale“ basiert auf dem einzigen Prozess, der 1995 der den Mitgliedern der Maglianabande als krimineller Organisation gemacht wurde. Giancarlo De Cataldo verwendete die Prozessakten, vor allem aber seine persönlichen Kenntnisse der überlebenden Beteiligten. Er hatte ihnen schließlich den Prozess gemacht.

Der Roman „Romanzo Criminale“ ist kunstvoll fiktionalisierte Dokumentation. Er gibt der italienischen Hauptstadt für die 70er und 80er Jahre eine mythisch aufgeladene Heimatgeschichte, deren Wucht an die großen Filme des Neorealismus der Nachkriegszeit erinnert. Heimatgeschichte als Verbrechens- und Sozialgeschichte. Und die Serie Sollimas, die auf dem Roman und dem Drehbuch De Cataldos beruht, liefert dazu betörende Bilder.

Production Design

Die Ausstatter, Szenografen und Kameraleute haben das Rom der späten 70er Jahre und auch schrittweise die folgenden Jahre unendlich liebevoll und genau rekonstruiert. Von den Schlaghosen der rebellischen Studenten bis zu den Uniformen der sie verprügelnden Polizisten, vom knubbeligen Fiat 500 über das Design der Kaffeetassen und der Bartapeten bis zu den zerzausten Locken der jungen Straßengangster – Zeitschicht um Zeitschicht ist sorgfältig, aber unaufdringlich rekonstruiert. Der Aufstieg aus den Kleinstwohungen der von Mama in der Vorstadt gefütterten Autodiebe und Straßenschläger zu Drogen-Millionären ist anschaulich in ihren immer grandioseren Behausungen, die jeweils mit den neuesten Status-Symbolen der Schickeria geschmückt sind. Insbesondere Dandi, dessen reales Vorbild Enrico De Pedis, ohne je verurteilt worden zu sein, 1990 als vielfacher Millionär erschossen wurde, sieht man erst topaktuelle Op-Art sammeln, eine Aufstiegsstufe höher geriert er sich dann als Sammler von Barock-Kunst.

Dass Stefano Sollimas Serie nach Ausstrahlung der ersten Folgen 2008 dort als „beste je in Italien produzierte Serie“ bejubelt wurde, mag man dem ersten Überschwang zuschreiben. Aber auch von heute aus (noch schwer beeindruckt von der 3. Staffel der zeitgleich entstandenen dänischen Serie „Das Verbrechen“ mit Kommissarin Lund) gesehen, zeichnet sich „Romanzo Criminale“ durch ein sensationell differenziertes Casting, durch ein hohes Erzähltempo bei gleichzeitiger Konzentration auf das Schicksal der Hauptfiguren, durch Verfolgung klug gewählter, sorgsam verfolgter Seitenstränge der Handlung und eine grandiose Dramaturgie des langsamen Niedergangs aus.

Stichwort Nebenhandlungen: Aufstieg und Fall der Bande spiegeln sich im finster kleinbürgerlich-miefigen Milieu, dem der schmächtige Scrocchiazeppi (vor Furcht zitternd, wenn der finstere Koloss von Schwiegervater auf Heirat und Zahlung besteht) sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hat: immer verschuldet, da sein Frauchen enthemmt mit der Kreditkarte wuchert. Ein anderer lang durchgezogener Strang ist das Schicksal von Commissario Scialojas Schwester, deren Polit-Engagement ihn erpressbar macht. Oder das Unglück von Freddos jüngerem Bruder, der nachdem ihm Freddo die Frau ausgespannt hat, nichts weiter will, als auch ein Gangster zu werden und zu Freddos Untergang beiträgt.

Niedergang

Stichwort Niedergang: Die Physiognomien (grandios die unzertrennlichen Antipoden Libanese – Francesco Montanari – und Dandi – Alessandro Roja) wandeln sich von jugendlich strotzendem Tatendurst zu koks-induziertem Wahn beim früh ermordeten Libanesen und zu ermüdeter Blasiertheit beim knapp zehn Jahre später ermordeten Dandi. In der zweiten Staffel, in der der ungestüme Libanese bereits ermordet ist (die Rache am Mörder ist einer der roten Fäden) und allen schmerzhaft fehlt, erinnern Rückblenden an die wunderbaren Glanzzeiten, als die Maglianabande noch ihre Kollektivität der Einzelnen ausspeilen konnte. Denn sie hatten, auf der Höhe der Zeit, sich nicht hierarchisch-patriarchal nach Camorra-Vorbild organisiert, sondern modern als Zusammenschluss von Gleichen. Dass sie sich, bei individuell verschieden klugem Umgang mit dem schnellen Geld, mit Frauen und Nebengeschäften, immer schwerer taten, als Kollektiv zu handeln, war wesentlich für ihren Untergang: Kleinbürger, die protzig ins Bürgertum aufsteigen wollten.

Und doch, gerade dann, wenn in großartig ausgespielten und inszenierten Genre-Szenen wie der Konfrontation Dandis mit der Cosa Nostra auf offenem Feld noch einmal die herrliche kriminelle Energie aufscheint, die die Bande getragen hat, rückt das Ende näher: Zwietracht, Verzettelung, Misstrauen. Nur Donatella, Ex des erschossenen Nembo Kid, eine Superrolle für die mal in Schwarz, mal in Blond, aber immer superhart agierende Giovanna Di Rauso schwingt sich zur neuen Domina des römischen Verbrechens auf. Bemerkenswert, dass es gerade Freddo, der kühle, reflektierte, distanzierte Gangster ist, der sich der Staatsmacht stellt – in der Serie aber erschossen wird. Sein reales Vorbild Maurizio Abbatino  ist einer der wenigen Überlebenden und war, so kann man vermuten, als Kronzeuge/Pentito einer der wichtigen Auskunftgeber nicht nur für die Prozesse, sondern auch für den Roman. Letztlich verglühte die Bande wie ein Komet, als ihre Antriebsenergie erloschen war.

Der Staat

Dass meine Sympathie für die Jungs der Maglianabande mit Erinnerungen an eigene wildere Jugendzeiten zusammenhängt, gestehe ich gerne ein. Doch hat sie auch mit dem Gesicht des Staates zu tun, genauer damit, dass er überhaupt ein Gesicht hat. Commissario Scialoja wirkt selbst in den wenigen Momenten, in denen er Alain Delon ähnelt, wie ein ins Meldeamt verirrter Konzertgeiger. Das liegt weniger an der zurückgenommenen, immer ein wenig tastenden Spielweise Marco Boccis als an der schwachen Rolle, die Sollima dem Staat insgesamt zugeschrieben hat. Selbst in den für die Richter und Staatsanwälte stärksten Szenen im Gericht zeigt die Kamera hinter den Stäben der Sicherheitkammern ungebrochen auf ihrem Behauptungsrecht der Straße beharrende Bandenmitglieder.

In der Romanversion gewinnt der Geheimdienstmann Vecchio, der Scialoja, die Polizei, Neofaschisten und Gangster wie Figuren eines Brettspiels herumschiebt, dämonische Übermacht durch sein unschein- und unsichtbares Agieren im Hintergrund, durch die Macht der Worte.

In der Serie unterscheidet er sich nicht von den anderen mächtigen Akteuren im Hintergrund, den Mafiabossen und -beauftragten, die die unzähmbare Kraft der Bande für ihre Zwecke einzusetzen versuchen. Der Staat ist zu hintergründig, um machtvoll zu wirken, obwohl er es in Gestalt Vecchios ist, der unvergänglich scheint. Selbst als Scialoja dessen Akten und Erbe übernimmt, akzeptiert er nur eine weitere Bürde, das Alter.

36797648z-168x260Helden?

Im Nachwort zu seinem soeben erschienen Prequel „Der König von Rom“ beteuert Giancarlo De Cataldo, er habe die Maglianabande nicht heroisieren wollen. Das trifft vielleicht auf den Roman zu, mit Sicherheit nicht auf die TV-Serie. Macht nichts, ganz und gar nicht. Selbst wenn sie in der Wirklichkeit sehr viel weniger heroisch waren als in der Serie, „schlicht Kriminelle“ (De Cataldo), gehören sie zum Mythos jener vergangenen Jahre. In der TV-Serie sind Libanese, Dandi, Freddo und Bufalo Brüder jener Westernhelden, die mit Butch Cassidy in die neue Welt aufbrachen, die sie selber schufen. Auch deshalb, weil dieser Traum aus ist, möchte ich „Romanzo Criminale“ wieder anschauen. Am besten heute Abend noch.

Tobias Gohlis

Nachwort und Zeittafel zu Giancarlo De Cataldos „Der König von Rom“ von Tobias Gohlis. Mehr dazu auf der Homepage von Tobias Gohlis.

Romanzo Criminale – Staffel 1  &  Romanzo Criminale – Staffel 2 (2008–2010). 23 Folgen. 8 DVDs. Italienische Version prod. von Cattleya, Sky Italia. Deutsche Version by Edel Motion.
Überblick über die ganze Serie (Cast, Locations, alle Folgen, ausführliche Vergleiche Film-Wirklichkeit) auf Italienisch.
Ausführliche Darstellung der realen Bandenaktivitäten in Italienisch und auf Englisch, besonders interessant wegen der politischen Aspekte.
Nachwort zu: Giancarlo De Cataldo: Der König von Rom (Io sono il libanes, 2012). Roman. Deutsch von Karin Fleischanderl. Wien/Bozen: Folio Verlag 2013. 174 Seiten. 19,90 Euro.

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