Geschrieben am 21. Juni 2010 von für Bücher, Litmag

Annika Scheffel: Ben

Sieben Namen, sieben Leben

Was für eine Entdeckung! Die Kookbooks-Verlegerin Daniela Seel stellt wieder einmal ihr außerordentliches Gespür für neue literarische Stimmen unter Beweis und beschert uns mit dem Debüt der 1983 in Hannover geborenen Annika Scheffel einen der unkonventionellsten und überraschendsten Romane der letzten Zeit. Von Frank Schorneck

Ben lautet der Titel des Romans, sein Held heißt jedoch mit vollem Namen Benvolio Antonio Olivio Julio Toto Meo Ho Schmitt. Die Eltern von Ben, die beide auch schon vor der Ehe Schmitt hießen und vollkommen grau und unscheinbar sind, wollen mit diesen Namen Zeichen setzen, ihren Sohn zu jemand Besonderem machen – und in der Tat haben sie ihn bestens gewappnet für die Abenteuer, die ihm noch bevorstehen.

Ben weiß von Geburt an, dass die Liebe seines Lebens Lea heißen wird und dass ihnen nur drei Begegnungen gewährt sind – beim vierten Treffen wird sie der Tod mitnehmen. Bens Kindheit ist schnell erzählt, sie ist so durchschnittlich wie sein Nachname. Doch das Wissen um die tragische Vorsehung bestimmt sein Leben als junger Mann: Er meidet Partys und Geselligkeit aus Angst, Lea zu begegnen und dem Tode näherzubringen. Doch wie es mit Vorsehungen so ist, irgendwann treten sie ein, auch wenn man das Schicksal auszutricksen versucht. So sind die ersten Begegnungen von Ben und Lea mehr skurriler als romantischer Natur. Lea wundert sich über den jungen Mann, der sich – beim verzweifelten Versuch, der Begegnung zu entgehen – mitten auf den Grünstreifen einer Straße gelegt hat. Doch unterbewusst werden Bande geknüpft, keimt Liebe auf – und irgendwo weit entfernt leuchtet ein neuer Name im bleichen Schädel des Todes auf und er wendet seine Schritte mit einem neuen Ziel. Ben muss verschwinden, damit er mit einem vierten Treffen nicht Leas Tod herbeiführt.

Die Flucht vor dem Schicksal führt den Helden in eine Märchenwelt hinter den Spiegeln, in eine psychiatrische Anstalt und zu vielen weiteren Stationen. Er probiert neue Identitäten aus, indem er auf jeder Station der Reise einen seiner Vornamen annimmt.

Überbordende Fabulierkunst

Scheffel, Foto: Katja Zimmermann

Annika Scheffels Roman ist ebenso von überbordender Fabulier- wie Formulierungskunst geprägt. Mühelos und lustvoll verwebt sie literarische Genres miteinander, lässt sie die Geschichte zwischen Tragik und Slapstick tänzeln. Allein die verschwenderische Fülle skurriler Nebenfiguren, deren Schicksale sie virtuos umeinander kreisen lässt, macht den Leser immer wieder staunen. Die Geschichte schlägt immer neue Haken, verblüfft mit aberwitzigen Wendungen.

Es ist jedoch nicht nur der außergewöhnliche Plot, es ist vor allem auch die sprachliche Kunstfertigkeit, mit der sich dieses Buch aus der Fülle deutschsprachiger Neuerscheinungen hervorhebt. Die Autorin geht mit einem experimentellen Furor zu Werke, der Erzählkonventionen aufbricht und neu zusammensetzt. Mit poetischem Blick betrachtet sie den Alltag, nimmt hingegen durch lakonische Schilderungen den großen Gefühlen ihr Pathos. Es mag sein, dass an manchen Stellen zu viel Kunstwollen aufblitzt, doch diese gelegentlichen Manierismen vermag die Debütantin mit Witz und Ironie auszugleichen.

Der Abschnitt, in dem Ben (bzw. zu dem Zeitpunkt Olivio) in einem Märchenland hinter den Spiegeln auserkoren ist, eine Prinzessin zu befreien, ist eine grandiose Parodie auf klassische Heldengeschichten – ohne dass das Genre an sich der Lächerlichkeit preisgegeben würde. Allein die Idee, dem geflügelten Pferd, das dem Helden zu Hilfe eilt, den klingenden Namen „Schädöh“ zu verpassen ist zum Niederknien. Und so ertappt sich der Leser dabei, wie er trotz Schmunzelns und Lachens mit den Charakteren dieses Buches mitfiebert, wie ihm jede einzelne Figur ans Herz wächst – vom Postboten, der seine mit einem Fischhändler durchgebrannte Frau sucht, über Bens besten Freund Tjorven, der im Dauerzwist mit Türschlössern lebt, bis hin zu Leas Mutter, die sich in Plastiktüten kleidet, seit ihr Mann damals beschloss, König hinter den Spiegeln zu werden.

Die vielleicht wundervollste Figur ist allerdings der Tod selbst, der in einem gelben Schlauchboot rudernd hofft, seinen traurigen Einsatz zu verpassen. In seiner resignierten Schwermütigkeit erinnert er an Todesinkarnationen in Filmen von Woody Allen oder Monty Python oder aber an den sanftmütigen Begleiter aus Wolf Erlbruchs Kinderbuch Ente, Tod und Tulpe. Ihm stehen ein paar der schönsten Auftritte in diesem an tragikomischen Begegnungen und absurden Dialogen reichen Buch zu: „Wollen Sie mit, fragt der Tod, immer noch anwesend und sehr höflich. Er trägt einen Stoffbeutel, Kreise sind nur da, damit und wenn sie sich schließen, und Herr Schmitt überlegt, ob er mitmöchte, und es ist ihm für einen Moment egal. Der Tod hat Verständnis, der Tod kennt sie alle, die Menschen, und es ist ein Witz, wenn der Tod zu sich sagt: Junge, du hast viel erlebt. Und noch mal, er betont: Erlebt, verstehst du? Und darüber kann er sich stundenlang amüsieren. Totlachen. So auch jetzt, aber dezent.“

Frank Schorneck

Annika Scheffel: Ben.
Kookbooks 2010. 268 Seiten. 19,90 Euro.

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