Geschrieben am 15. August 2016 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Film: La Isla Miníma

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Souveräne Filmkunst

Alf Mayer hat einen Film gesehen, dem er viele Zuschauer wünscht. Der spanische Polizeifilm „La Isla Miníma“ – kaum teurer als ein „Tatort“ –  beweist, dass das Genre sich längst noch nicht erschöpft hat, wenn wirkliche Filmemacher am Werk sind.

Dieser Film halt lange nach. Die Wucht, die er entfaltet, ist beträchtlich. Und seine Schönheit schmerzt. Selten öffnen Filme sich heutzutage in die Landschaft, sie haben vielleicht schöne Drehorte, aber mit der Story hat das meist wenig zu tun, nur mit dem Dekor. Es hilft kein noch so guter „Location scout“, wenn die dort gedrehte Einstellung nichts mit der inneren Einstellung des Regisseurs und der Geschichte zu tun hat.

la isla_236154_322947Ganz anders verhält sich das in Alberto Rodríguez Libreros „La Isla Miníma“. Die Gegend und damit die Seele ihres Films kennen  der Regisseur und sein Kameramann (Álex Catalán) seit Kindesbeinen. Sie haben nur auf eine Geschichte gewartet, die sich darin zu erzählen lohnt. Ihr Film gibt nicht nur einer eigentümlichen Landschaft, sondern auch einer komplexen kollektiven Seelenlage Ausdruck. „Dieser Ort verschlingt die Menschen“, heißt es einmal. Das Verlangen, ihn und damit die Provinz wie auch die Vergangenheit an sich zu verlassen, ist eines der Leitmotive, dramaturgisch eindringlich und klug gesetzt.

Dieser Film ist meisterlich – und es schmerzt zusätzlich, zu wissen, dass viele ihn nicht sehen werden. Dass er das Kino und das Filmerzählen viel zu wenig beeinflussen wird. 23 Monate hat es nach der Premiere 2014 in San Sebastian gedauert, bis er in nun in (einigen wenigen) deutschen Kinos läuft. Man muss kein Pessimist sein, um zu wissen, dass er dort nicht lange zu sehen sein wird. Hut ab dennoch vor dem Kleinverleih Drop-Out Cinema und ein Geschmackskompliment an Koch Media, wo es ihn auf DVD geben wird. Schauen Sie ihn sich an, das ist mein dringlicher Rat.

 Eine irritierend schöne Landschaft

81jmP9OVhzL._SX522_An die 65 Preise, davon alleine zehn Goyas, darunter für den besten Film, das beste Drehbuch, den besten Darsteller, machen ihn zu einem der am meisten gefeierten spanischen Filme der letzten Jahre (von denen wir hierzulande eh viel zu wenige zu sehen bekommen). Also auf in die Gegend von Huelva, ins Delta des Guadalquivir im Nationalpark Coto de Doñana an der Costa de la Luz in Andalusien, dem größten Produktionsgebiet für Erdbeeren in Europa. Die marismas – flache, periodisch überschwemmte Feuchtgebiete – zählen zu den wichtigsten unseres Kontinents, sie bieten vielen seltenen Vogelarten und Millionen Zugvögeln Quartier. Es ist eine einsame, irritierend schöne Landschaft, voller Salzsümpfe und Lagunen, Einöden, verlassener Gehöfte, Reisfelder, Deiche und Schilfgebiete. Ich bin dort einmal vor 20 Jahren durchgefahren, habe das nie vergessen. (Im April 1998 brach dort der Damm eines Rückhaltebeckens für Bergwerksabwässer einer Mine im Hinterland. Mehr als fünf Millionen Kubikmeter Schlick voller Schwermetalle wie Zink, Blei, Kupfer, Cadmium, Quecksilber, Arsen und Thallium flossen in den Guadiamar. Aber hätten Sie sich noch an diese Umweltkatastrophe erinnert?)

Hypnotisierend schöne, gestochen scharfe Satellitenaufnahmen der Marschlandschaft liegen unter dem Vorspann, die kurvigen Wasseradern, Kanäle und erodierten Landresten wirken wie das Gewirr von Ganglien, sehen von oben aus wie eingefärbte Gehirnquerschnitte unter dem Mikroskop. Sie setzen den Ton für eine destabilisierende Reise in einen Kriminalfall, der über seine präzise historische wie lokale Verortung hinaus uns etwas allgemein Gültiges über die condito humana zu sagen vermag, wie es großer Literatur und großen Filmen eigen ist.

isla-minima-mrderland-la-isla-minima-la-12-rcm0x1920uVerlorene, wie bei Beckett in eine erbärmliche Existenz geworfen

Zwei strafversetzte Polizisten aus der Stadt kommen in die Provinz, um den Fall zweier verschwundener Schwestern aufzuklären, stoßen auf Schweigen und Ablehnung, haben es bald mit einem weiteren solchen Fall zu tun, mit einem Serienmörder, mit der lokalen Macht und mit viel Abgrund und Vergangenheit. Vor allem aber schwimmen wir mit ihnen in einen seltsam flirrenden Kosmos von becketthaft in ihre Existenz geworfenen Verlorenen, alle sind sie zu einem Satanstango verkettet, wie das Bela Tarr einmal in seinem Pusta-Blues „Verdammnis“ (Kárhozat, 1988) vorgeführt hat.
Die Handlung von „La Isla Miníma“ (international mit „Marshlands“ und in Deutschland mit „Mörderland“ ergänzt) spielt 1980, fünf Jahre nach Ende der Franco-Diktatur. Der Film ist nicht didaktisch, erklärt nichts, und man muss – wie in Ingmar Bergmans universalem Nachkriegsland von „Das Schweigen“ – auch nicht unbedingt von den historischen Hintergründen wissen. Dennoch aber, und für die Rezeption in Spanien war das sicher wichtig, ist die Zeitzeichnung der dort „Transición” genannten Übergangsjahre zwischen Diktatur und stabiler Demokratie äußerst präzise. Zwei spanische Freunde haben mir das bestätigt.

la isla_236154_322951Alleine schon in den beiden Polizisten ist da vieles angelegt. Pedro, der Jüngere (Raúl Arévalo), ist von dem Kreuz im Hotelzimmer angewidert, das den Gekreuzigten zwischen Hitler und dem Generalissimo zeigt. Juan (Javier Gutiérrez), der Ältere, hätte da nur die Achseln gezuckt. Er war bereits unter Franco Polizist – oder Schlimmeres, wie ein Journalist immer wieder insinuiert. Juans hemdsärmlig kühle Einstellung zur Gewalt flackert immer wieder irritierend auf. Aber auch Pedro, links gesinnt und der neuen Zeit zugehörig, ist im gleichen faschistischen System aufgewachsen, hat mit seinen Deformationen und diesem Erbe zu tun. Die Beiden reden nur das Nötigste miteinander, der Film aber erzählt da viel. So wie er auch Landflucht und Ausbeutung, wirtschaftliche Not und Feudalismusreste benennt. Der italienische Neorealismus und „Bitterer Reis“ klingen an. Viele Szenen aus diesem Film hängen einem lange nach, auch ganz kurze. So träume ich manchmal von der Frau im roten Mantel nachts, die da plötzlich kurz im Scheinwerferlicht stand.

Ein Film, wie Filme sein sollten

Der in Scope gedrehte, traumhaft sicher inszenierte und gerade mal vier Millionen Euro teure Film hat einen honigsüßen und zugleich bitteren Sog. Schon während man ihn sieht und in ihm lebt, weiß man, man wird ihn wiedersehen wollen, wird ihm noch in 20 Jahren mit Gewinn wiederbegegnen. So atmosphärisch dicht ist er, so golden schön, perfekt und giftig. Ein Film, wie Filme sein sollten. Wenn sie nicht zum Wegwerfen gemacht sind.
Gemacht haben ihn Filmkünstler, die ihr Handwerk verstehen. In jeder Hinsicht. Sei es Regie, Buch, Kamera, Licht, Schnitt, Ausstattung, Darsteller oder die Musik, bei der es lange braucht, bis sie die Wahrnehmungsschwelle erreicht, dann aber eine Grundierung gibt, bei der man den Atem anhalten möchte. Kadrierung, Schnitte und Fahrten, Nähe und Distanz, Rhythmus, Verharren und Bewegung sind allesamt so souverän eingesetzt, wie man das nur von den Klassikern kennt, wo es nichts zu verhandeln, nur zu bewundern gibt. Film, wenn Film heute noch Film ist und nicht Surrogat, muss so sein wie „La Isla Miníma“.
Ein Etikett wie „Neo-Noir“ mutet mir aufgeklebt an. Wer findet, dass die TV-Serie „True Detective“ (übrigens zur ziemlich gleichen Zeit entstanden) das derzeitige Maß aller Dinge ist, kann hier sehen, wie man so etwas in 105 statt 420 Minuten und mit zwei Prozent der Dialoge erzählen kann.

marshland Unit_7_postermarshland_El hombre de las mil caras 2016la isla r_640_600-b_1_D6D6D6-f_jpg-q_x-xxyxx„La Isla Miníma“ ist der sechste Spielfilm des 1971 in Sevilla geborenen Regisseurs Alberto Rodríguez Librero, alle spielten sie in seiner Heimatregion Andalusien. Auch der knallharte, mit 16 Goya-Nominierungen glänzende Rauchgiftpolizistenfilm „Grupo 7“ (Kings of the City). Einer der eindrucksvollsten Nebendarsteller in „La Isla Miníma“, Jesús Castro als der provozierend coole lokale Mädchenbespringer „Quini”, hatte darin die Hauptrolle. Erst jetzt im September 2016 wird Rodríguez mit seinem transnationalen Thriller „Mann der tausend Gesichter“ (El hombre de las mil caras) vielleicht die längst verdiente Aufmerksamkeit auch außerhalb Spaniens finden.

PS. Der Preis für die mit Abstand dämlichste Filmkritik-Überschrift geht an die „Süddeutsche“ für „Der Flamingo und der Kommissar“ (5. Aug. 2016, Seite 12). So kalau-dumm muss man sich bei solch einem Werk erst einmal machen können. Ewige Schande!

PPS. „Polizeiromane sind Romane über Städte, zuallererst, noch bevor sie Polizeiromane sind, oder: Sie sind Polizeiromane erst dann, wenn sie Romane über die Städte sind“, hatten Wolf-Eckart Bühler und Felix Hofmann 1974 im legendären Polizei-Heft der „Filmkritik“ geschrieben. Nach und mit diesem Film kann man das – auf den Polizeifilm gemünzt – ruhig mit Landschaften ergänzen.

Alf Mayer

La Isla Miníma (engl. Marshlands, dtsch. Mörderland) – Spanien 2014. Regie: Alberto Rodríguez Librero. Buch: Rafael Cobos, Alberto Rodríguez Librero. Kamera (Scope): Álex Catalán; Bildseitenverhältnis: 1:2,35. Schnitt: Jose Manuel Garcia Moyano. Musik: Julio de la Rosa. Mit: Javier Gutiérrez, Raúl Arévalo, Antonio de la Torre, Nerea Barros, Salva Reina, Jesus Castro, Manolo Solo, Mercedes Leon, Juan Carlos Villanueva, Ana Tomeno. Länge 105 Min. Spanischer Kinostart: 26.9.2014. Deutscher Kinostart: 4.8.2016. Deutscher Kinoverleih: Drop-Out Cinema eG. Als DVD bei Koch Media.

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