Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Ute Cohen: Freiheit, vom Gaumen her gedacht

Bei Ute Cohen erhält »Küchenphilosophie« eine völlig neue Bedeutung

»Der Geschmack der Freiheit. Eine Geschichte der Kulinarik«, vorgetestet von Alf Mayer

Ute Cohen: Der Geschmack der Freiheit. Eine Geschichte der Kulinarik. Reclam Verlag, Ditzingen 2024. Hardcover, 272 Seiten, 24 Euro. – Verlagsinformationen.

Ich hatte ein wenig Angst vor diesem Buch. Wie wenn man lange im voraus in einem begehrten, teuren Restaurant einen Tisch gebucht hat und nun mit kleinem Bangen an der Schwelle steht. Wird es außergewöhnlich? Oder nur banal normal? Das Entree ist gut, die Beleuchtung stimmt, die Stühle, die Tischdecke vielleicht einen Tick zu sehr gestärkt – ich hätte mir seidigeres, glatteres Papier für das Hardcover aus dem Reclam Verlag gewünscht. Und ein Lesebändchen. Aber schon gleich kommen die Amuse-Bouches, die »Mundfreuden«, wie die Amuse Gueules als Grüße aus der Küche in den besseren Etablissements heißen, die »Gaumenträtzerle«. Bereits beim zweiten Vorwort-Absatz bin ich versöhnt – und weiß, es wird ein guter Abend werden. Noch habe ich keine Ahnung WIE gut.

Ich darf zitieren:

»Die herbe Süße eines Quittengelees, der erdige Geschmack einer Morchel oder die Klarheit einer Quellforelle – wer Freiheit kosten will, sollte sie sich nicht nur um die Nase wehen, sondern auch auf der Zunge zergehen lassen. Die Geschmacksknospen zu öffnen und die Sinne zu befreien von gesellschaftlichen Zwängen, gelingt ganz formidabel in Paris. Der französischen Hauptstadt werden nicht nur amouröse Tändeleien angedichtet. Paris verzückt auch die Papillen. Nicht der Blick geleitet die Flaneurin durch die Stadt, die Nasenflügel weisen den Weg, weiten sich für Gerüche und Aromen, die aus den zahlreichen Bäckereien und Rotisserien dringen. Unwillkürlich wendet man den Kopf den Schaufenstern zu, wo mit delikater Schokolade umhüllte Törtchen zum Verzehr locken, Fruchtspiegel aus Passionsfrucht und Himbeere auf Zuckergebäck in den Auslagen leuchten. Zu süß? Zu üppig? Ein Macaron, mit Jasmintee, Rosenblüten und Zitrusfrüchten aromatisiert, hat weder Marie-Antoinette noch der Flaneurin geschadet. Wenn man einmal davon absieht, dass die Nascherei die Gattin Ludwigs XVI. letztlich den Kopf kostete, etwas verkürzt formuliert freilich.«

Das sind die ersten zwanzig Zeilen im Buch. Sie wollen wissen, wie ein Buchtester das liest? Nun, schon gleich der erste Satz evoziert dem Genussmensch in mir drei konträre Geschmackserinnerungen, in sich völlig harmonisch: Quittengelee, Morcheln, Gebirgsforelle. Zudem wird meine Nase angestupst, die Zunge wässrig gemacht, dann werden die Sinne zur Befreiung aufgerufen und gesellschaftlichem Zwang darf und soll auch getrotzt werden. Paris, wir kommen. Von dieser Stadt haben wir Bilder im Kopf, Ute Cohen weckt auch unsern Geruchssinn, lässt uns die Stadtluft dort schnuppern.

Wir sind unterwegs zu einer Sinnes-Expedition, das machen diese ersten zwanzig Zeilen gaumenkitzelnd klar. Zwar ist gleich von vielen süßen Sachen die Rede – ist die Autorin etwa ein Schleckermäulchen? –, aber schon im dritten Absatz dann auch von Ambivalenz und Risiko und gesellschafts-philosophischem Gehalt: »Dass Gourmandise, hierzulande auch als Schlemmerei bekannt, Gefahr bedeuten kann für Leib und Leben, macht auch ihren Reiz aus. Die Exzesse der Herrschenden, das Darben der Armen und puritanische Verzichtspredigten befinden sich in einem Spannungsverhältnis, das die Gesellschaft auf eine Zerreißprobe stellen kann. Hinzu kommt die penible Vermessung jedweder körperlicher Reaktion. Bodymonitoring erfasst nicht nur den Puls, sondern vermisst auch Gefühle.»

Angst aber ist für Ute Cohen (immer) »ein schlechter Ratgeber intensiven Fühlens«. Gängeln lässt diese Autorin sich nicht, das hat sie, den eigenen Mißbrauch exorzierend im Roman »Satans Spielfeld« gezeigt, in Noirs wie »Poor Dogs«, in einem Gesprächsband mit Ingrid Caven, bei vielen Interviews (in dieser Ausgabe hier nebenan zu Menghan Wang und PINKIE SWEAR MOVIE; ihre Essays bei uns hier, sowie von ihr kuratiert die Culturmag-Specials SexMag und TabuMag.) Diese Autorin lässt sich nicht unterjochen. Freiheit ist ihr ein existentielles Thema, ihren Feminismus definiert sie selbst und auf den Metaebenen der Diskurse spielt sie vierhändig, innerlich stets frei. Experimentelle Gelüste und ästhetische Spielereien lässt sie nicht verbieten. Not your normal history of cooking, die uns hier erwartet. – Entsprechend amüsiert war Ute Cohen, als sie ihr Buch »Der Geschmack der Freiheit. Eine Geschichte der Kulinarik« in einer Buchhandlung bei den Kochbüchern eingereit fand.

Die Evolution der Küche und des Genusses, eben der Kulinarik, liest Ute Cohen – neben all ihrem eigenen, frankophil geprägten Erfahrungshorizont als Restaurantbesucherin, Köchin und Abschmeckerin – vor allem als geistesgeschichtliches Menue. Ernst Blochs »Geist der Utopie« sieht sie fröhlich durch die Küche wehen. Ihr Buch ist ebenso sinnlich wie politisch und philosophisch. Das macht es einzigartig. Gibt dem Wort »Küchenphilosophie« eine neue Bedeutung.

Ute Cohen denkt die Ideengeschichte der Aufklärung vom Gaumen her: »Was aber sind das Experiment und die Erforschung von Ich und Umwelt anderes als das Begehr nach Freiheit? Diese Freiheit, seit der Französischen Revolution Grundthema bürgerlicher Gesellschaften, ist schon zahlreichen Philosophen auf den Magen geschlagen, denn Revolutionen sind nicht nur politische Ereignisse. Sie vermögen auch die Welt, und mit ihr unser gesamtes Denken, Handeln und Genießen, aus den Angeln zu heben. Eine Rückkehr in die Unfreiheit scheint ausgeschlossen, und doch schwebt über Libertas stets ein Damoklesschwert, denn, das wusste bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel, eine freie Gesellschaft führt immer in die extreme Ungleichheit, wenn sich Freiheit nicht auf ihre historische Einbettung besinnt. Gleiches gilt für die Kulinarik. Zwischen Luxusrestaurants und Fast-Food-Buden kämpfen Mittelstandsgastronomen um ihre Existenz, da sie sich finanziell kaum mehr über Wasser zu halten vermögen. Inflation, Personalmangel, Mieterhöhungen – die Gastronomie ist kein Zuckerschlecken. Eine Rückbesinnung auf die historische Bedeutung der Restaurants als Kulturgüter, als Orte des gesellschaftlichen Austausches und des utopischen Denkens, könnte auch den Wirtschaftsbereich Kulinarik neu beleben und wachsende Unfreiheit ökonomischer Art verhindern.«

Und sie stellt sich die Frage: »Was aber bleibt von unserem kulinarischen Erbe, wenn Gastlichkeit und Geselligkeit, Miteinander und Genuss zersplittern in utopische Forschung und schnöde Massensättigung? Was passiert mit dem Paris der Flaneure und der Freiheit? Gibt es eine Resistenz und Resilienz kulinarischer Gelüste?«

Ihr kluges, kenntnisreiches, in all den Details verschwenderisch üppiges Buch versteht Ute Cohen als »eine Prise Pfeffer für die Freiheit«. Die hat für sie »einen verführerischen Geschmack… Die Lust am Denken wächst mit der Vielzahl an Genüssen«, ist sie überzeugt. Ihr Buch, das in 15 Kapiteln durch die Geschichte der Feinschmeckerei schweift, auch Unappetitliches und Exzesse nicht scheut, versteht sie als Buffet, von dem ganz nach Gusto zu naschen ist.

Und das funktioniert. Einzelkapitel wie »Restaurants als Hotspots. In aller Munde sein/ Restaurantkritik und kulinarische Gesprächskultur . Die Worte auf der Zunge zergehen lassen/ Der Boom der bürgerlichen Küche. Varenne, Carême und Escoffier/ Herzhafte und deftige Regionalküche . Zurück zu den Wurzeln! / Schaumschläger und Küchengötter. Metamorphosen in der Molekularküche/ Küchenkarrieren, Küchentragödien. Der Griff nach den Sternen/ Kulinarik und Erotik . Die Geschmacksknospen öffnen« oder »Der Geschmack der Kindheit. Märchenhafte Süße« lassen sich gut als eigener Hauptgang lesen. Von diesem Buch wird man lange satt.

Die eine Klippe, weswegen es mir vor diesem Buch etwas bange war, nimmt Ute Cohen mit eleganter Leichtigkeit. Ich hätte es wissen können, hatte aber die kleine, dumme Befürchtung, einer aufgewärmten Küchengeschichte à la À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen zu begegnen, dem Arthouse-Kinohit von Éric Besnard aus dem Jahr 2021, der darin das Entstehen der bürgerlichen Restaurants (historisch richtig) aus dem Geist der Französischen Revolution erzählt. Als recht braver und letztlich belangloser Film.

Das ist das Buch von Ute Cohen ganz und gar nicht. Wenn wir speisen, treffen wir eine Wahl. Die hier ist eine gute. Nehmen Sie Platz.

Alf Mayer

P.S. Weit mehr als die normale Lesetour mit einem neuen Buch ist das, was Ute Cohen zur Vor-Ort-Vorstellung ihres Werkes macht – sie nennt es Buch-Soiree, teils mit Spitzenköchen als Gast. Termine auf der Internetseite des Verlags. Hier die nächsten:

Sonntag, 8. September 2024, 19.00 Uhr – Brasserie Le Paris, Berlin
Freitag, 13. September 2024, 20.00 Uhr – The Knast, Berlin (mit Janina Atmadi)
Freitag, 20. September 2024, 19.00 Uhr – Gasthaus Zur Altmühlbrücke, 91710 Gunzenhausen
Freitag, 27. September 2024, 19.00 Uhr – La Belle France, Hamburg
Montag, 30. September 2024, 19.00 Uhr – Buchhandlung Almut Schmidt, Kiel (Moderation Hauke Harder)
Freitag, 25. Oktober 2024, 19.00 Uhr – Boutique Château Calissanne, Berlin
Donnerstag, 31. Oktober 2024, 19.30 Uhr – Buchhandlung Kapitel Zwei, Recklinghausen (Moderation Joachim Feldmann)

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