Geschrieben am 1. März 2023 von für Crimemag, CrimeMag März 2023

Wolfgang Brylla: Trend ist nicht gleich Trend

Auf der Vor-Hut

Neue „Trends“ im Krimi können uns kreuzweise. Denn was sind eigentlich Trends als nur bloße kurzlebendige Momentaufnahmen. Das Hauptproblem verschiedenster literarischer Wellen liegt in ihrer Zeitlichkeit. Und das ist sehr tricky, weil sie bestimmten gesellschaftlichen Anforderungen entspringen und gewissermaßen an Aktualität gebunden sind. Nach der Lektüre von Thomas Wörtches letztem Februar-Beitrag, in dem er mit unterschiedlichen crime fiction hypes hart ins Gericht geht und nach dem Zweck solch einer „tendenziellen“ Zuschreibung fragt, schien bei mir ein kleines Licht aufzugehen. 

Trend ist nicht gleich Trend. Es gibt (Achtung, folgende Auflistung ohne Anspruch auf Vollst­ändigkeit!): a) good trends, die als solche erkannt, wertgeschätzt werden und richtungsweisend etwas verändern können, b) unlucky good trends, die über solch eine schwache Durchsetzungskraft verfügen, dass sie zum Scheitern verurteilt sind und kaum im Mainstream andocken, c) bad trends, die zu Unrecht als literarische game changer oder sonst was gepusht werden, d) non trends, die sich aufs kulinarische Aufwärmen des alten Kohles spezialisieren und im Grunde im Gewand des scheinbaren Neuen schlichtweg altbackene Plumpheitsmuster weiter kolportieren. Trends sind vergänglich, sie können beurteilt, bewertet, kritisiert werden. Trends sind wie schlecht zusammengeschnürte aufgeblasene farbige Ballons: außen top, innen flop, denn von Tag zu Tag verlieren sie Luft.

Deswegen ist Thomas Wörtche zuzustimmen, wenn er nach seiner tour de crime novels folgendes Fazit zieht: „Halten wir uns also nicht mit den erledigten Fällen auf und schauen neugierig nach vorne“. Trotz dieses Zukunftsappels sei uns jedoch ein step back gegönnt, denn was würde passieren, wenn wir den oversize-Begriff „Trend“ (bzw. die terminologische heilige Dreifaltigkeit Trend-Tendenz-Mode) gegen den Begriff „Avantgarde“ ersetzen würden?

Bücher und Beiträge zum Thema literarische Avantgarde sind Legion. In unserem Zusammenhang wird sie jedoch nicht als Reformbewegung(en), die man aus Frankreich oder Russland Anfang des 20. Jahrhunderts kennt, definiert, sondern als Synonym der Veränderung, der Erneuerung, eines anderen experimentierfreidigen Weltbildes. Mit anderen Worten: als wirkliche „Vorhut“ (avant-garde), als ein Austesten von gesellschaftlich oktroyierten Grenzen sowie von festgefahrenen (oder an die Wand gefahrenen) literarischen Darstellungsformen. 

Die Avantgarde lässt sich so gesehen nicht als Bruch mit den geltenden Konventionen in thematischer Hinsicht verstehen. Vielmehr geht es bei der Avantgarde um den Versuch eines anderen Erzählens – um innovative (oder auch anderen Kunstströmungen oder Mediendiskursen entlehnte) Inszenierungsverfahren. Betrachte man die Avantgarde-Ästhetik aus der Sicht der Narrativität, zeigt sich, dass schon in der in den Kinderschuhen steckenden Kriminalliteratur Mitte des 19. Jahrhunderts ein großes avantgardistisches Potential steckte. Poes/Dupins erzählender Partner (die spätere Watson-Figur) gehört ebenso dazu wie die von Feuilleton geprägte Machart der Detektivromane Gaboriaus. In diese Entwicklungslinie reihen sich auch andere Klassiker der Vorkriegszeit ein z.B. Dickson Carrs locked-room-mysteries (obwohl diese bis zum Gehtnichtmehr überstrapaziert wurden), Christies mordender Ich-Erzähler, die verbale Schlagfertigkeit der hardboiled-Ermittler, die sich auch bei Chandler auf die szenische Textkomposition abfärbte, oder die intendierte Antiheroisierung Simenons, dessen konzise Kriminalromane auch als Entwicklungsromane gelesen werden könnten. 

Ein Wörtchen mitzureden hätten bei der kriminalliterarischen Avantgarde-Diskussion auch deutsche Autor:innen: Wasserman mit „Fall Maurizius“ oder Huch mit „Fall Deruga“, die dokumentarisch-journalistische Schreibweisen ganz im neusachlichen Sinne in die (Kriminal)Literatur integrierten und auf diesem Wege Semi-Pitavale zu Papier brachten. Als avantgardistisch (zumindest gattungsintern) lassen sich auch die Kontingenzerzählungen Dürrenmatts oder die als Pastiche angelegten Kriminalgeschichten Loests ansehen. Die entscheidende Rolle bei dieser Typologisierung spielt immer die Erzählkonstruktion, das Wie – die discourse-Ebene bei Paco Ignacio Taibo II (z.B. „4 Hände“), Mendoza („Eine leichte Komödie“), Haas (Stichwort: Jenseitserzähler) oder sogar Schenkel (parallele Multiperspektivität), Brack (Anlehnungen ans Exploitations-Genre) oder zuletzt Ruge mit ihrer format- und blockartigen Erzählart.

Avantgarde verliert jedoch ihren avantgardistischen Charme im Augenblick der Veröffentlichung, der Umsetzung theoretischer Konzeptionen in literarische Praxis; avantgardistisches Erzählen ist deshalb eine Eintagsfliege – von kurzer Dauer. Im Unterschied zum Trend liegt der Avantgarde kein Serialitätsfaktor zugrunde – und wenn Avantgarde mit schematischen Repetitionen liebäugelt, verpufft sie im Niemandsland der flüchtigen Tendenzen. 

Was dem Krimi des 21. Jahrhunderts guttun würde, wäre mehr Risikobereitschaft und Draufgängertum im Erzählerischen selbst, weniger belanglose Wiederholbarkeit, das „schon fast komische Festklammern an alten Zöpfen“ (Wörtche) und an alten Erfolgsrezepten, an denen sich weiterhin beispielsweise die TV-Krimi-producers halten. Es reicht nicht aus, einen binären Polizisten als Helden einzuführen und ihn mit einem konservativen Funktionär alten Schlags zu konfrontieren (wie neulich im Polizeiruf aus Frankfurt), im transsexuellen Milieu Rostocks zu ermitteln (wie neulich in einem anderen ostdeutschen Polizeiruf) oder eine afrodeutsche Hauptkommissarin  zu installieren (wie im Göttinger Tatort), um sich die Avantgarde-Parole auf die Fahnen zu schreiben. Avantgardistischer, obwohl immer noch dem Prinzip Realitätsnähe verhaftet, waren einige Murot-Tatort-Anspielungsfeuerwerk-Folgen („Das Murmeltier“ oder „Im Schmerz geboren“) und  Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ – vor fast schon fünfzehn Jahren – mit seiner besonderen Kadrage und Montagetechnik. Und es ist nicht überraschend, sondern nur folgerichtig, dass Graf nur eine Staffel gedreht hatte. Einige mutmaßliche Krimi-Trendsetter sollten sich deshalb an ihm ein Beispiel nehmen. Lieber den Verbrechensstoff nicht zu Ende zu erzählen, statt ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode zu erzählen. Bleibt auf der (Vor)Hut.

Wolfgang Bryllas Texte bei uns hier.

Echt (kein) Hammer. Wolfgang Brylla schaut zwei deutsche Serien
Marek Krajewskis Mock-Reihe. Epigone seiner selbst
Blofeld zum Trotz. Der sowjetische und ukrainische Kriminalroman
Alter Schwede – Nordic Noir
Der gestreamte Lupin – Ein Schatten seiner selbst
Böhmische Dörfer? – Über Krimis aus Tschechien.
Ein Hauch polnische Exotik
Crime fiction aus der Slowakei
„Vom Künstler des guten Sterbens

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