
Der gestreamte Lupin
Ein Schatten seiner selbst
Mannomann, die Arsène-Lupin-Fangemeinde jubelt vor Freude und steht kurz davor, mit Zylinderhut und schwarzem Mantelumhang Autokorsos durch Étretat zu organisieren. Maurice Leblanc scheint sich aber im Grab schon mehrmals umgedreht zu haben. Der Grunddafür liegt auf der Hand: die beiden Staffeln der neuen Netflix-Serie, die mit der literarischenVorlage in Wirklichkeit wenig bis gar nichts gemeinsam hat. Dieser (un)bewusste filmtechnische Kunstgriff kann als ein starkes Pro-Argument des Streaming-Lupin gewertet werden, andernteils auch als dessen größter Schwachpunkt. Die Abenteuer von Arsène Lupin, dem Gentleman-Verbrecher, erreichten schon Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich Kultstatus. Und Leblanc hatte mit dieser Bestseller-Reihe für sein Leben ausgesorgt. Die Franzosen haben allem Anschein nach, erinnere man sich an Rocambole, greife man tiefer in die Literaturgeschichte zurück, oder an Fantomas, eine unbestrittene Affinität für die Gesetzlosen, für Helden, die sich gegen das geltende Rechtssystem auflehnen.

Die Edelgaunerfigur von Leblanc, die 1907 das Licht der Welt erblickte, gehört zu der beliebten Sorte von Meisterdieben, in denen sich die Gesellschaft widerzuspiegeln glaubt, die jedoch gleichzeitig sich dessen bewusst wird, dass die Missetaten von Lupin und Konsorten schlicht und ergreifend sowohl gegen den Staat als auch gegen die Bevölkerung gerichtet sind. In solchem süffisanten und lustigen Ambivalenzdenken verfangen wird Lupin oder auch Raffles, der etwa um dieselbe Zeit entstand, die Möglichkeit gegeben, sich paradoxerweise in der durchgentrifizierten Welt zu behaupten und mehr oderweniger Wurzeln zu schlagen. Eine ähnliche Entwicklung beobachtet man später in den USA, wo während der Prohibitionszeit Gangsterbanden sich zu Nationalhelden mauserten und den Räuberpistolen Bonnie & Clyde von Hollywood fast ein kulturelles Denkmal gesetzt wurde.Die Anziehungskraft des Bösen bzw. des Unorthodox-Anarchischen ist halt zu groß.

Mit Lupin hat Leblanc solch einen französischen Nationalheroe konzipiert, obwohl die Erzählwelt selbst so künstlich und phantastisch rüberkommt, dass die Leserschaft nur mit Mühe sie als Realität deklarieren kann. Denn ebenso wie Lupin eine Art Kunstfigur ist,ebenso ist auch das Metier, in dem er gewaltlose Verbrechen verübt und wegen seiner Verwandlungsfähigkeit kaum zu überführen ist, von der wirklichen Welt abgekapselt. Lupin agiert nur in edlen Gesellschaftskreisen, mischt sich unter Adlige, mit Charme (ohne Schirm und Melone) macht er sich die Menschen gefügig, die er dann brutal ausnutzt und beklaut. Die Maskierungen und Verkleidungen Lupins als Polizist, Lehrer, Student etc. pp. reihen sich einerseits in die damals gängige literarische Praxis eines Conan Doyle, der seinen Sherlock Holmes ebenfalls fremd-kostümierte, andererseits unterstreicht unter artifiziellem Gesichtspunkt die belle époque einen Zeitraum der Unkenntnis, des Nicht-Wissens, was die Zukunft bringt, gleichzeitig jedoch ein Zeitalter der Veränderung. Lupins Maskeraden sind als solches Veränderungszeichen zu deuten – zumindest aus gesellschaftlicher Sicht. Aber auch narrativ kommt ihnen eine wichtige Funktion zu – auf einfache, ja fast schon triviale Weise helfen sie immer Lupin aus der Klemme.
Immer dann, wenn unser good guy-Gauner tief im Schlamassel steckt, braucht er husch husch in eine andere Rolle zu schlüpfen, um der Sackgasse zu entkommen. Deswegen brachte sich Leblanc schon zu seinen Lebzeiten den Vorwurf ein, mit Literatur Schindluder zu betreiben. Derselben Meinung war auch einer der größten Kenner der französischen Detektivliteratur, Ulrich Schulz-Buschhaus, der die Lupin-Romane als wenig„kunstvoll“ und kaum „interessant fesselnd“ bezeichnete, die man jedoch als „repräsentativste Trivialepopöe der imperialistischen Epoche“ in Erwägung ziehen könne. Mit den Lupin-Abenteuern werde die „Allegorie einer ehrgeizigen, zu umfassender kolonialer Herrschaftentschlossenen imperialen Nation“ verfestigt, so Schulz-Buschhaus. Na ja, darüber lässt sichstreiten. Dass jedoch parallel dazu – auch mit Blick auf das Maskeraden-Prinzip – dieselbe Allegorie von Leblanc mehr und mehr ins Lächerliche gezogen wird, darauf hebt Schulz-Buschhaus nicht ab.

Schade, denn Leblanc‘ Romane und Geschichten sind keine Detektiv-, sondern, wenn man so will, Abenteuerfälle, in denen das Hautaugenmerk und -interesse der Leser nicht auf das mysteriöse und zu enträtselnde Geheimnis gelenkt wird, sondern auf das Tun und Lassen bzw. Nicht-Tun und Nicht-Lassen des Hauptprotagonisten, auf dessen Kunst, sich mit Leichtigkeit in Schwierigkeiten zu bringen, um sich noch mit größerer Leichtigkeit aus der Bedrängnis zu retten. In den Lupin-Stories lässt sich ein humorvoller und humoresker Touch erkennen. Lupins Abenteuer sind mit einem Augenzwinkern zu betrachten als schelmischer(latenter) Versuch, ein Gegenstück zu englischer wie französischer Detektivliteratur zu liefern.
Leblanc parodiert Doyle mit seinem Detektiv-Außenseiter Holmes (HerlockSholmes), macht Anspielungen auf Gaboriau, Sue, Leroux oder Poe (Dupin – Lupin). Mit anderen Worten: die literarischen Eskapaden Lupins sind keinesfalls dem Trivialitätsfaktor geschuldet, stattdessen weisen sie auf einen narrativen Detektivkern hin, den sie auszuspielenwissen und teilweise auch verspotten. Dieser Hang zur vagen Auseinandersetzung miteingebürgerten medialen Formen fehlt dem Netflix-Lupin.Der Serien-Lupin des 21. Jahrhunderts wird gerne mit der modernen Version von „Sherlock“verglichen, dabei trennen beide Titel Welten. Dort, wo „Sherlock“ die Zuschauer mit unerwarteten cliffhanger-Momenten oder einer temporeichen flashback-Kameraführung zu amüsieren weiß, eben dort will Lupin mit einem klassischen, langatmigen Erzählen punkten. Der Schuss geht nach hinten los, denn die Handlung als Ganzes wird nicht durch ausgeklügelte Verwebungen und Ineinandergreifen von Einzelszenen zusammengeflickt, sondern durch die schauspielerische Leistung von Omar Sy alias Assane Diop alias Lupin.

Sy, immer mit einem Lächeln im Gesicht, immer für einen Streich gut, ist der einzige Lichtblick der Serie. Nur durch Sy kommt eine gewisse Komik zum Tragen, die allerdings vom Setting sofort torpediert wird. In einer Agatha-Christie-Manier wird eine Geschichte erzählt, ein Rätsel aus Diops/Lupins Vergangenheit muss entschlüsselt werden, das bis in die Gegenwart reicht und diese auch beeinflusst. Die Spannungskurve schreitet gemütlich vor sich hin wie einem verspäteten Regio-Express nach Cottbus, es gibt keine Aha- oder Wow-Effekte, alles ist übersichtlich und vorsehbar, nichts Besonderes. Und dazu noch wenig nachvollziehbar, weil das Filmscript ungeheuerliche Mängel und Ungereimtheiten an den Tag legt. Alles Beispiele aus einer bzw. zwei Folgen.
1. Diop schickt eine verschlüsselte SMS an seinen entführten Sohn, die ohne Kenntnisse der Leblanc-Lektüre nicht zu knacken ist. Mit der Antwort weiß er, dass er nicht mit seinem Sprössling, sondern mit dem Kidnapper kommuniziert, den er wenige Minuten später selbst anruft (!), um ihn zu informieren, dass er wisse, wo er sich versteckt habe. Wie unlogisch ist das denn bitte!?
2. Diop erhält schon wieder eine Kurznachricht, die diesmal an den Entführer adressiert ist, er möge sich im Hotel Soundso melden. Echt ein Geheimtipp… Ganz Paris weiß, dass an diesem Abend in der Luxus-Unterbringung eine fette Party vom Kulturbanausen, Millionär, Großaktionär,Großmaul und I’m-the-new-Tunichtgut Pellegrini (Hervé Pierre, der Kevin Spacey zumVerwechseln ähnlich sieht), dem Widersacher Diops, steigen wird.
3. In der Wohnung der Ex-Frau von Diop warten bewaffnete Möchtegern-Fremdenlegionäre, die beauftragt worden sind,Lupin zu schnappen. Da aber, suprise!, erbittet Claire (Ludivine Sagnier, bekannt aus einigenOzon-Filmen) nur ganz kurz mit ihrem befreiten Sohn vor der Wohnungstür, die sie zuschließt (!), zu sprechen, und flüstert ganz leise Diop zu, er möge sich aus dem Staub machen. Das hätten die Expendables in spe wirklich nicht erahnen können…

Auch bei Leblanc finden sich solche ins Auge stechenden Unstimmigkeiten, allerdings kommen sie im Erzählflow unter und werden auf diesem Wege kaschiert. Oder der Zauberkünstler Lupin wirft sich erneut in eine andere Schale und läuft allen davon. Der Lupin von Sy kann sich zwar ebenfalls tarnen (Putzkolonne, Geschäftsmann, Fahrradkurier), aber er sieht die ganze Zeit ganz genauso so aus wie vor der magischen Vermummung, was beimgenauen Hinsehen nicht verwundern kann. Diops akkurat eingerichtete Ein-Mann-und-Katze-Wohnung gleicht nämlich einem musealisierten Gruselkabinett mit Anzügen, Hüten und Gehstöcken aus der Zwischenkriegszeit, die ins Heute verfrachtet wurden. Bezeichnend ist, dass Diop von diesen Requisiten nie Gebrauch macht, sie dienen nur als Dekoration, was eigentlich ziemlich gut den Staffagencharakter der Serie wiedergibt.
Diop ist kein neuer Lupin, die Netflix-Produktion keine Leblanc-Verfilmung, was ja auch niemand behauptet hat, allerdings täte ihr ein Hauch von der typisch ulkigen Leblanc-Erzählweise gut. Dann müsste man sich nicht mehr im Vorfeld entschuldigen, wie im Untertitel der ersten Staffel, dass die Serie „im Schatten von Arsène“ stehe.

Wolfgang Bryllas Texte bei uns hier.
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