Geschrieben am 1. März 2020 von für Crimemag, CrimeMag März 2020

Ein Hauch polnischer Exotik – Wolfgang Brylla

Schändlicherweise ist die polnische Kriminalliteratur bei uns eher unbekannt. Wolfgang Brylla von der Universität Zielona Góra schafft Abhilfe.

Mitte März ist es wieder soweit, der neue Mróz kommt raus (Bis zum Ende). Deutschland-Premiere, der Moment, auf den alle Krimileser mit zitternden Händen und Hautausschlag gewartet haben… „Mróz? Welcher Mróz?“, werden Sie sich fragen. Obwohl Sie Hunderte Kriminalromane verschlungen haben und sich in der Szene prächtig auskennen, können Sie sich auf den polnisch klingenden Nachname keinen Reim machen. Mróz heißt übersetzt „Frost“, mit frostigen Verhältnissen bekamen wir es bis zu diesem Zeitpunkt meistens nur im nordic crime zu tun. Der polnische Frost sollte, zumindest in geographischer Hinsicht, der deutschen Leserschaft ein wenig vertrauter vorkommen, da es sich doch um ein Nachbarland handelt. Bilaterale Zusammenarbeit, Oder-Neiße-Region etc. pp. Der Schein jedoch trügt: von Polen und polnischen Kriminaltexten, mit denen wir uns heute befassen möchten, weiß der deutsche Durchschnittsliteraturkonsument ebenso wenig wie der polnische Otto-Normalverbraucher von der deutschsprachigen Literatur. An der Weichsel wird Goethe als großer Freund von Mickiewicz und Vertreter der Romantik angesehen. Dass beides nicht stimmt bzw. nicht ganz der Wahrheit entspricht – Wurscht. Das Desinteresse auf deutscher Seite resultiert allerdings nicht (nur) aus dem allgemeinen Wissensmangel, der Null-Bock-Mentalität und der klischeehaften Überzeugung „Die Polen haben doch nichts auf‘m Kasten“, sondern vielmehr aus dem Minus-Angebot von Polonia-Krimis, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Die Anzahl ist zwar leicht überschaubar, aber es gibt doch den polnischen Kriminalroman in Deutschland. Man gewinnt allerdings den Eindruck, dass er meistens nur von Fachleuten gelesen wird. Remigiusz „Frost“ Mróz zählt zu der Gruppe polnischer Krimischriftsteller, die es in den german crime mainstream geschafft haben. Ob zu Recht – darüber lässt sich streiten.

Mróz ist in Polen ein Phänomen. Seine Bücher gehen wie warme Semmel weg, die Taschenbuchausgaben seiner Thriller kann man sogar in Lebensmitteldiscountern – kein Witz – erwerben; er wird zur Krimiikone hochstilisiert. Mróz‘ Kriminalromane werden mit Spannung erwartet, obgleich sie mit Spannungserzeugnis oder Suspense im Hitchcock-Stil wenig bis gar nichts gemeinsam haben. Im zarten Alter von 33 Jahren hat Mróz über 25 (!) Romane veröffentlicht, über die Hälfte davon wurde zum Beststeller. Unter dem Pseudonym Ove Løgmansbø verfasste er darüber hinaus die sog. Färöer-Trilogie (mit scandinavian flair), mit der er weniger dem schwedischen, dänischen etc. Krimi Tribut zollte, vielmehr an dessen überdimensionalem Verkaufserfolg mitpartizipieren wollte.

Mróz arbeitet im Formel 1-Tempo, er braucht den Speed und will ihn auch den Lesern vermitteln. Ein Leistungspensum, bei dem sich sogar Edward Wallace vor Neid im Graben umdrehen müsste. Die hohen Auflagen und ein überragendes Titelportfolio reichen jedoch zur Vergabe des Qualitätssiegels bei Weitem nicht aus. Mróz und Wallace sind sich nicht nur im Hinblick auf ihre Arbeitsquantität ähnlich. Beide schreiben/schrieben ‚Reißer‘, ein Begriff, der heutzutage in Vergessenheit geriet. Reißer waren ursprünglich Bücher, die einen mitreißen sollten. Mróz‘ Reißer huldigen aber eher dem Zerreiß-Konzept: es sind (vorwiegend) Bücher zum Zerreißen, zumindest aus zwei Gründen.

1. Erz­ählebene:

Mróz bevorzugt einen allwissenden Erzähler. Dies selbst ist keine Neuigkeit in der Kriminalliteratur, aber Mróz‘ Erzählinstanz, egal welchen Standpunkt sie annimmt und durch welche Filter sie das Erzählte wiedergibt, zeichnet sich durch ein latentes Besserwissertum aus, das auf Dauer einfach nur nervig erscheint. Die szenisch-dramatische Handlungsführung, der häufige räumliche Szenenswitch, unterstreichen die Handlungsgeschwindigkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite zementieren sie die aus vielen Fragmenten zusammengestückelte Handlungsoberflächlichkeit. Mróz verweigert dem Leser einen präziseren Blick in die Plottiefe. Durch solche Oberflächenorientierung wird bei Mróz ein Schematismus generiert, der als solcher nichts Schlimmes sei, aber in der frostigen Erzählwirklichkeit zum Über-Schema wird. Mróz‘ Helden und Handlungsnebenzweige sind austauschbar; ausgewechselt werden sie nicht erst in der 60. Minute nach dem Gegentor, sondern noch vor dem Anpfiff. In Christie-Manier, auf die klassische britische Häkelkrimikonvention schielend, können einzelne Erzählbausteine umgetauscht, andere wiederum werden gänzlich zur Seite geschoben werden. Der allgemeinen Krimikonstruktion tun solche operativen Eingriffe am Organismus keinen Abbruch; die Oberfläche ist ein Garant für die permanente Oszillation der kriminellen Körperteilchen. Versucht Mróz die Erzählkonfiguration zu modifizieren wie in Hashtag, in dem mithilfe von partiellen Rückblicken (Rückblick ist Rückblick ist Rückblick – die Retrospektive-Dauerschleife will nicht aufhören) zwei Parallelgeschichten aufgetischt werden, die theoretisch miteinander verflochten sind, scheitert er auf ganzer Linie.

2. Sprache:

Vergleicht man die deutsche Übersetzung mit dem polnischen Originaltext, würde man kaum vermuten, dass es sich im Falle von Die kalten Sekunden (bei Rowohlt) um ein und denselben Krimi handelt. Hut ab vor den Übersetzern Marlena Breuer und Jakob Waloszczyk, die den Mróz-Text in qualitativ-sprachlicher Perspektive gerettet hatte. Sogar den latenten Impetus von Mróz, „Ich will auf Avantgarde machen“, der bei ihm jedoch nicht auf Action und atemberaubende Ungewissheit getrimmt ist und im Grunde keine postmoderne Schreibstilistik mehr ist, sondern eine billige Kopie u. a. von Boileau/Narcejac oder Val McDermid, wirkt in der deutschen Fassung nicht so störend wie in der polnischen. Wenn literarische Texte ihre eigene Mee-Too-Bewegung bilden könnten, hätten Mróz‘ Krimis große Chance auf den Vorsitz. Was er mit der Sprache ver(un)staltet, lässt sich nur als Sprachmissbrauch oder Sprachkarikatur abtun. Den Roman Behawiorysta [Behaviorist], der hier stellvertretend für alle anderen Mróz‘ Thriller genannt werden soll, kann man ruhigen Gewissens nach drei Seiten wieder zuklappen und, möchte man sich intellektuell auspowern, lieber dem wilden Treiben der C-Promis im australischen Dschungel zugucken.

In Polen ist Mróz auf Massenerfolg abonniert, in Deutschland halten sich die Verkaufszahlen in Grenzen. Die Causa Mróz, abgesehen von den narrativen wie poetischen Defiziten seiner Romane, stellt einmalmehr die generelle Tendenz unter Beweis, einen großen Bogen um die polnische Kriminalliteratur zu machen. Mróz & Co. werden als Exoten wahrgenommen, als Schriftsteller aus einem Krimi-Niemandsland, die nichts anzubieten haben.

Dabei wohnt vielen polnischen Texten, ließe man die polnischen Nachnamen, Städte oder historischen Querverweise usw. weg, ein internationales Diktum und Potential inne. Die story ist meistens modern gestrickt und zieht im Wettbewerb mit den ganz Großen der Branche keinesfalls den Kürzeren. Polnische Krimis werden nicht rezipiert, weil die Annäherungsversuche immer noch von Stereotypen getragen und geprägt werden. Von Olga Tokarczuk haben die meisten vor ihrem Nobelpreis auch nicht gehört. Literatur, die aus dem Osten kommt, wird nicht – das wäre schon was! – mit Argusaugen beobachtet, sondern missachtet und auf diesem Wege nur selten übersetzt.

Polen & Krimi?

Bei der Fragestellung ‚Polen und Krimi‘ schüttelt man den Kopf. Auf eine umfangreiche Krimitradition können die Polen nicht zurückblicken – Anfang des 20. Jahrhunderts gab es englische und französische Importe, die dem lokalen Literaturmarkt ihren Stempel aufdrückten und zur Herauskristallisierung des polnischen Sherlock Holmes beitrugen. Nach 1945 dominierte in der damaligen Volksrepublik der vom Staat finanziell subventionierte und geförderte Milizkrimi: ins Zentrum stellte man einen Polizisten (in Polen: Milizist, ein polnischer Volkspolizist), der den Verbrechern auf die Spur kommen sollte, die unterm Einfluss des westlichen Kapitalismus standen und mit ihren Taten ein Geschwür am sozialistischen Körper waren. In der sozialistischen Gesellschaft durften doch von gutmütigen Sozialisten keine Schandtaten verübt werden. Und wenn schon jemand gegen das Gesetz verstieß, dann wurde er meistens vom Ausland motiviert. Die mit Hammer (und Sichel) eingetrichterte Didaxis, der sozialistische Erziehungsansatz, waren keine Besonderheiten des polnischen Milizkrimis, sondern lassen sich auch im DDR-Krimi identifizieren.

Aus heutiger Sicht gelesen, ein Auge auf das pädagogische Diktat zudrückend, erweisen sich die Krimis von Jerzy Edigey oder Anna Kłodzińska und wie sie alle heißen höchstinteressant, denn sie archivieren eine Grundstimmung, ein soziales Klima der sozialistischen Planwirtschaftsrhetorik, in der es kein Gestern gab und das Heute in weite Ferne rückte. Man könnte sogar von Sitten- oder Zeitkrimis sprechen.

In den 1990er Jahren, nach der Wende, verschwand der polnische Krimi in der Versenkung. Es wurden fast keine Krimis produziert und die, die geschrieben wurden, fielen dem Kapitalismusprimat zum Opfer – man legte hauptsächlich englische und amerikanische Romane auf. Der Resonanzboden der polnischen Literatur war in der damaligen Zeit sowieso dünn. Erst mit Marek Krajewskis Tod in Breslau beginnt 1999 das Jahrzehnt des polnischen Krimis, ein polnisches Golden Age. Paradigmatisch ist, dass Krajewski mit seinen Mock-noir-Romanen den Lesern keine Gegenwartsliteratur kredenzte, sondern eine Form von Geschichtskrimi, dessen Haupthandlung im deutschen Breslau der Zwischenkriegs- und Kriegszeit angesiedelt war. Ein Tabubruch, denn zum ersten Mal wurde in der populären Literatur (was ist das? was ist das?) die deutsche Vorgeschichte der Odermetropole problematisiert und somit dem Piasten-Mythos ein Schnippchen geschlagen. Das kommunistische Gerede von den schlesischen „wiedergewonnenen Gebieten“, die doch keine waren, das Beharren auf der polnischen Genese der Stadt Wrocław/Breslau wurde auch dank Krajewski angezweifelt. Auf das Vergangenheitsnarrativ Krajewskis sprangen auch schnell deutsche Verlage, zum einen weil sich an der Jahrhundertwende die Nostalgie-Stimmung bzw. -Kultur ausbreitete, zum anderen weil Krajewski für viele Deutsche von der verlorenen schlesischen Heimat schrieb. Dabei ist das Erzählkorsett Krajewskis so einfach und klar wie eine blutige Kloßbrühe. Man nehme eine verruchte Großstadt, die man zu einem der Haupthelden hievt (Breslau: check!), einen noch verruchteren Marlowe-Detektiv (Mock: check!), verpacke alles im dekadenten Umschlag der Goldenen Zwanziger mit ihrem Hang zum… Verruchtsein, Esoterik und Eskapismus (check! check! check!). Ratz fatz, fertig ist ein Krajewski-Krimi, der trotz seiner Schablonenhaftigkeit und seines Seriencharakters, trotz einiger Plotwiederholungen, eine gewisse literarische Duftmarke zu setzen wusste, und deshalb sich großer Beliebtheit erfreute. Krajewskis erste Mock-Reihe wurde zum Glück ins Deutsche übersetzt, er was das Zugpferd des polnischen Krimis. Dank ihm fing man an, sich mit anderen Autoren zu beschäftigen – na ja, sagen wir, bis zu einem gewissen Grad.

Der Prospero Verlag hat in sein Programm zwei polnische Schriftsteller aufgenommen. Mariusz Czubaj, Kulturanthropologe aus Warschau, hat mit seinem Hauptprotagonisten, dem mit persönlichen Problemen zu kämpfenden Profiler Rudolf Heinz aus Kattowitz (er pendelt jedoch stets zwischen Oberschlesien und Warschau), sozusagen einen Prototyp des polnischen Ermittlers des neuen Millenniums erfunden. Denn, so der Trend, werden in den meisten polnischen Kriminalromanen keine Detektive oder Kommissare installiert, sondern Quasi-Spürhunde wie eben Analytiker oder (Staats)Anwälte (Perry Mason lässt grüßen), die der Polizeiinstanz zu Hilfe eilen, eher unverschuldet und zufällig in die Untersuchungen geraten und sich dabei selbst der Gefahr aussetzen, indem sie zum Widerpart, zum Feind des Täters Nonplusultra werden. Dargestellt werden wahre Ermittler-Verbrecher-Fights, die ein wenig an das konservative Erzählmuster von Mastermind und Masterdieb erinnern mit dem Unterschied, dass man jetzt, vor der großstädtischen Handlungskulisse, einen größeren Wert auf die Action-Komponenten legt; es kommt zur Anhäufung von Spannungselementen, es wimmelt nur so von Leichen. Czubaj wurde für seinen Roman 21:37 mit dem wichtigsten polnischen Krimipreis, mit dem Großen Kaliber, ausgezeichnet. Zunächst arbeitete er jedoch mit Krajewski in einer Schriftsteller-WG zusammen, mit dem er zwei Romane zu Papier brachte. Als sich der Prospero Verlag für Czubaj entschied, gehörte er schon zu der polnischen Champions League des crime, deswegen ist es nicht verwunderlich, dass man sich von ihm einen moderaten Leseerfolg versprach. Seine Krimistories definieren sich über einen starken Gegenwartsbezug, dieser kann sowohl politischer oder kultureller Natur sein. Vor allem in puncto Massen- und Popkultur wissen sie zu überzeugen, mit ständigen Referenzen auf Musik, Literatur und Trashphänomene der Zeit. Den deutschen Leser können jedoch die unterschwelligen, nicht genauer erörterten Hinweise auf polnische VIPs stören, da sie nur fest verankert in der polnischen Medienlandschaft sind.

Außer Czubaj wurde auch Izabela Szolc aufgelegt. In Polen wird sie als Nischenautorin gehandelt, ist den meisten unbekannt, und wennschon als Phantasy-Erzählerin. In Ein stiller Mörder und So dunkel die Nacht spielt eine Warschauerin Hauptkommissarin die Schlüsselrolle, die unter einer Depressionen und traumatischen Erlebnissen leidet und darum bemüht ist, das Private mit dem Beruflichen unter einen Hut zu bringen. Szolc interessiert sich für das brutale sexuelle Verbrechen auf einer Metaebene, in den Fokus rücken dabei die Fragen nach der Alltagsbewältigung, wie man als Frau in der maskulinen von Testosteron vollgepumpten Welt bestehen soll. Zu klassifizieren wären Szolc‘ Romane als feministische Krimis, die aus dem weiblichen Blickwinkel erzählt werden und somit ein völlig neues Themenpanorama offenlegen.

Der Feminismus-Doktrin bleibt auch Katarzyna Bonda – mein Name ist Bonda, Katarzyna Bonda – verhaftet. Sie wird als Popstar der Krimiszene gefeiert, die Boulevardpresse reißt sich um Interviews mit der „Königin des Kriminalromans“ (so der Epitext auf den Buchumschlägen), bei den Autorenlesungen sind die Bibliothekssäle meistens überfüllt. Im Publikum sitzen nicht nur Frauen, es finden sich viele Männer darunter. Aus ihren feministischen Anschauungen macht sie keinen Hehl, in den Romanen selbst erleben sie eine Reinkarnation in der Figur der Profilerin Sasza Załuska, einer tough women. Den Männern ist sie um Nasenlängen voraus, stürzt sich in die Arbeit, geht volles Risiko. Andernteils revidiert sie als alleinerziehende Mutter das in Polen fest eingebürgerte altbackene Frauenbild und plädiert somit für ein neues soziales Familienmodell. Auch mit Blick auf den historischen Diskurs war Bonda imstande, Akzente zu setzen: an der polnisch-weißrussichen Grenze geboren, mit dem dortigen Geschichtsverständnis aufgewachsen, sich in diesem orthodox-katholischen, bikulturellen Schmelztiegel auskennend, greift sie bspw. in Der Rat der Gerechten (bei Heyne) die Problematik der żołnierze wyklęci (der verfemten Soldaten), die den Geschichtsschulbüchern im besten Fall nur eine Randnotiz wert ist, und offenbart die Grauen des Weltkrieges und dessen Folgen, für die nicht nur die Anderen, sondern auch die Einheimischen – sprich: Polen, die viel auf dem Kerbholz haben – die Verantwortung tragen. Im PiS-Land ein Wagnis. Bonda warf man sogar vor, ein „antipolnisches Buch“ geschrieben zu haben.

Ein ähnliches geschichtsverifizierendes Erzählkonzept findet sich bei Zygmunt Miłoszewski wieder, der mit dem Staatsanwalt Teodor Szacki in Sandomierz auf Geschichts- und Verbrecherjagd geht. Miłoszewskis Szacki-Abenteuer lassen sich weniger als Geschichtsromane einstufen, vielmehr als Gegenwartskrimis auf historischen Grundlagen. In der Rückwendungstechnik wird in Ein Körnchen Wahrheit (bei bvt) die Vergangenheit beschrieben, die an das Jetzt anspielt. An den Pranger wird der polnische Antisemitismus des 21. Jahrhunderts gestellt, den es, so das offizielle Narrativ, nicht gibt. Nach den Entdeckungen von Jedwabne und dem Film Pokłosie von Władysław Pasikowski, der sich ebenfalls diesem Problemfeld zuwendet, ist Miłoszewskis Krimi ein Aufruf zur Aufarbeitung der wenig ruhmreichen polnischen Geschichtskapitel und zur Korrektur der auf Legenden basierenden Selbstwahrnehmung. Das Verbrechen ist bei Miłoszewski kein exorbitantes, die Ermittlungen verlaufen routinemäßig und können dem Leser keine Aha- oder Wow-Effekte servieren; seine Krimiwelten profilieren sich eben durch einen historischen step back, der vor dem Hintergrund der aktuellen Politik gedeutet werden könnten und somit zum Mahnmal werden.

Einen deutschen Verleger (List) fand auch Tomasz Konatkowski, Autor von leider nur fünf Kriminalromanen, die Warschau zur Handlungskulisse haben. Die polnische Hauptstadt wird von Konatkowski nicht nur als Verbrechensraum narrativ in Szene gesetzt, sondern sie wird neben dem ermittelnden Kommissar Adam Nowak zu einem der Hauptakteure. Nowak sprintet durch die Stadtbezirke wie Usan Bolt nach dem Weltrekord, lauert den Tätern auf, leistet gute Polizeiarbeit, aber irgendwie ist er ständig einen Schritt zu spät. In seinen Stadtkrimis, zugespitzt könnte man sagen, in den einzigen ‚wahren‘ polnischen urbanen Kriminalromanen, beleuchtet er – wie Szolc – das ins Wanken geratene Privatleben Nowaks und hinterlässt – wie Czubaj – an vielen Textstellen unterschiedliche popkulturelle (in der Regel: musikalische) Spuren. Durch die Connection von Privat und Öffentlich wird das Stadtporträt von Warschau als moderner (Ost)Metropole vervollständigt.

So weit, so gut. Wenn die obige Überschau nicht täuscht, dann sind andere polnische Krimiautoren auf dem deutschen Büchermarkt nicht in Erscheinung getreten. Im Prinzip also, lasse man Mróz außen vor, wurden fast alle relevanten Romane aus den letzten zwei Dezennien übersetzt. Fast alle, denn für das Duo Marcin Wroński und Ryszard Ćhwirlej haben sich die deutschen Verlagshäuser bis dato nicht begeistern können, obwohl beide sowohl einen literarturästhetischen als auch zeitgemäßen, leicht ironischen Erzähldrive drauf haben. Nach neun Retro-Krimis hat sich Wroński vor kurzem von seiner Lublin-Reihe verabschiedet; er gilt neben Krajewski als wichtigster Autor von Geschichtskrimis, die zwar in den 1920er, 30er und 40er Jahren in der ostpolnischen Großstadt mit ihrer Multi-Kulti-Gesellschaft (Polen, Juden, Russen, Deutsche, Orthodoxe, Katholische) spielen, aber stets vor der Gegenwartsfolie gelesen werden müssen.

Ähnlich wie Miłoszewski setzt sich Wroński immer wieder mit den polnischen Geschichtsmythen und dem polnischen Märtyrertum auseinander, zusammen mit seinem Polizeikommissar Zygmunt Maciejewski, der mal für die polnischen Machthaber, ein anderes Mal für die NS-Besatzer arbeitet (Hauptsache durchkommen!), weiß er gekonnt durch die dunklen Geschichtskorridore zu navigieren und ein neues Licht auf die historische Mythologie zu werfen. Auf die Labyrinth-Metapher greift Wroński, einst Polnischlehrer, stets zurück, auch mithilfe von Franz Kafkas Der Prozess, den Maciejewski sich im Original zu Gem­üte führt. Maciejewski ist ein verirrter nach Gesetz und Gerechtigkeit suchender Joseph K., dessen Bestrebungen in gesetzlosen Zeiten zum Scheitern verurteilt sind. Auch wegen des Kafka-Bezugs kann man im Hinblick auf die Lublin-Krimis von philologischen Romanen sprechen. Jeder Satz von Wroński sitzt, jeder Satz steht nicht für sich allein da, sondern ist ein Bestandteil einer längeren logisch-kausalen Motivkette. Wenn man so will, ist Wroński das Gegenpendant zu Mróz.

Mit Ćwirlej schickt die  polnische Literatur einen Schriftsteller ins Rennen, mit dem man die Gefilde des hochgestochenen literarischen Ernstes verlässt und im Hafen des Komischen andockt. Ćwirlej wird als Wiederentdecker des Milizkrimis (Neo-Milizkrimi) bezeichnet, dessen Erzählstrukturen er jedoch über den Haufen wirft und ideologische Hauptaussagen durch seine slapstick-Ironie konterkariert. In seinen Posen-Krimis aus den 80ern kommt ein A-Team von polnischen Vopos zum Einsatz, die weniger dem Verbrechen als vielmehr der sozialistischen M­ängel-Realität die Stirn bieten müssen. Die Komik ergibt sich bei Ćwirlej nicht nur aus den Situationen, in die seine Figuren hineintappen, sondern auch aus dem Erzählerkommentar. Mit leichter Feder skizziert Ćwirlej das Alltagsleben in Polen nach Lech Wałęsa und dem verhängten Kriegsrecht, indem er die Kuriositäten ins Lächerliche zieht, die politischen Oberhäupter auf die Schippe nimmt und somit die Klassen-Volksrepublik, wie schon Stanisław Bareja in seinen Filmkomödien, entzaubert. Für die deutsche Leserschaft könnte Ćwirlej als guter Geschichtsvermittler fungieren, der auf eine lustige Art und Weise auch das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen auf der (menschlichen) Mikro-Ebene schildert. Es geht natürlicherweise um Autoklau, aber auch um Devisenhandel und kleinkapitalistische Geschäfte. Mit anderen Worten: um Polen kurz vor dem Systemwechsel.

Last but not least: ein Krimi, mit dem die Genießer der Gattung in Berührung kommen müssten, soll noch Erwähnung finden. Leopold Tyrmands Zły wurde zwar in den 1950er Jahren bei Ullstein veröffentlicht (Der Böse), aber bis heute nicht neu aufgelegt. Ein Kapitalschaden, denn Tyrmand hat mit seinem kriminellen Warschau-Epos keinen Roman geschrieben, sondern ein Stück Literaturgeschichte. Der 600-seitige Wälzer ist eine Mischung von Zeitungsreportage, Filmdialogen, Stadtführer und politischem Manifest. Dargestellt wird eine Stadt, die pausenlos an ihre verheerende Geschichte erinnert wird, aber sich gleichzeitig mit Wagemut und Optimismus an die Beseitigung der Kriegstrümmer macht. Die Wiedergeburt Warschaus ist dabei auf Engste mit dem Kriminalitätsanstieg wie mit der Herausbildung des verbrecherischen gangstermäßigen Undergrounds verknüpft. Ob sich Tyrmands Zły den Legendenstatus, der ihm angedichtet wird, verdiente, sei dahingestellt – die Langatmigkeit der diversen Handlungswege oder die stets sich wie aus einem Reagenzglas vermehrende Figurenschar können tatsächlich die Lektüre beeintr­ächtigen, aber den Gesamteindruck trüben sie nicht. Der Böse bleibt böse.

Ok., was ist nun mit dem polnischen Kriminalroman? Am einfachsten wäre es, an die Verleger zu appellieren: come on, öffnet Euch dem Nachbarn! Nebenbei, denselben Aufruf müsste man an die Leser starten: come on, öffnet Euch dem Nachbarn! Im Übrigen: dies gilt auch für die Polen, denen außer Charlotte Link und Elisabeth Herrmann nur noch zuletzt Volker Kutscher ein Begriff sind. Was tun? Scheuklappen ablegen. Exotik bleibt solange exotisch, bis man sie näher kennenlernt. Erst dann kann über den Mehrwert und die Tauglichkeit des Krimis von nebenan entscheiden. Crime Dir Deine Meinung.

Wolfgang Brylla – er brüstet sich damit, mit 8 Jahren „Winnetou“ gelesen zu haben. Was für ein Teufelskerl. Zwinkersmiley. Von Thomas Mann hält er wenig, von Krimis aber viel. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer polnischen Universität verpfändet er derzeit Forschungsgelder für den Einkauf von Kriminalromanen. Sternzeichen: Skorpion.

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