Geschrieben am 1. März 2021 von für Crimemag, CrimeMag März 2021

Wolfgang Brylla über crime fiction aus der Slovakei

Slowakisch, praktisch, unbekannt

Ach ja, die Slowakei. Škoda, ein kaltes Budweiser Pils, das Sudetenland. Echt, wirklich ein sehr schöner Landfleck hinter der deutschen Ostgrenze. Aber… Nö, da passt was nicht zusammen. Warte, warte, wie war das nochmal. Ja, stimmt, der Octavia ist tschechisch, das Bierchen auch und im Erdkundeunterricht muss ich wieder eingepennt sein. Es ist erdrückend, wie wenig man über die Slowakei weiß. Und noch peinlicher ist, dass man sie immer wieder mit Tschechien verwechselt. Dasselbe gilt für den slowakischen Kriminalroman. Die tschechische und slowakische Literatur werden in einen Topf geworfen. Ein No-go, das Konsequenzen für die Mainstream-Wahrnehmung hat. Versuchen wir uns deshalb der zeitgenössischen slovakian crime fiction zu nähern und ihr Tribut zu zollen. Ran an den Speck.

Crashkurs in slowakischer Geschichte

Am Anfang wenige wichtige Ereignisse aus der langen Geschichte der Slowakei und Besonderheiten, mit denen man auf einer Aftershow-Schampus-Standing-Party glänzen kann und die später vielleicht bei Günther Jauch gut zu gebrauchen sind. Über tausend Jahre stand die Slowakei unterm ungarischen Joch. Nach dem sinnlosen Großen Sterben des Ersten Weltkriegs wurde zusammen mit den Tschechen – shaking hands – nicht ohne Reibereien die Tschechoslowakei gegründet. In den 1940er Jahren verbreiteten dort die Nazis mithilfe des katholischen Lokalmatadors und Hitler-Jüngers Jozef Tiso Angst und Schrecken. Nach 1945 wird die Neugründung des gemeinsamen Zweivölkerstaates proklamiert – jetzt unter der „Aufsicht“ des sowjetischen Bruders, der das Geschehen zwischen Prag und Bratislava mit Argusaugen beobachtet. Mit der Wende 1989/90, die in der Tschechoslowakei erst 1992/1993 vollzogen wurde, kommt es zur Trennung. Ins Leben werden zwei autarke und autonome Staaten gerufen: im westlichen Teil Tschechien, im östlichen die Slowakei, deren Nationalheld Milan (hat nichts mit Fußball zu tun…) Rastislav Štefánik heißt und deren Nationalsymbol der Kriváň, ein imposanter Berggipfel im Tatra-Gebirge, ist.

Was noch? Die Slowakei ist vor über 15 Jahren der EU und NATO beigetreten, 2009 wurde der T-Euro eingeführt. Außerdem verfügt sie über eines der umsatzstärksten Wirtschaftssysteme des Abendlandes, gehört zur Weltspitze im Hockey und stellt mit Peter Sagan einen dreimaligen Straßenweltmeister im Radsport auf. „Hulk“, wie man ihn im Fahrerfeld nennt, hat schon mehrmals für Schlagzeilen gesorgt: einmal begrapschte  er auf dem Podium eine Hostess am Hintern. Nicht unbedingt die feine britische Art. 

Blickt man auf die literarische Landschaft der Slowakei, so ist man erstaunt. Nicht darüber, dass es sie – für viele ein Aha-Effekt – gibt, sondern darüber, dass man davon nicht viel mitbekommen hat im Gegensatz zu Tschechien. Vor allem im 19. Jahrhundert, als der Realismus Hochkonjunktur feierte, war die slowakische Literaturbühne durch prominente Namen vertreten. Ján Kollár gilt als Mitentdecker bzw. Mitgründer der sich damals konstituierenden tschechoslowakischen Schriftsprache, Pavol Országh Hviezdoslavs Hájnikova žena (1886) gehört zu dem Must have jedes gutgebildeten slowakischen Bürgers – leider wurde sein Hauptwerk ins Deutsche nicht übersetzt, was schon an sich eine Affenschande ist. Im Zeitalter des realexistierenden Sozialismus machten solche politischen Autoren wie Ladislav Mňačko oder Ladislav Novomesky auf sich aufmerksam, die somit ins Visier des kommunistischen Machtapparates gerieten. Zu den populärsten Schriftstellern der Gegenwart zählen der schon verstorbene Vincent Šikula und ein Mann, für den wir überhaupt diese lange Einführung brauchen, Dominik Dán, der in Wirklichkeit anders heißt. Wie? Das wäre ein Fall für dessen Haupthelden, den Polizisten Richard Krauz.

Mein Name ist Dán – oder auch nicht

Denn Dominik Dán ist ein Pseudonym von einem immer noch – so munkelt man – bei der Polizei tätigen Kommissars oder von einem im September 2020 entlassenen Mitarbeiter des Innenministeriums. Eins von beiden kann man sich auswählen… Ob dessen Geburtsjahr 1955, das auf den Buchumschlägen angegeben wird, der Wahrheit entspricht, sei zu bezweifeln. In der Slowakei brach von ein paar Jahren sogar eine medial geführte Diskussion aus, die entschlüsseln sollte, ob es sich im Falle von Dán nur um EINEN Autor oder um ein ganzes Autorenteam handelt, das die Kriminalromane quasi im Akkord zu Papier bringt. Dominik Dán ist ein Vielschreiber. Die Leserschaft kann sich jährlich über zwei neue Titel freuen. Weil Dán ein immens hohes Arbeitstempo an den Tag legt, war es auch legitim nach der Identität hinter der Pseudoidentität zu fragen. Ergebnis: kein Ergebnis, ein großes Fiasko. Einzelheiten oder biographische Details aus Dáns Privatleben – nach dem Motto: wer bist du und wenn ja, wie viele? – sind nicht aufgetaucht, man verstreut nur Gerüchte, die allerdings das Rätsel um die ID des Autors statt zu lüften nur weiterhin verschleiern. Eine typische Nebelkerze also.

Dominik Dán ist der große bekannte Unbekannte der slowakischen Kriminalliteratur. Im Grunde ist er das namenlose und schwer zu fassende Gesicht des slowakischen Krimis. Vom russischen Beststellerautor Boris Akunin (ebenfalls ein Pseudonym) existieren Fotos und Interviews, vom polnischen king of crime Marek Krajewski kann man sich Bücher signieren lassen, von Dominik Dán hat man nur seine Romane. Keine öffentlichen Lesungen, keine Autorentreffen. Nix, null, nada. Allerdings tut diese Geheimnistuerei der Krimiszene und dem Bücherabsatz gut. Die Marke Dán wurde zum Qualitätssiegel des slowakischen Kriminalromans, zum Orientierungspunkt, an dem sich alle anderen Neueinsteiger gezwungenermaßen messen müssen. An Dán führt zwischen der Hohen Tatra und den Karpaten kein Weg vorbei. Auch nicht auf Umwegen über Tschechien… 

Romane über DIE Slowakei

Dáns Erstling erschien im Jahr 2005. Und schon in seinem Debütroman Popol všetkých zarovná (wörtlich: Die Asche gleicht alle aus) setzte Dán erzählerische Duftmarken, an denen man auch blind, ohne auf das Cover zu schauen, den spezifischen Dán-Style erkennen kann. Auf der Handlungsebene begibt er sich nämlich in die slowakische bzw. tschechoslowakische Vergangenheit, aber diese historischen Rückbezüge reichen nur in die zweite Hälfte der 1980er Jahre zurück. Alle Kriminalfälle, die Dáns Ermittler Krauze lösen muss – auffallend sind die deutschklingenden Nachnamen von anderen Polizeibeamten aus dem Morddezernat wie Fischer oder Hanzel, die auf die Multiethnizität und Völkervermischung der Slowakei anspielen –, sind somit mehr oder weniger gegenwartsbehaftet. Mit solchen temporär-narrativen Sprüngen ins Gestern ergreift Dán die Möglichkeit, sich mit der Historie der Slowakei auseinanderzusetzen. Dabei agiert er keineswegs mit einer brachialen Besserwisserkeule im Sinne „die Geschichte war so, wie ich sie beschrieben habe“. Dán benutzt das historische Setting, um seinen zu erzählenden Geschichten den nötigen Touch von Authentizität (und auch Aktualität) zu verpassen und dem Sujet eine dunkel-graue Atmosphäre zu verleihen. Auf der anderen Seite wird dadurch ein Narrativ in Gang gesetzt, in dem die Vergangenheit keineswegs nostalgische und extrem sentimentale Züge annimmt.

Dán rechnet mit der Geschichte ab – in erster Linie mit den ‚Übergangsjahren‘ d.h. mit der Zeit der ‚wilden politischen Transformation‘ der 1990er Jahre. Die über 30 Krimis, die er bis 2020 veröffentlichte, folgen – vom Inhalt her – keinem chronologischen Prinzip. Wenn seine beiden ersten Bücher Mitte der 1990er spielen, dann wird man im dritten Roman ins Jahr 1990/1992 zurückgebeamt, der vierte tangiert das Jahr 2002 etc. pp. Die Zusammenführung bzw. Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart ist die große Stärke des Krimikonzepts Dáns, der sie auch textintern umsetzt. In der Regel werden vom Erzähler Dán ziemlich kurze, von der Länge her knapp gehaltene Kapitel bevorzugt, in denen unterschiedliche figurative wie historische Perspektiven zum Einsatz kommen. Die Einzelszenen sind miteinander kausal, aber nicht zeitlich konsekutiv verknüpft. Auf diese Weise wird das Verbrechen immer wieder neujustiert und an das Heute herangeholt. Die Kriminalität wird bei Dán nicht nur als ein zu lösendes Verbrechensdelikt betrachtet, sondern als ein sich ständig zu wiederholender Kreis ohne Anfang und Ende begriffen. Mit anderen Worten: die Wiederkehr des Immergleichen, die sich auch in der Romanstruktur niederschlägt. Meistens werden zwei Hauptgeschichten mit unzähligen Nebenhandlungen, die mit- und ineinander verwoben sind, hervorgehoben. Dán muss diesem Geschichten-Tohuwabohu Herr werden, immer den Kriminalfall bzw. -fälle im Blick behalten und auf die finale Rekonstruktion und Überführung der Täter zusteuern. Und es gelingt ihm außerordentlich gut, die unterschiedlichen (selbstverschuldeten) Verquickungen zu überschauen, zu domestizieren und einen reibungslosen Handlungsverlauf zu gewährleisten, was vielleicht auch mit der hybriden Sonderform seiner Kriminalromane zusammenhängt. Dáns Krimis könnte man als eine Art Kombination von Polizei- und Geschichtsroman mit einer Prise Deduktion aus der Agatha Christie-High School für pubertierende Mädchen bezeichnen. Ein überraschendes Erzählschema, aber ein funktionierendes und spannendes dazu.

Nur zu Hause ein Star

Natürlicherweise bildet Dán das Aushängeschild der slowakischen Kriminalliteratur – vor allem im Inland, weil international seine Bücher eher im literarischen Niemandsland verharren. Die deutschen Verlage zögern noch bei Dán, das Interesse ist nicht vorhanden. Auch in anderen europäischen Ländern geht die Dán-Rezeption eher schleppend voran. Ins Polnische wurden fünf seiner Romane übersetzt – was in Anbetracht des Gesamtvolumens seines Krimiwerks jedoch ein Klacks ist. Červený kapitan, der rote Kapitän, wurde sogar verfilmt. Über die Kritiken breiten wir jedoch lieber den Mantel des Schweigens aus… Und wenn sich Dán auf dem ausländischen Krimimarkt nicht durchsetzten kann, dann müssen auch die Chancen auf Durchbruch bei den anderen slowakischen Schriftstellern wie František Kozmon, Vojtech Beniczky (wieder ein Künstlername als hätten sie Angst, geteert und gefedert des Landes verwiesen zu werden) oder Josef Karika, der sich auf gruselige Thriller spezialisierte, gleich Null ausfallen.

Etwas besser dran ist Michael Genelin. Kein Slowake, aber ein US-Amerikaner, der sich wissenschaftlich mit der Strafrechtsreform beschäftigt. Nebenbei publiziert Genelin auch Kriminalromane, die eben in der Slowakei verortet sind (bei Random House). Mit Jana Matinova, seiner Hauptermittlerin, erkundet Genelin nicht nur die Gassen des heutigen Bratislava, sondern auch das ganze Land. Genelin serviert den Lesern einen kriminalliterarischen Reiseführer und lädt somit zur (fiktiven) Stippvisite in die Slowakei ein. Auf einem ganz anderen Blatt steht, wer dieser Einladung folgt, aber zumindest wird den Amerikanern das Angebot gemacht, sich imaginativ in die Fremde zu begeben. Ob sie allerdings Tschechen und die Slowakei voneinander unterscheiden können? Man weiß halt wenig über die Slowakei. Nostra culpa. 

Wolfgang Brylla

Seine Texte bei uns hier.
Böhmische Dörfer? – Über Krimis aus Tschechien.
Ein Hauch polnische Exotik

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