Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag März 2021

Wolfgang Brylla: „Vom Künstler des guten Sterbens“

Grass im Szturm-Pelz

In Zeiten, in denen jedes zweite Durchschnitts-TV-Sternchenso, über den Daumen gepeilt, damit liebäugelt, einen Knaller-Roman auf den Markt zu bringen, und somit in den verschiedenen talk shows des Landes coronabedingt durch eine saubergewienerte Plexiglasscheibe von anderen Gesprächsgästen getrennt nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Autor reüssiert, ist es schwer, gut von schlecht gemachter Literatur zu unterscheiden. Ein Königreich f­ür denjenigen, der in diesem schon längst ausgeuferten Thrash-, Kuriositäten- und Gütesiegel-Pool den Überblick behält und in der Lage ist, die wirklich lesenswerten Bücher herauszufischen. It‘s ein bisschen complicated. Häufig nur durch Zufall fällt ein Text in die Hände von einem nicht näher bekannten Autor, den man als Lektüre weiterempfehlen kann. Heute befassen wir uns mit „Vom Künstler des guten Sterbens“ (2020).

Wenn Sie von Bruno Szturm bis dato nichts gehört haben, keep it calm. Wir auch nicht. Vermutlich hat der Autor selbst noch vor kurzem von seiner eigenen Schriftsteller-Existenz kaum Notiz genommen. Bei „3 nach 9“ werden Sie ihn auf jeden Fall nicht zu Gesicht bekommen. Denn Bruno Szturm ist ein Undercover-Agent, der lieber im Schatten der mainstream-Maschinerie haust bzw. hausen muss. Szturm ist „das polnische Pseudonym eines west-deutschen Erzählers“, wie es so schön im Paratext heißt. Wer sich hinter diesem ‚Decknamen‘ verbirgt, bleibt unbeantwortet. Die Ironie, die aus diesem kurzen Selbstporträt hervorsticht, bringt uns zum Schmunzeln und erinnert mehr oder weniger an den Sprachwitz eines Raymond Chandler. Was würde im Grunde im Wege stehen, diesen Spitznamen umzudeuten? Man nehme das SZ und beschneide es zum simplen S. Ratz-fatz haben wir ein deutsches Pseudonym eines nord-polnischen Erzählers… Der Polen-Wink verweist schon im Vorfeld darauf, dass das Buch, als E-Book im Verlag Edition Faust erschienen, in irgendeiner Verbindung zum östlichen Nachbarland steht. Sind das aber wieder die gängigen Harald-Schmidt-Polenwitze? Oder die Stereotypen-Denke und die kaum mehr zu ertragenden Ressentimentes? Weitgefehlt. Der Erzähler Bruno S(z)turm (eine Anspielung auf Theodor Storm?) offenbart eine seltsame, denn in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht mehr auffindbare, Affinität zu Polen und den Polen. Bei S(z)turm wird Polen nicht mehr als Exote, dem man begegnen kann und das es auszukundschaften gilt, dargestellt, sondern als etwas schon Gegebenes. Polen als apriori-Zustand. Polen ist einfach nur da und kann einfach genau so bad sein wie Deutschland. Kant likes it. 

Eine CZ 75 © Wiki-Commons

Das Buchcover ist in der schwarz-weißen hardboiled-Stilistik gehalten. Ins Zentrum rückt eine Wumme, ein tschechisches Prädikat, um genauer zu sein. Eine Česká CZ 75. Böse Zungen behaupten, sie wäre eine Billigkopie des kultigen Colt M1911. Wie viel echtes Westgeld die Tschechoslowaken im Kalten Krieg mit dem Export dieser ‚Fälschung‘ verdient haben, weiß der Kuckuck. Der Česká kommt in „Vom Künstler des guten Sterbens“ eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie steht – nicht nur symbolisch – für den Tod, für das „gute Sterben“, um das mehrere Familiengeschichten gesponnen werden, die weniger in der Vergangenheit, als in der Gegenwart verankert sind. Es geht auch um deutsch-polnische Beziehungen – im privaten Bereich –, die thematisiert, jedoch nicht laut ausgesprochen werden. Kaschuben und der Kartäuserorden, der irgendwann um 1100 vom Heiligen… Bruno aus Köln gegründet wurde, sind ebenfalls mit von der Partie und dienen sowohl zur Markierung des polnischen Katholizismus als auch zur Bloßstellung jedes Glaubensbekenntnisses, jeder Ideologie als erlösungsbringenden Lebenselixiers. Es wäre eine Zumutung, mit Blick auf „Vom Künstler des guten Sterbens“ von einem Krimi zu sprechen. Es wird zwar gemordet en masse, aber nicht ermittelt. Na ja, ermittelt wird zwar schon, aber nicht im klassischen Sinne. Schicht für Schicht wird das Rätsel, das keines ist, entkernt: nicht von der Polizei, sondern von der Erzählung. Das Narrativ als Detektiv – ein schöner Titel. Den Tötungsdelikten liegt ein ungeheuerlicher Tarantino-mäßiger Spaßfaktor zugrunde, der das Töten von Menschen als Normalität und das Nicht-Töten als etwas Seltsames abtut. Nee, S(z)turms Roman ist kein Kriminalroman, eher ein Spannungsroman. Mit Spannungskurven kennt er sich aus, allerdings fußen sie, was charakteristisch ist, weniger auf dem Handlungsverlauf, als auf dem Erzählen selbst. In Wirklichkeit sind nicht der Babo Jo oder Berno oder Pirmin die Haupthelden, es ist die freshe Sprache („dieselschämte“) und der narrative Umgang mit Zeitebenen. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Gegenwart und Geschichte, erzählt von einem polnischen Emigranten Jachym Szwengl/Joachim Schwengel und dessen Sohn, changiert zwischen den 80ern, 90ern und 2000ern. Er weiß alles, aber er gibt es nicht preis, sondern setzt die Leserschaft häppchenweise von den Ereignissen in Kenntnis, sortiert sie, versucht Ordnung ins Erzählen reinzubringen, was wegen der Zeitsprünge (gewollt) kaum möglich ist. Flüchtlingswelle, Pegida, Antifa, Hambacher Forst, die Kölner Silvesternacht, Pandemie, Fridays for Future, Klimakrise, political correctness… Viel Stoff, viele aktuelle Themen, die nur anhand der Sprache zu domestizieren sind. Man bedarf einer Erzählfigur, die uns im modernen Globalisierungsdschungel nicht durch das Labyrinth führt, sondern uns diesen Irrgarten erst ohne größere Umschweife zu verdeutlichen vermag. Und dies macht der S(z)torm-Erzähler, indem er auf die Erzählform der Beichte bzw. eines undatierten Tagebuchs zurückgreift. Die Gedanken sind frei und auch allerlei.

„Vom Künstler des guten Sterbens“ ist sozusagen ein grassesker Roman. Der liebe Günter Grass schien dem lieben  Bruno S(z)turm beim Schreiben über die Schulter geguckt und ihn die ganze Zeit an der kurzen Leine gehalten zu haben. Vor dem Grass-Vergleich scheut auch S(z)turm nicht zurück, der zugibt, sich von „Katze und Maus“ inspiriert zu haben: „Ich nehme Günter Grass, Katz und Maus: den großen Mahkle und seine Durchknalle auf katholischer Grundierung, kaschubische Orte und die Erde der Insel Reichenau, die Schreibweise und das Kompositionsprinzip -; nehme es und werfe es in die Gegenwart“. Tatsächlich, S(z)turm bleibt der Bauweise von „Katz und Maus“ aufs Haar treu, betreibt jedoch sein eigenes autonomes intertextuelles Katz-und-Maus-Spiel, indem er sich an die narrativen Gegebenheiten hält, sie allerdings transformiert und transponiert, in das Heute versetzt und somit einen Nachfolgeroman präsentiert. Katz und Maus 2.0. „Und einmal, bevor Ekkehard zum Kartäusernovizen wurde, lagen wir hinter den Gewächshäusern seiner Inselgärtnerei im Gras. Ich hätte rausfahren und zum dritten Mal Beute machen sollen, aber Babo Jo ließ mich nicht und Marlene kuschte“, so fängt S(z)turm seine Geschichte an. Die Blaupause dafür lieferte fünfzig Jahre davor Grass, in dem er sich für folgenden Textbeginn entschied: „… und einmal, als Mahlke schon schwimmen konnte, lagen wir neben dem Schlagballfeld im Gras. Ich hätte zum Zahnarzt gehen sollen, aber sie ließen mich nicht, weil ich als Tickspieler schwer zu ersetzen war“. Auch die zeitlichen Rückblicke von S(z)turm und Grass ähneln sich: „Als Jachym Szwengl zeitig vor Ausrufung des Kriegsrechts im Sommer das Licht der Welt erblickte…“ vs. „Als Joachim Mahlke kurz nach Kriegsbeginn vierzehn Jahre alt wurde…”. Der S(z)turm-Roman ist voll gespickt mit solchen Referenzen auf Grass, mit denen S(z)turm dem Danziger Urgestein seine Reverenz erweist einerseits, andererseits einen ganz frechen Textklau betreibt und auf diese Weise das Klischeemodell ‚reiches Deutschland-kriminelles Polen‘ auf die Spitze treibt und es revidiert. Nix mit fahr nach Polen, dein Auto ist schon da. Sondern lies S(z)turm, dein Grass steckt schon drinne…

Man mag Grass lieben (O-Ton Deutschlehrer 10. Klasse) oder auch nicht (O-Ton Antilopengang: „Und Günter Grass schreibt ein neues Gedicht, und Beate Zschäpe hört U2“), eins muss jedoch klargestellt werden. „Katz und Maus“ und „Die Blechtrommel“ gehören zu den literarisch-qualitativ besten und geschichts- wie problemorientiertesten deutschsprachigen Romanen resp. Novellen des 20. Jahrhunderts. Allerdings wurde um Grass herum, bis zu seinem SS-Gest­ändnis, eine Art Heiligenschrein errichtet, man verpasste dem Pfeife rauchenden Brillenträger einen Moralapostel-Nimbus, obwohl es sich mit Grass generell ebenso verhält wie mit den polnischen Klassikern Słowacki oder Mickiewicz. Im avantgardistischen Groteskeroman von Witold Gombrowicz „Ferdydurke“ – diese Randbemerkung sei erlaubt – findet sich eine brillante Dialogpassage zwischen Lehrer und Schülern. Die geht so: 

Der Lehrer sagte: – Bitte schreiben Sie sich das Thema für einen Hausaufsatz auf: Warum wohnt den Gedichten des großen Dichters Juliusz Słowacki eine unsterbliche Schönheit inne, die unser Entzücken erweckt?
An dieser Stelle des Vortrags wand sich einer der Schüler nervös aus seiner Bank und jammerte: 
– Aber wenn ich mich doch überhaupt nicht entzücke! Überhaupt nicht entzücke! […] Ich kann nicht mehr als zwei Strophen lesen […] Um Gottes willen, wie soll ich mich entzücken, wenn es mich nicht entzückt?
[…] Lehrer: – Wieso entzückt es Sie nicht, wenn ich Ihnen tausendmal erklärt habe, dass es Sie entzückt?
Galkiewicz: – Aber es entzückt mich nicht.

Stichwort: Entzücken. Wer darf uns oder mir sagen, dass Grass ein großer Autor war? Wer darf uns sagen, dass S(z)turm ein ganz guter Erzähler ist? Niemand. Das kann nur der Leser. Deshalb greifen Sie dazu und überzeugen Sie sich selbst, ob Sie Grass im S(z)turm-Gewand ergreift, ob Sie an der verzwickten Geschichte über Recht und Unrecht, Deutungshoheit und Zweckmäßigkeit des Handelns, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit Gefallen finden und ob Sie das „gute Sterben“ gutheißen – die „Zwingende Tat“ jenseits von religiösen oder philosophischen Dogmen, von sozial Richtigem und politisch Unerwünschtem. „Denen, die unterdrücken, hassen, töten, muss mit einer zwingenden Tat begegnet werden. So lautete seine [Joachims] bald komplett jesusbefreite Agenda. Den Hutu in Ruanda, den Schlächtern auf dem Balkan, den Verhaftungstheologen im Vatikan.“ Wer was auf dem Kerbholz hat, dem müssen die Leviten gelesen werden. Ob jedoch auf solche radikale terroristische RAF-Art und Weise wie in „Vom Künstler des guten Sterbens“? Darf man andere töten, um ein noch größeres Unheil zu vermeiden? Wo befindet sich die heile friedliche und glückliche Welt – das utopische „Polen in der Südsee“? Wer soll das Gerichtsurteil fällen? Wer es vollstrecken? Wir, Ihr, die anderen? Kunst, Literatur, Kultur? Česká? Fragen über Fragen. Obwohl S(z)Turms Roman die ars moriendi im Titel führt, ist er das völlige Gegenteil der Erbauungsliteratur. Das „gute Sterben“ gibt es nicht ebenso wie einen „guten Schluss“ – es gibt aber gute Bücher über das vermeintliche „gute Sterben“. 

Bruno Szturm: Vom Künstler des guten Sterbens. edition Faust, Frankfurt 2020. 210 Seiten, nur als epub eBook, 14,99 Euro.

Wolfgang Bryllas Texte bei uns hier.
Böhmische Dörfer? – Über Krimis aus Tschechien.
Ein Hauch polnische Exotik
Crime fiction aus der Slowakei

Tags : ,