
Blofeld zum Trotz
Der sowjetische und ukrainische Kriminalroman. Ein unverhofft hyperaktueller Überblick von Wolfgang Brylla
Ein rachsüchtiger Ex-KGB-Offizier älteren Semesters mit Hang zum Despotismus hat nichts Besseres zu tun, als ein unabhängiges Nachbarland militärisch anzugreifen und sich als Big Player auf der politischen Europakarte in Szene zu setzen. Cyberattacken und Desinformationsmaskeraden, Geheimdienste im Dauereinsatz, ein Lügengebäude zumindest so groß wie die Moskauer Universität und ein befreundeter Schnurbart-Diktator von der Sorte „am Wochenende jagen wir zusammen Bären in der Taiga“. Was wie ein neuer kitschiger Bond-Roman mit dem Superschurken Blofeld klingt, wurde leider letzte Woche brutale Realität.

Mit Katzen hat es Wladimir P. wahrscheinlich nicht so, was vor einigen Jahren die Bundeskanzlerin am eigenen Leib erfahren musste. Im Kreml bevorzugt man eher Hunde mir großer Schnauze. Keine süßen knuddeligen Welpen, sondern Kläffer, die gehorchen und beißen können. Und am 24. Februar 2022 wurde die Ukraine völlig von diesen vielen gepanzerten Hundestaffeln überrollt und umzingelt. Mitten in Europa, in einem Staat, der als Pufferzone zwischen Russland und dem Westen galt, brach ein Waffenkonflikt aus, den – SWIFT hin oder her – man am runden Tisch auf diplomatischem Wege nicht schnell wird lösen können.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Aus dem Grunde, weil ich diesmal zufällig einige Worte über die ukrainische Gegenwartskriminalliteratur verlieren wollte, die sogar dreißig Jahre nach der Wende und dem Zusammenbruch der UdSSR immer noch in den Kinderschuhen steckt. Verschaffen wollte ich Ihnen einen kurzen Überblick über den Kriminalroman, seine Präsenz und Funktion, in der ehemaligen Sowjetunion, um später einige wenig bekannte Autor:innen – Andrij Kokotjucha, Bohdan Kolomiychuk, Valerij und Natal’ja Lapikur sowie Vladislav Ivčenko, vorzustellen, die sich zumindest in der Ukraine einen Namen machten. Ob es allerdings vielleicht unter den gegebenen Umständen nicht klüger wäre, meinen Anfangsplan fallen zu lassen? Beurteilen Sie es bitte selbst.
Hier, genau an dieser Stelle, haben Sie die Möglichkeit entweder weiterzulesen, oder Ihre Lektüre zu unterbrechen und mit fadem Beigeschmack beiseite zu legen. Wir beschäftigen uns nämlich mit dem sowjetischen und ukrainischen Kriminalroman – trotz der vom Hundeliebhaber Wladimir Blofeld (Berufswunsch: Kriegstreiber) eingeleiteten Invasion auf ein souveränes, proeuropäisch ausgerichtetes Land, trotz des mehrmaligen Völkerrechtsbruchs, trotz des Zertretens einer demokratischen Ordnung mit Füßen. In diesen schwierigen Kriegszeiten befassen wir uns mit Literatur. Weil wir es anders nicht können.
Der Reihe nach.
In der russischen Nationalgeschichte kommt dem Jahr 1917 eine Schlüsselrolle zu. Oktoberrevolution, Lenin, Machtenthauptung des Zaren. Interessanterweise, quasi mit dem Aufbruch in eine neue (sozialistische) Ära in den Weiten der russischen Steppe, beginnt auch mehr oder weniger die Geschichte der russischsprachigen Detektiv- bzw. Kriminalstories. 1917 erscheint Marietta Schaginjan „Mess-Mend oder die Yankees in Petrograd“, den man einerseits als verbrecherischen Abenteuer-, andererseits als Propagandaroman einstufen könnte. Schaginjan stand unter dem Zugzwang, eine sowjetische Antwort auf die ausländischen Erzählungen von Holmes, Leblanc und Konsorten zu liefern. Der politisch-agitatorische Unterton der detektivischen Unterhaltungsliteratur schien ein wichtiger Bestandteil des damaligen Gattungsregelkorsetts gewesen zu sein.

In eine ähnliche Richtung ging auch – noch vor dem Zweiten Weltkrieg – Lew Scheinin, der als Staatsanwalt in der Lage war, auf eine große Themenbandbreite von realen Rechtsfällen zurückzugreifen. Seinen schriftstellerischen Durchbruch feierte Scheinin mit „Notizen eines Scharfrichters“, die man eindeutig zum Zwecke der Sozialdidaxis verfasste (in der DDR sind einige Textsammlungen Scheinins aufgelegt wurden). Der Bürger sollte zum homo sovieticus, einem linientreuen, sich kaum Gedanken machenden Roboter-Menschen erzogen werden, dem das Wohl der Zentralpartei und des sowjetischen Vaterlandes mehr als das der eigenen Familie am Herzen liegen sollte. (Sehr empfehlenswert im Zusammenhang mit der frühen russischen Detektivgeschichte ist ein Beitrag von Christine Engel in „Investigation – Rekonstruktion – Narration“, herausgegeben von der Combo Nina Frieß/Angela Huber).
Auch in den Spionagegeschichten der späten 40er und frühen 50er Jahren schlägt sich dieser sozialistisch-pädagogische Ansatz nieder, verziert natürlicherweise mit einer Brechstangen-Ideologie. Veranstaltet wurde eine literarische Pirschjagd nach inländischen Systemfeinden wie Saboteuren und agents provocateurs aus dem Westen, die angeblich den sowjetischen kollektiven Jubel-Trubel-Heiterkeits-Lifestyle zu untergraben beabsichtigten. Die Fronten waren klar umrissen: hier das sich in Gefahr befindliche ackernde Arbeiter- und Bauernvolk, dort die bösen in Saus und Braus lebenden protzigen Kapitalistenschweine.
Stichwort: Kollektiv. Im sowjetischen Kriminalroman agierten keine individuellen Detektivhelden, in den Mittelpunkt rückte stattdessen ein police team – oder genauer gesagt die Miliz, milizija – wie bspw. bei Pavel Nilin, der mit seinen historischen Krimis, die in der Zwischenkriegszeit angesiedelt waren, auf größere Resonanz stieß, oder bei Julian Siemjonow, der in den 1960er Jahren eine Gratwanderung zwischen Abenteuer-, Kriminal- und Spannungsroman wagte. Vorliebe für den detektivischen Polizeikrimi hatten ebenfalls die Gebrüder Wainer (Arkadi + Georgi), deren Verbrechenstexte als Vorlage für eine sowjetische TV-Serie dienten. Den russischen Leser:innen blieb es dabei nicht vergönnt, in den Genuss der englischen oder amerikanischen Krimiklassiker zu kommen. Es wurden zwar einige Christie-Rätselromane ins Russische übersetzt, aber einen Chandler (Mangelware!) zu ergattern, war zumindest so schwer, wie ohne Blessuren den Ninja-Warrior-Parcour zu meistern.
Einer gewissen Popularität erfreute sich dahingegen die polnische Schriftstellerin Joanna Chmielewska mit ihrem ironischen Blick auf Gegenwart(sbewältigung) und kniffliger Umgestaltung des Kriminalschemas. In Chmielewska Nachfolge – sowohl in stofflicher als auch erzählerischer Hinsicht – trat in den 1990er Jahren die Russin Darja Donzowa, deren Bücher auch für den Aufbau-Verlag und Goldmann von Interesse waren. In derselben Zeit versuchte die russische Kriminalliteratur mit fast 50-jähriger Verspätung, was typisch für alle Ostblockstaaten gewesen war, den US-hardboiled nachzuahmen, ihn neu zu erfinden und an die russische(n) Wirklichkeit(en) anzupassen (Boris Babin), bevor die Frauen das Heft des Handelns in die Hand nahmen. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert schlägt die Stunde von Doncowa, Polina Daschkowa und allen voran Alexandra Marinina, die auch außerhalb von Russland zwar nicht für Furore sorgte, aber trotzdem beachtet wurde. Alle drei standen für eine bis zum damaligen Zeitpunkt im russischen Kriminalroman fehlende feminine Perspektive, mit deren Hilfe der Leserschaft ein neues, sehr authentisches und realitätsnahes Russlandbild serviert wird. Eben Marinina und der höchst literarische Boris Akunin waren und sind bis heute die Aushängeschilder des russischen Kriminalromans.

Gegenwartsreferenz eher eine Ausnahme
Der Erfolgswelle, auf der Marinina und Akunin schwammen, hat der ukrainische Kriminalroman wenig entgegenzusetzen. Einige behaupten sogar, dass in der Ukraine überhaupt keine Kriminalliteratur produziert werde. Ein Gegenbeispiel für diese These liefert Andrij Kokotjucha, dessen pseudohistorische Krimis, weil sie in der Gegenwart verankert sind (wie „Temna voda“, Das dunkle Wasser), zum einen auf die ukrainischen Gründungsmythen anspielen, und zum anderen (farbenfrohe) Folkloreelemente mit einschließen. Kokotjucha bezieht sich dabei auf die Gattungstradition der gothic novel, was sich wiederum in der dunklen Atmosphäre seiner Romane widerspiegelt. Die Mariage von Geschichts-, orthodoxem Mystery- und Geschichtsroman trägt bei Kokotjucha Züge einer latenten Kritik an den aktuellen Missständen.
Generell aber ist die Gegenwartsreferenz eine Ausnahme, der ukrainische Kriminalroman wendet sich eher der Vergangenheit als dem Jetzt zu. Vladimir Ivčenko („Najkraščij syščik imperii“, Des Imperiums bester Detektiv) nimmt sein Lesepublikum auf eine Zeitreise in die ukrainische Dorfprovinz Anfang des 20. Jahrhunderts, die die Kulisse für den Untergang des russischen Romanow-Imperiums bildet (so auch der Titel seines Romans „Der beste Detektiv des Imperiums“). Er liefert einen durchaus literarisch anspruchsvollen, stilisierten (zu finden sind Querverweise auf die russische Literatur des 19. Jahrhunderts) und gut gelungenen Geschichtssoundtrack zum Anfang vom Ende des Zarentums.
Weniger artifiziell verfährt Bohdan Kolomijtschuk, der seine Wahlheimat Lwiw/Lemberg zum Hauptakteur einer Retro-Krimi-Reihe erkoren hatte, die Ähnlichkeiten mit dem Mock-Zyklus des polnischen Bestseller-Schriftstellers Marek Krajewski vorweisen kann. Die Haupthandlung seines letzten Romans, der 1905 spielt, versetzt Kolomijtschuk nach… Poznań/Posen, wodurch er eine doppelte multi kulti-Brücke schlägt. Auf der einen Seite verdeutlicht er die multinationale und -literale Spezifik des polnisch-ukrainisch-russisch-jüdisch-katholisch-orthodoxen Lemberg, die er auf der anderen Seite mit dem polnisch-deutschen und katholisch-evangelischen Schmelztiegel des Posener Grenzraumes verknüpft. Obwohl es hier und da die Plotkonstruktion hinkt und man den Eindruck nicht los wird, dass Kolomijtschuk bloß die Verbreitung von Retorten-Geschichtsbildern aus ist, lassen sich die Abenteuer um Kommissar Adam Wistowicz recht gut lesen.
Und bleiben wir bei der Untergattung Geschichts- bzw. Retro-Krimi. Nicht nur Lemberg avancierte zum Schauplatz vom historischen Verbrechen, sondern auch Kiew. Anders aber als Kolomijtschuk verortet das Autorenduo Lapikur (die mehrbändige Reihe „Inspektor i kava“) seine Kriminalromane in der Nachkriegszeit, als die Ukraine von der Sowjetunion einverleibt wurde und als eine von vielen Satellitenrepubliken zum großen sowjetischen Flickenteppich gehörte. Sie sind nicht nur um die historische wie gesellschaftspolitische Kontextualisierung ihrer Erzählstoffe bemüht, sondern auch – dank einer auf Details und Realismus getrimmten Erzählweise – um die Wiederbelebung einer längst vergangenen Zeit, an die man sich nostalgisch erinnert im Sinne von „früher war doch nicht alles schlecht“, die man jedoch gleichzeitig verteufelt im Sinne von „früher war vieles schlecht“.
Den Spagat zwischen bedrückender (und trivialer) Schein-Erinnerungskultur und geschichtlicher Demystifizierung schaffen die Lapikurs durch eine genregesteuerte Hybridisierung. Denn sie schöpfen aus dem Vollen des sowjetischen Polizei- bzw. Milizkriminalromans und bedienen sich nebenbei beim tough guy-Konzept eines Chandler. (Wer mehr über den ukrainischen Gegenwartkriminalroman erfahren möchte, der sollte sich den Beitrag von Maria Smyshliaeva im schon erwähnten Sammelband zu Gemüte führen. Smyshliaeva listet dort auch andere Autor:innen auf, auf die ich mir allerdings, mea culpa, überhaupt keinen Reim machen kann).
Abschließend: Ein Bekenntnis zur Ukraine ist auch ein Bekenntnis zur ukrainischen Kultur, zur ukrainischen Literatur und somit zur ukrainischen Kriminalliteratur, die es auf jeden Fall verdient, wahrgenommen zu werden. Der Zugang zu den Texten selbst ist erschwert, die eine oder andere Sprachhürde muss bestimmt genommen werden. Aber tun Sie das. Wenn nicht heute, dann morgen in einer freien Ukraine. Tun Sie das Blofeld zum Trotz.
Wolfgang Brylla
Wolfgang Bryllas Texte bei uns hier.
Alter Schwede – Nordic Noir
Der gestreamte Lupin – Ein Schatten seiner selbst
Böhmische Dörfer? – Über Krimis aus Tschechien.
Ein Hauch polnische Exotik
Crime fiction aus der Slowakei
„Vom Künstler des guten Sterbens