Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Wolfgang Brylla: Marek Krajewskis Mock-Reihe

Epigone seiner selbst

Früher oder später stößt jedes Serienformat, egal ob in Literatur oder Fernsehen, an seine Grenzen. Der Stoff ist auserzählt und die Figuren, die uns jahrzehntelang durch Ups and Downs begleitet haben, zerbröseln förmlich vor unseren Augen. Darin, im vorprogrammierten zähen Ende des seriellen Erzählens, liegt dessen Hauptproblem und Tücke. Kriminalnarrative bleiben von diesem Verfall keinesfalls verschont.

Es gibt Kritiker und Wissenschaftler, die behaupten, Kriminalliteratur als Gattung sei ein Inbegriff der Serialität. Man verweist natürlicherweise auf die Klassiker, auf die Doyles, Christies oder Chandlers dieser Welt, auf Holmes, Poirot, Marple, Marlowe. Dabei macht man im Grunde keinen wesentlichen Unterschied zwischen Serie und Reihe. Was, weshalb, warum, wieso – daran scheiden sich die Geister. Ein Serienzyklus sollte chronologisch gelesen werden, denn erst dadurch entwickele sich eine gewisse plausible Erzählschnur, an der man sich als Leser:in/Zuschauer:in orientieren könne. Umgekehrt heißt es, dass in einer Reihe die Reihenfolge – was für ein Kalauer… – mehr oder weniger unwichtig erscheint. Eine Reihe wird durch die Präsenz der wiederkennbaren Figur(en) strukturiert, eine Serie dahingegen durch die Figur(en), die in einer sich ausgedachten Kausalität und Linearität wahrgenommen werden müsste(n). Wie man allerdings in solche Erzählkonfiguration bspw. Prequels einordnet, darum scheren sich die wenigsten. Reihe oder Serie, Hauptsache Spannung. 

Die handlungszentrierende Funktion der Hauptprotagonist:innen mit recognition factor kam in der ersten Jahreshälfte 2022 im deutschen TV immer wieder zum Vorschein, und zwar immer dann, wenn sie sich vom Acker machten bzw. das Zeitliche segneten. Auf zwei Möglichkeiten, wie man den tränenreichen Abschied von der großen Bühne in Szene setzen kann, wurde immer wieder von den Fernsehverantwortlichen zurückgegriffen. Option numero uno: Tod des Helden. Ende Mai musste Nina Rubin im Berliner „Tatort“ daran glauben, als sie sich in der finalen Sequenz – ohne kugelsichere Weste, die Arme! – vor einem Privatjet zu lange mit der russischen Gangsterbraut unterhielt. Bang, ein Bauchschuss. Spätestens seit Remarques „Im Westen nichts Neues“ wissen wir, dass das meistens schief geht. Ein sehr ähnliches Schicksal erlitt auch Bönisch irgendwo auf einem verlassenen Fabrikgelände in Dortmund. Man ahnt es schon: Bauchschuss. Melodramatisch. Tragisch. Die Ermittlerinnenfiguren dienten aus, obwohl die Charaktere noch nicht voll ausgereift bzw. nicht zu Ende erzählt waren. Dies ist die Kehrseite des seriellen Fernsehfilmerzählens: häufig zieht man dort den Schlussstrich, wo es noch viel Luft nach oben gibt mit Blick auf die Figurenzeichnung und das Austarieren von figureninternem Zusammenspiel oder Konfliktpotential. 

Option numero due: Adieu. In „Polizeiruf“ aus Rostock suchte Bukow in Frontier-Manier das Weite. Sascha setzte sich in seinen Pickup, ohne größeres Herumgerede, nur mit Blickkontakt, verabschiedete sich von seinem LKA-Pin-up-girl König und fuhr Richtung Osten. H­öchstwahrscheinlich in die unergründete russische Steppe. Im Gegensatz zu Rubin und Bönisch hat Bukow zumindest überlebt, dasselbe gilt für Lenski, die von Raczek als Abschiedsgruß ein kleines Gruppenfoto unter der Oderbrücke in Frankfurt (Oder) geschenkt bekam. In allen Fällen bedeutet das Wegfallen einer der Hauptfiguren nicht sofort den Zusammenbruch des seriellen Erzählens. In Dortmund, Berlin, Rostock und Frankfurt kriegen die Kommissare neue Partner:innen, mit denen sie auf Verbrecherjagd gehen können. 

Ob allerdings die urbanen Fernsehserienauskopplungen den Weggang ihrer Schlüsselfiguren – handlungszentrierende Funktion! – verkraften? Selbstverständlich tun sie das. Die Frage müsste man anders stellen: welche narrativen und gattungsästhetisierenden Folgen kann ihr Rückzug haben? Mit anderen Worten: werden die Tatort- und Polizeiruf-Serien Einbuße verbuchen und sich selbst zugrunde richten oder wird das Ausscheiden als Anlass genommen, das erzählerisch-thematische Grundkonzept  auf den Kopf zu stellen und zu reformieren. Wir kennen unseren allwöchentlichen Sonntagskrimi. Eine Antwort erübrigt sich. Leider.

Dass das Organisationsprinzip des seriellen Erzählens auf lange Sicht zu scheitern verurteilt ist oder einen rasanten Sturzflug ins Beliebige und Triviale erlebt, lässt sich an einigen früher sehr populären und beim Lesepublikum beliebten Kriminalromanserien ablesen. Nach zwölf Folgen hieß es für Henning Mankell Ende Gelände, der Versuch, die Wallander-Tochter Linda einzuspannen, fiel ins Wasser und konnte dem übersichtlichen nordic Erzählmodell, das Anfang der 1990er Jahre noch einige begeistern konnte, nicht aus der Bredouille helfen. Einer der größten Nachahmer Mankells, der dänische Jussi Adler-Olsen, ist ebenfalls nicht imstande, in den Archivkeller des Sonderdezernats Q frischen Wind zu bringen. Mit ähnlichem Problem haben auch andere zu kämpfen: Liza Marklund, Jacques Berndorf (hui, hui, hui!), Klaus-Peter Wolf (hui, hui, hui! x 2), Eva Rossmann, Charlotte Link und Konsorten, um nur die bekanntesten Namen zu nennen.

Es gibt natürlich auch Schriftsteller:innen, die mit ihren Protagonist:innen mal besser, mal schlechter zurecht kommen und es fertig bringen, in ihren Buchfortsetzungen sich selbst nicht zu wiederholen, narrativ die eine oder andere Duftmarke zu setzen und Aspekte anzuschneiden, denen bis dato keine größere Bedeutung zugeschrieben wurde. In dieser Liga spielen u.a. Oliver Bottini, Sara ParetskyDominique Manotti, Volker Kutscher und Veit Heinichen. Marek Krajewski, der einerseits wie kein anderer es verstand, eine Erzählstruktur ausbluten zu lassen, und der andererseits immer noch von dieser scheinbar toten und konfusen Erzählstruktur weiterhin zu profitieren vermag, zählt zu dieser noblen Gesellschaft nicht. Krajewski, der der polnischen Kriminalliteratur Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre mit seinen historischen Kriminalromanen neues Leben einhauchte und die Gattung aus der kultur-medialen Versenkung herausholte, beschäftigt sich zwanzig Jahre später ausschließlich mit der Verwaltung seines literarischen Ruhms. Der sich auf seinen Lorbeeren ausruhende Krajewski wurde sozusagen zum Epigonen seiner selbst, was nicht viele von sich sagen können.

Was ist passiert? Die ersten Geschichtskrimis mit dem Breslauer Polizisten Eberhard Mock galten in Polen als Paradebeispiel für die ästhetische Erneuerung der crime fiction, um kurze Zeit darauf zum Vorbild der Kriminalliteratur schlechthin zu avancieren. Dabei hat Krajewskis Mock-Reihe einiges mit den Kochrezepten gemeinsam: man nehme eine Prise von Boris Akunin, zwei Esslöffel Chandler-Essig, einen Spritzer Christie-Mystery, alles garniere man mit der städtischen Düsterkeit des Hauptschauplatzes (Breslau der Vor- und Kriegszeit). Breslau ist brutal, Breslau ist obszön, Breslau ist frivol. Krajewskis weiß das urbane Setting gekonnt zur Schau zu stellen, indem er die vergessene deutsche Stadtgeschichte wieder ans Licht zerrt, deutsche Straßennamen aus dem nicht vorhandenen kollektiven Gedächtnis ausbuddelt und die historischen Schattenseiten der Oder-Metropole offenbart, von denen der polnische 08/15-Leser:in, auch aufgrund des dominierenden kommunistischen Geschichtsnarrativs (wiedergewonnene Gebiete, Rückkehr zum Vaterland und anderes Propaganda-Blabla), bis dahin keine oder nur ganz wenige Kenntnisse besaß.

Krajewskis Mock – Säufer, Macho, Klugscheißer, Schachspieler, Frauenliebhaber – verdanken die polnischen Rezipienten die mainstreamhafte Wiedergewinnung des Gestern – zwar in Guido Knopf-Form des Histotainments, aber trotzdem. Siehe man jedoch vom Faktor des Geschichtsunterrichts ab, zeigt sich, dass die Mock-Romane in Wahrheit einfach gestrickt sind und dem simplen Leitfaden von (spirituellem) Mord – Gefahr (für Mock) – Stadtrundgang – Lösung des Geheimnisses folgen. In den ersten fünf Krimis – alle auf Deutsch bei btb und dtv erschienen – funktioniert diese prätentiöse Erzählkonstruktion überraschenderweise recht gut, und zwar aus zwei Gründen: 1) der Figurenporträtierung, 2) der Stadtporträtierung. Ausufernde Verkaufszahlen motivierten Krajewski sogar dazu, eine Parallel-Krimiserie auf die Beine zu stellen, diesmal mit dem polnischen Ermittler Edward Popielski aus Lemberg. Hier und da findet man dieselben erzählerischen und thematischen, die Handlung konstituierenden Mechanismen, die stets bis zum Gehtnichtmehr repetiert und verwurstelt werden. Es geht aber doch.

In den unzähligen Prequels lernt man den jungen, mit sich und dem Stadtmoloch zaudernden Mock kennen, der mir nichts dir nichts erneut rituelle Verbrechen aufklären muss, die dem Erzählmuster von… (spirituellem) Mord – Gefahr (für Mock) – Stadtrundgang – Lösung des Geheimnisses verhaftet bleiben. Auch auf der sprachlichen Ebene hält der Krajewski-Erzähler seinen exorbitanten Latein-Exkursen die Treue. Und als Krajewski wohl gemerkt hatte, dass die Lesermassen für Mock wenig übrig haben, entschied er sich für einen kleinen Trick: nicht mehr das deutsche Breslau steht im Mittelpunkt, stattdessen Polen in den 1920er Jahren, das zu einer Hochburg von Topagenten hochstilisiert wird, in der Popielski die politischen Feinde (Sowjetunion!) und die Feinde der polnisch-nationalen Gesinnung bekämpfen muss. Verändert wurden der Handlungsort und die Subgattung (vom Geschichtskrimi zum historischen Spannungs- und Pseudo-Spionageroman), aber nicht das auf Schematismus basierende Patentrezept: Krajewski lässt Popielski durch Warschau oder Danzig spazieren, baut eine nicht mehr existierende Stadttopographie auf, recycelt historisches Wissen.

So schreibt Krajewski von sich selbst ab, kopiert seine eigenen Erzählszenen und bedient sich derselben Darstellungsstrategie; er wird Geisel der eigenen, früher erfolgreichen Schreibweise, einer stereotypischen Schablone. Bis Mai 2022 wurden insgesamt zwölf Mock- und elf Popielski-Romane veröffentlicht – häufig im Einjahrestakt. In diesem Falle erschlägt die verlegerische Quantität die erzählerische Qualität. Wie lange wird Krajewski sein Erfolgskonzept noch durchziehen können? Anders als der zweite Mann im polnischen Retro-Bunde, Marcin Wroński, der sich von seinem Lublin-Krimi trennte, weil er nichts mehr Neues zu sagen hatte, wird Krajewski, so der Eindruck, sich solange an sein untotes Erzählsystem halten, bis es zur Karikatur verkommt. 

Wolfgang Brylla

Wolfgang Bryllas Texte bei uns hier.

Blofeld zum Trotz. Der sowjetische und ukrainische Kriminalroman
Alter Schwede – Nordic Noir
Der gestreamte Lupin – Ein Schatten seiner selbst
Böhmische Dörfer? – Über Krimis aus Tschechien.
Ein Hauch polnische Exotik
Crime fiction aus der Slowakei
„Vom Künstler des guten Sterbens

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