
Die lange Dünung
Gerade am Anfang eines Jahres sind Bestandsaufnahmen und daran anschließend Fragen nach Perspektiven und Trends beliebte Übungen. Die Kriminalliteratur werde immer diverser, heißt es da oft, die bisherige Peripherie rücke zunehmend ins Zentrum, die Literarizität nehme deutlich zu, und eine besonders wagemutige Kollegin träumte von der „großen Erzählung“ der Menschheitsgeschichte, die sich auch mittels der Crime Fiction endlich zum emanzipatorischen Telos hindrehen ließe.
Aber ist das wirklich so? Natürlich hat sich die Kriminalliteratur in den fast 150 Jahren ihrer Existenz verändert, sogar radikal, aber das ist, genauer besehen, ein langer Prozess, der zudem keineswegs linear ist. Nehmen wir mal als Beispiel für lokale Diversität Kriminalromane, die nicht aus dem UK, den main-stream-USA, Frankreich, Italien oder Deutschland stammen: Als Tony Hillerman 1970 in seinem ersten Roman „The Blessing Way“ den Navajo-Detective Joe Leaphorn auftreten ließ und damit ein Fundament für das schuf, was man damals „Ethno-Krimi“ nannte und als in diesem Zusammenhang noch nicht über „culturale approbriation“ diskutiert wurde (Hillerman war kein Diné oder Hopi, auch wenn er später vom Navajo Tribal Council geehrt wurde), begann eine Bewegung, die sich heute als Tradition beschreiben lässt – Kriminalliteratur, die sich eben nicht an den Mehrheitsgesellschaften und ihren Bildern von Verbrechen orientierte, sondern den gesamten Globus als „Verbrechensraum“ verstehbar machte. Allerdings stimmt auch das so nicht wirklich. Arthur W. Upfield brachte seit 1929 mit seinen „Bony-„Romanen Australien auf die kriminalliterarische Landkarte, Charlotte Jay 1952 Neu-Guinea („Beat not the bones)“, Robert van Gulik kümmerte sich seit den 1950s um China, Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares waren in Argentinien seit den 1940s dabei, James McClure in Südafrika seit 1971 – um nur ein paar zu nennen. Ja, fast alles weiße Männer, aber …
Als ich 1999 mit metro im Unionsverlag (also auch schon gut 30 Jahre nach Hillerman) diese globale Perspektive systematisierte, mit Autor:innen aus Asien, Lateinamerika, Australien und Afrika, fing ich mir anfangs Spott und Häme ein, das sei ja ein Gemischtwarenladen (interessante Übersetzung von „Diversität“, by the way) und lediglich günstigen Einkaufspreisen geschuldet (was schon damals ahnungsloser Quatsch war). Insofern freut es mich besonders, dass der Unionsverlag die Leaphorn/Chee-Romane von Hillerman gerade wieder auflegt, beginnend mit „Tanzplatz der Toten“.
Von Trend-hopping kann da nämlich nicht die Rede sein, denn das, was man heute als „Trend“ bezeichnet, weil zunehmend Romane aus Korea, China, Malaysia und überhaupt aus dem globalen Süden auf den Markt kommen, ist nämlich nicht mehr „Tendenz“, „Trend“ oder „Mode“, sondern Teil einer sehr langen Dünung, logisch, organisch und folgerichtig. Und das manchmal geäußerte Erstaunen, dass es auch in Australien, der Karibik oder Afrika viele gute, eigenständige Kriminalliteratur gibt, ist dann nur einer beklagenswerten Ahnungslosigkeit, resp. Geschichtsvergessenheit zu verdanken. Oder einem Generationenwechsel beim breiten Publikum. Dito feministische Kriminalliteratur (Kriminalliteratur von Frauen ist etwas anderes und längst dem mainstreamigsten Mainstream eingeschrieben) – aber lediglich wenn man deren Tradition seit Dorothy B. Hughes, Margret Millar, Masako Togawa, Helen Zahevi etc. etc. nicht wahrnehmen will, kann man von einem „neuen“ Trend sprechen. Ähnlich die kühne Idee, es sei irgendwie originell, wenn Kriminalliteratur in die „dunklen Ecken“ schaue, den Marginalisierten und Unterdrückten „eine Stimme“ gibt – was hat denn seit Hammett oder dem Néo-Polar (oder selbst dem biederen deutschen Sozio-Krimi) seriöse Kriminalliteratur getan, seit Jahrzehnten?
Ähnlich steht es mit dem angeblichen Trend zur literarisch „höherwertigen“ Kriminalliteratur, die sich gerade Räume eroberte, und dabei die Grammatik der Erzählstrukturen weithin öffne. Ach wo, kann ich dazu nur sagen. Als ob Dashiell Hammetts „Rote Ernte“ von 1929 den Standardausprägungen seiner Zeit entsprochen hätte, oder die Romane von Jorge Luis Borges, Chester Himes, Paco Ignacio Taibo II, Jean-Patrick Manchette, Derek Raymond oder Pieke Biermann der ihren – deren aller Weg führt direkt zu Büchern wie Riku Ondas „Die Aosawa-Morde“, Stephen Greenalls „Winter Traffic“ oder Greg Buchanans „16 Pferde“ die, selbst das Risiko der oberflächlichen Unverständlichkeit eingehend, genau an der Extension der Vorstellung, was denn ein „Krimi“ oder „Thriller“ sei, weiterarbeiten.
Wenn man sich, so mein Verdacht, ernsthaft auf diese Diskussionen einlässt, hat man sich schon dem Marketing-Sprech ergeben, das den kommerziellen Trash zum Normalzustand ausgerufen hat und die „zweite Linie“ des Kriminalromans, die es schon immer gab, gibt und geben wird, zu verdecken sucht.
Denn was beim Nachdenken über Trends und Tendenzen nicht wirklich irritieren sollte, ist das Beharrungsvermögen uralter Muster und Erzählkonventionen. Das schon fast komische Festklammern an alten Zöpfen, das selbst grob-zynische, chauvinistische Produkte des Re-Writings angelsächsischer Uralt-Muster wie „Die rätselhaften Honjin-Morde“ von Seishi Yokomizo aus dem Jahr 1946 oder Josephine Teys unfasslich reaktionären Roman „Nur der Mond war Zeuge“ von 1948 für eine bewahrenswerte Tradition hält, und damit auch den ganzen Retro-Kram neuerer Bauart (wie den unsäglichen Richard Osman) – all das kann man in der Tat für einen kurzzeitigen und zeitgeistigen Trend halten, der aber im großen Strom der Literaturgeschichte nichts weiter ist als Ringe im Wasser, nachdem ein Steinchen hineingeworfen wurde. Halten wir uns also nicht mit den erledigten Fällen auf und schauen neugierig nach vorne.
© 02/2023 Thomas Wörtche