Geschrieben am 3. Juli 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2024, News

Robert Doisneau und der Bildband »Paris«

Jean Claude Gautrand: Robert Doisneau. Paris. Verlag Taschen, Köln 2024. Hardcover, XL-Format 25 x 34 cm, Gewicht 3.31 kg. 440 Seiten, 50 Euro. Verlagsinformationen:  taschen.com

Goldmedaille für einfühlsame Beobachtung

Alf Mayer über die Monografie »Robert Doisneau. Paris«

Er verabscheute Militärmusik, Militärgerichte und Militärkantinen. Seine Lieblingshelden waren die namenlosen Gewerkschafter, wohnen wollte er immer »nicht allzu weitvon denen entfernt, die über das Gleiche lachen wie ich«, und als natürliche Gabe hätte er gern die Fähigkeit gehabt, Träume anzuhalten.

Pünktlich zur Sommer-Olympiade 2024 können wir nun Robert Doisneau (1912 – 1994) wiederbegegnen, dem ewigen und einzigartigen Goldmedaillenträger in den Einzeldisziplinen »Paris« und »Alltagsfotografie«. Dies in einem fulminanten, neu aufgelegten, großformatigen Prachtband mit bestem Preis-Leistungsverhältnis aus dem Verlag Taschen – über 400 Meisterfotografien, ausgesucht und chronologisch geordnet aus einem Fundus von 450.000 Negativen, bislang unbekannte Farbaufnahmen auch dabei. Herausgeber Jean Claude Gautrand (1932–2019), ein ausgewiesener Experte, war langjähriger Freund des Künstlers und konnte für diese Monografie auf dessen umfangreiches Bildarchiv zugreifen. Er genoss das Vertrauen der Töchter Francine Deroudille und Annette Doisneau, die ein Vorwort beisteuerten. »Für einen Fotografen sind die ersten siebzig Jahre ziemlich mühsam, danach geht es bergauf «, scherzte unser Vater immer, verraten sie darin. Von Jean Claude Gautrand sind bei Taschen auch die Monografien Brassaï (2004), Paris. Porträt einer Stadt (2011) und Eugène Atget. Paris (2016) erschienen.

Sein Buch »Robert Doisneau. Paris« ist unter den rund 100 Werken, die es über und von Doisneau gibt – eine fünfseitige bebilderte Bibliografie findet sich im Anhang – sicher eines der persönlichsten und vollständigsten. Es folgt der Chronologie und erzählt weithin mit viel eigenen Kommentaren des Fotografen. Viel Doisneau also rundum in diesem Buch. Hinweis: Wenn Sie bei der Lektüre nicht ein einziges Mal lächeln oder keine einzige freudige Regung verspüren, sind Sie mit großer Wahrscheinlichkeit bereits tot.

Jedes Foto bei Doisneau ist eine kleine Erzählung, manchmal sogar eine große. Dem, was ihn ausmacht, näherte er sich langsam an. »Ich begann zu fotografieren, um aufzuzeichnen, was ich alle Tage sah (…). Als ich ein kleiner Junge war, stand vor unserem Haus ein abgestorbener Baum, den ich zu zeichnen versucht habe. Meine ersten Fotografien dienten demselben Zweck! Da ich schrecklich schüchtern war, traute ich mich nicht, die Menschen anzuschauen, meine ganze Aufmerksamkeit galt den Kulissen.« Eine seiner ersten Aufnahmen zeigte einen Haufen Pflastersteine. Es folgten Bilder von Bretterzäunen, Kanaldeckeln, Gaslaternen … Harmlose Motive, die ihm Freude bereiteten. Die ersten Aufnahmen waren unprätentiös, ein bloßer Zeitvertreib. Ein Vergnügen, das sein Umfeld nicht zu schätzen wusste, was ihn wütend machte. In einem seiner Notizbücher ist zu lesen: »Ich bin 17. Ich bin mager und schlecht gekleidet. Ich lerne ein Handwerk, das keine Zukunft hat. Um mich herum eine absurde Umgebung. Wenn ich meine Fotos meinen Bekannten zeige, finden alle, dass es schade um den Film ist. Mir egal, ich mache trotzdem weiter. Eines Tages wird es vielleicht einen geben, der in meinen Bildern so etwas wie ein rebellisches Lachen findet.«

Ein Onkel, der Bürgermeister von Gentilly, erteilte ihm den Auftrag für eine Fotoreportage über die Stadt. Mit dem verdienten Geld kaufte Doisneau sich sofort eine Rolleiflex 6 x 6, eine Kamera, die er noch viele Jahre verwenden würde und die für ihn Freiheit bedeutete: »… auf der Mattscheibe die Silhouetten vorbeiziehen zu sehen, machte mich mutig … Mit der Nase in der Klappe des Suchers konnte man eine respektvolle Haltung einnehmen, fast ein Kniefall, was meiner Schüchternheit entgegenkam.« Die Rolleiflex entsprach Doisneaus »Anglermentalität« eher als das von den »Bilderjägern« bevorzugte Konkurrenzmodell von Leica. Die Rollei begleitete ihn auf ungezählten Gängen durch die einfachen Vorstadtviertel von Paris, in denen er die Kulissen für sein kleines Theater fand.

Zunächst, so Jean Claude Gautrand, war Doisneau ein typischer Sonntagsfotograf, erweiterte aber zugleich seine Kenntnisse systematisch, bis ihn Lucien Chauffard 1931 fragte, ob er bei dem berühmten Fotografen, Zeichner und Bildhauer André Vigneau als Assistent anfangen wolle. Es öffnete sich eine ganz neue Welt: die der avantgardistischen Kunst. Doisneau lernt dort Maler kennen und Schriftsteller wie Jacques Prévert, entdeckte in den Ausgaben der Zeitschrift Arts et Métiers Graphiques von Charles Peignot Fotografien, die ihn tief berührten: Aufnahmen von Germaine Krull und André Kertész, die Nachtaufnahmen von Brassaï und die von Vigneau selbst. In technischer Hinsicht lernte Doisneau bei seinem Meister die Kunst der Beleuchtung, den Sinn für Formen und Komposition, die Bedeutung der Inszenierung. Und er hörte vom Bauhaus, vom sowjetischen Film, vom Surrealismus, von den stadtplanerischen Ideen Le Corbusiers. »Nirgends sonst habe ich je eine derart anregende Atmosphäre erlebt«, notiert er.

Immer wieder streifte er durch das Revier seiner Kindheit, durch die Banlieus. Er fotografierte Kinder, Erwachsene, Alltagsszenen. Über diese einfachen Bilder, die er zum eigenen Vergnügen macht, schrieb er später: »Ich war recht schüchtern, weshalb ich die Leute aus einiger Entfernung aufnahm, und so bekamen die Szenen einen weiten Raum, den ich später wieder zu erreichen suchte.« 1932 gelang es ihm, eine Serie von Bildern zu verkaufen, die auf dem Pariser Flohmarkt entstanden. Sie erschienen in der Tageszeitung L’ Excelsior, einem der ersten Blätter, die der Fotografie und der Fotoreportage Bedeutung beimaßen.

Immer wieder »stiehlt« er auch in den kommenden Jahrzehnten seinen Auftraggebern etwas Zeit, um bei seinen Streifzügen auch persönliche Fotos zu machen. Seine stärkste Waffe ist die Geduld, das »Warten auf ein Wunder«. Zitat: »Ich hatte großen Spaß daran, das Abseitige ins rechte Licht zu setzen, die Menschen ebenso wie die Orte… In meiner alltäglichen Umgebung konnte es vorkommen, dass ich kurze Augenblicke erlebte, in denen die Alltagswelt ihre Schwere verloren hatte. Diese Momente zu zeigen, das konnte ein ganzes Leben ausmachen.«

Aber niemand interessiert sich damals für diese Fotos. Selbst Raymond Grosset, der Direktor der Agentur Rapho, für die Doisneau dann arbeitet, war wenig begeistert und riet ihm unumwunden: »Verschwende deine Zeit nicht mit diesem Banlieue-Kram. Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass du solche Sachen machst. Deine Banlieue ist ein trister Anblick, wie soll ich denn Tristesse verkaufen?«

Der in der Banlieue aufgewachsene Fotograf, Sohn eines Klempnermeisters und eigentlich auch fürs Handwerk bestimmt, aber blieb dabei: »Nacheinander wollte ich: die Oberfläche der Dinge möglichst naturgetreu reproduzieren; die verborgenen Schätze aufspüren, an denen wir Tag für Tag achtlos vorbeigehen; die Zeit in winzig kleine Einheiten zerlegen; Phänomene aus nächster Nähe zeigen; herausfinden, was den besonderen Reiz bestimmter Bilder ausmacht…« Paris war und blieb für ihn »ein Theater, in dem man seinen Sitzplatz mit verschwendeter Zeit bezahlt«. Mit Aufrichtigkeit und Anteilnahme – Empathie eben – beobachtete er unzählige Aspekte des Alltagslebens.

Spielende Kinder, Sammler, Diebe, Kartenspieler, Gendarmen und Hochzeitsgäste, Marktfrauen, Handwerker, Kartenspieler, Bettler, Landstreicher, Liebespaare. Er fotografierte in Slums und unter Brücken, in Arbeitervierteln, Kneipen, auf kleinen Plätzen, Flohmärkten, in Bistros und Cafés, in Fabriken und Handwerksbetrieben, Kantinen und Jazzclubs, Schrebergärten, auf Jahrmärkten, immer wieder bei Renault, beim Barrikadenbau während der Befreiung von Paris. Dazu notierte er: »Ich radle in Montrouge los – den Rucksack mit meiner Rolleiflex auf dem Gepäckträger. Ich habe einen Film und einen Ersatzfilm dabei. Zwei Filme à 12 Aufnahmen, um die Befreiung von Paris zu dokumentieren!«

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Nach dem Krieg sind der Hunger nach Informationen und die Nachfrage nach Bildern gewaltig. Die Presse nimmt einen ungeheuren Aufschwung, ständig erscheinen neue Titel. Allein in der französischen Hauptstadt Paris kann man nicht weniger als 34 Tageszeitungen kaufen. Nun treten die großen Fotografen und Reporter der Vorkriegszeit wieder auf den Plan, schreibt Jean Claude Gautrand: mitfühlend, optimistisch und poetisch in der Bildaussage, mit einem besonderen Interesse am Leben in den Arbeitervierteln. »Wie besessen habe ich mich nach der Befreiung wieder dem einzigen Beruf gewidmet, der mir wirklich am Herzen lag«, konstatiert Robert Doisneau. Er steigert sein Arbeitspensum, macht unzählige Reportagen für Zeitschriften, auf die er auch finanziell angewiesen ist. Allein im Jahr 1945 liefert er, so seine Tochter Francine Deroudille, Bildreportagen zu den folgenden Themen: die Drucker des Untergrunds, die Teppichmanufaktur von Aubusson, das Arbeitsleben bei Renault, der Cirque d’Hiver, die Reinigungsfirma Bobin in Montrouge, die Concierges von Paris, die Einführung des Frauenstimmrechts bei den Wahlen vom 29. April, die Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai, die Bergarbeiter von Lens, Blaise Cendrars in Aix-en-Provence, die Uraufführung des Theaterstücks La Folle de Chaillot von Jean Giraudoux im Athénée, zu Hause bei Le Corbusier, das „petit théâtre de la mode“ (Kleines Theater der Moden) und eine lange Bildstrecke über das befreite Elsass. Dazu diverse Buchillustrationen und sehr viel einträglichere Werbeaufnahmen.

Geblieben sind – und bleiben wird, das macht dieses Buch klar – die »nicht an der Börse notierten Werte«. Rund sechs Jahrzehnte lang fotografiert er wie ein geduldiger Angler, was an ihm vorbeizieht. So sehr ist er in seine Arbeit vertieft, dass er gar nicht gemerkt habe, »wie die Zeit vergeht, so sehr war ich mit dem Schauspiel beschäftigt, das meine Zeitgenossen mir unablässig und umsonst boten, und ich habe sie dabei, wo sich eine Gelegenheit bot, im Vorübergehen mit einem Bild erfreut.« In all diesen Jahrzehnten erzählt Doisneau uns unermüdlich Geschichten voller Gefühl, Poesie und Humor, verzaubert mit seiner Kunst verzaubert der stillschweigenden, flüchtigen Anteilnahme. »Die Welt, die ich zu zeigen versuchte, war eine Welt, in der ich mich selbst wohlfühlte, eine Welt mit liebenswerten Menschen, wo ich die Zuneigung fand, nach der ich mich sehnte. Meine Fotos sind so etwas wie der Beweis, dass es diese Welt geben kann.«

Humor ist dabei in nicht wenigen Bildern ein wesentlicher Bestandteil. Doisneau setzt ihn mit Fingerspitzengefühl ein: »Humor ist eine Form des Feingefühls, eine Art, Dinge nur anzudeuten, sie behutsam anzusprechen, mit einem Augenzwinkern. Humor ist zugleich Maske und Diskretion, etwas, hinter dem man sich verbergen kann. Man macht zarte, scherzhafte Anspielungen, scheint es gar nicht wirklich anzusprechen und bringt es gleichwohl zum Ausdruck.«

So verzaubert er uns, anhaltend, er und seine Stadt Paris.

Alf Mayer

 PS. Das ikonische Bild Kuss vor dem Hôtel de Ville, das auch das Cover ziert, entstand 1950 im Auftrag von Life, belastete dann seine letzte Lebensphase mit einer absurden gerichtlichen Auseinandersetzung. Ein Paar verklagte ihn 1993 (43 Jahre nach der Aufnahme), weil es glaubte, sich in dem Bild wiederzuerkennen, und dafür eine finanzielle Entschädigung forderte. Den Prozess erlebte er nicht mehr. Die Forderung besaß keine Grundlage.

Ein ausgebranntes Auto, Quartier Latin, Mai 1968 © alle Fotos: Robert Doisneau/ Taschen
Jacques Tati und sein Fahrrad

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