Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Ingrid Mylo: Judith Kuckart, Ulrike Schrimpf, Marica Bodrožić

Kindheit und Mandelbäume

Ingrid Mylo über drei neue Bücher


            Wer von seiner Kindheit erzählt, läßt sich auf Täuschungen ein, auf Taschenspielertricks und faulen Zauber und jongliert, wie jeder, der so tut, als würde er sich erinnern, mit Fakten und Vorlieben und Wünschen, von denen man wollte, sie wären wahr. Judith Kuckart hat das sehr geschickt drauf, dieses Hantieren mit Gold und Talmi: abgesplitterte Partikel vergangener Tage, Mutmaßungen, Gerüchte, Einbildungen, Eigenes und von anderen Geborgtes. (Man kann sich ein Vergnügen daraus machen, in dem, was ihre Figuren sagen, die Buchtitel anderer Autoren zu entdecken. Moosgrün, sagt sie, sei ihre Lieblingsfarbe: wie eine Verneigung in Richtung Mayröcker: ‚da ich morgens und moosgrün‚ beginnt der auffällige Titel ihrers letzten Gedichtbandes).

„Was ich nicht verstanden habe“, schreibt Kuckart, „erfinde ich“, und sie schreibt, als stelle sie sich ihr Ich als Kind vor mit dem dazugehörigen Laternenbewußtsein, in dessen Schein die später getrennten Sinne noch miteinander spielen bis weit in die Nacht. Es ist ein ausuferndes Spiel, ein wildes Bemühen, dem, was häßlich ist in ihrem Leben, und das ist nicht wenig, etwas Märchenhaftes entgegenzusetzen, etwas, das aus der Sackgasse führt, in der die Mauern mit Obszönitäten vollgeschmiert sind. Wer so aufwächst, wird mitunter weise vor der Zeit: altklug hat man solche Kinder auch genannt, die früh zu dem werden, was sie heute noch sind. Oder vorgeben zu sein.

Wer von seiner Vergangenheit erzählt, weiß, was noch kommen wird, später, danach: und so erliegt Kuckart der Versuchung, Andeutungen zu machen, Hinweise zu streuen auf das Zukünftige, wie schon im Voraus heimlich aufgefingerte Geburtstagspäckchen: es geht nicht um Überraschung, es geht um Vorfreude. Und es geht um Möglichkeiten, um Verwerfungen, um Orientierung. Da stehen so viele Fragezeichen, Fühler, die am Ende so vieler Sätze verunsichert nach einem Ausweg tasten, auf der Suche nach sowas wie sicherem Boden unter den Füßen, den es in der Erinnerung nicht gibt.
            Da sind, neben den weitreichenden Formulierungen, auch ganz albern banale, die auf der Stelle treten (und daß sie an späterer Stelle wiederholt werden, macht sie nicht besser).
            Da sind großartige Bilder: eine Straße, „die durch den Samstag führt“, alte Frauen, die eine Stimmung „am Ende nur noch mit den Bäumen vor dem Fenster teilen“, da deuten schief geknöpfte Jacken auf Schneefall hin, da blühen Mimosen in Rom, da sind Rehe und Rapsduft und die Zärtlichkeit einer Betrunkenen, „die einen Laternenpfosten umarmt“.
            Da sind so viele Begriffe, die ich für die ‚Spielworte‘ markiere: Lügen, Wetter, Schweigen, Zusammenhang, Schwanz, Geschmack, Bleistift, Sommer, Gurken, Spiegel, Eidechse…
            Und dann steht da der Name von einem, den ich mal gekannt habe, bevor er sich aufgehängt hat an einer Türklinke in Kanada. (Als er mich eines Abends, da wohnte er noch in Frankfurt, abgeholt hatte, dachte ich auf dem Weg in die Kneipe, ich lauf ja heut komisch. Das lag nicht an ihm, das hat an der Dunkelheit im Flur gelegen und an der Eile, mit der ich in Schuhe von zwei völlig unterschiedlichen Paaren geschlüpft bin. Sie hatten nichtmal die gleiche Farbe). Das nur am Rand: aber das ist so ein Buch, das sich ins Leben derer mischt, die es lesen.
            Da ist soviel Schönes und Seltsames und Anregendes, manches lose gereiht wie Vorstellungen von Gedichten, noch im Werden begriffen, aber schon zuende erklärt.
            Doch, ich mag, bei all meinen kleinlichen Beanstandungen, immer mehr als genug an Kuckarts Romanen, daß ich jeden neuen von ihr lesen werde.

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Und warum ich, während ich die Gedichte von Ulrike Schrimpf lese, schon wieder Judith Kuckart vor Augen habe: keine Ahnung, nur ein Vielleicht aus vielen Eindrücken. Weil das Gesicht hinten in der ‚Welt zwischen den Nachrichten‘ auch zu den Zeilen vom ‚anfällig gewordenen Herz‘ paßt, dieses mitgenommene Gesicht, beschädigtes Porzellan, übermalt, um die Risse zu kitten, um die Liebe zu retten, mit der man die Puppe als Kind an sich gedrückt hat im blinden Glauben, das, was nach dem Einschlafen kommt, besser zu überstehen. Weil beide Bücher die Empfindung aufgeschürfter Haut hervorrufen, Fingerknöchel, die an einer Hauswand entlangschrammen, auf der sie trotzdem kein Rot hinterlassen. Und andere Assoziationen: Räume, in denen es nach Desinfektionsmitteln riecht. Ernsthafte Unterhaltungen mit allem, worin man sich spiegelt. Scherben und angesengte Gefühle und Selbstbehauptung. Rollsplitt im wunden Hirn.

Was Ulrike Schrimpf unter Überschriften wie ‚flammen‘, ‚grüner tee‘, ‚verhör‘ oder ‚Wenn du nackt bist‘, versammelt, liest sich wie Beschwörungen: die Furcht, es könne nicht gut enden, verkehrt sie in Trotz: soll aber. Da ist etwas Beißendes, etwas Mutiges auch, offen zur Schau gestellte Verletzungen, sowas wie Stolz liegt darin: das zu zeigen, was andere schamvoll verstecken, es zu tragen wie Schmuck. In einem schon älteren Roman (der nichts mit alldem hier zu tun hat), bin ich gerade auf ein Zitat gestoßen: „How come you’re not ashamed of what you are?“ Genau das ist sie nicht: und würde es jemand zu ihr sagen, spuckte sie ihm ins Gesicht.

Und sonst: stieben zerfledderte Tauben durch die Seiten, ohne Chance, sich irgendwo niederzulassen: aus den Zeilen ragen Glassplitter, die trügerisch in der Sonne funkeln. Und noch ein Eindruck: abgefunden klingen die Verse nicht und doch so, als sei die Hoffnung auf dem Seziertisch gelandet. Nein, die Gedichte sind nicht über einen Kamm zu scheren, manchmal sind die Worte sehr eng und fest vernäht und schneiden ins eigene Fleisch, manchmal wachsen die Sätze gefügig ineinander, üppige Vegetation, und vor allem die längeren, beinahe elegischen Stücke, wenn ein langsamer Singsang anhebt und anschwillt und mitnimmt, was sich am Tagesrand an Bruchstücken angesammelt hat, an Wut und scharfkantigem Wissen, steter Strom, vor allem die längeren lassen sich auf keine Verhandlung ein.

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Und dann ist da Marica Bodrožić, mal wieder, Befriedung und Glück von so zarter Art, daß es kaum wahrnehmbar ist. Glück wie das feine Summen von Insekten, während man im sommerlichen Gras nach Klee suchte, der das eine entscheidende Blatt mehr hatte (meist waren es aber zwei mehr oder drei: galten die auch?). Was mich bei ihr immer aufs Neue erstaunt: mit welcher Leichtigkeit sie all die Beschädigungen, und ohne ihre Schrecken und Schrecklichkeiten um ein Gran zu mildern oder zu verharmlosen oder erträglicher zu machen, wie leicht sie dennoch all das ihr einst Angetane in Mittel verwandelt, die zu iher Heilung beitragen, zu ihrer Reifung. Es hat ja nicht aufgehört, die Bestrafungen ihres Vaters, selbst als sie älter wird, die Drohungen ihrer Mutter, sie an einem Baum aufzuknüpfen, sie zu verbrennen, das Hungern und der Mißbrauch und die Gewalt: aber sie hat die Natur, die ihr Beistand leistet: Bodrožić holt sie sich tief ins Herz. Ins selbe Herz, in das sie beim Abschied von ihrem Großvater „die Kirschblütenstille“ gelegt hat, im Norden wird es ihr, wenn sie nach Deutschland zieht, zum Grab, ein paar Zeilen später zur Laterne und in einem Traum zur leuchtenden Sonne. Und sie hat Verbündete in den Tapetenmustern, sie hat ihre Phantasie und eine Großmutter, die war Schamanin, und so fühlt sie sich verbunden mit allem, was lebt, unterhält sich mit Schachbrettblumen, Planeten, den Wurzeln der Bäume, dem Wind. Der Schnee hilft ihr zu denken und das Gras zu widerstehen. Kaum Seiten, in denen es nicht wächst und blüht und fliegt, „der grüne Gesang der Pflanzen“, heißt es, und „die Sprache der Vögel“, und von denen gibt es, wie in all ihren Büchern, unendlich viele, dazu Mandelbäume, Rosenkäfer und Margeriten, Maiglöckchen, Schlangen, Lilien, Kornblumen, Kräuter, Regenwürmer, Basilikum, Feigenbäume: lauter Schutzgeister gegen die grüne Schnapsflasche, die aus ihrem Vater einen Helden macht und einen, der die Familie zerstört.

Wie Kuckart schreibt auch Bodrozic, als sei sie noch Kind, zwar eins von ganz anderer Art, aber eben doch Kind, das schreibt, wie Kinder die Welt zu sich nehmen, unmittelbar, ungebrochen. Wunder, hat mal einer gesagt, seien an Kinder verschwendet: sie halten sie für etwas Normales. Selbstverständlich wie der Tod, der in diesem Roman ebenso einfach geschieht, Esel sterben und Babys schon in der Wiege, und dann gibt es doch wieder Krieg, und es sterben noch mehr. Auch der Umgang mit Zeit folgt einem kindlichen Verständnis, was vorher ist, was später, wohin die Gegenwart reicht: Chronologie ist ein unzureichendes Konzept, das vieles unerklärt läßt. „Zeit als gerade Linie“, steht bei Maria Tumarkin in ‚Die Geschichte wiederholt sich‚, „ist eine Monstrosität.“ Bodrožić Sätze dauern, in ihnen vergehen Gefühle, Lieder und Landschaften. Und dann ist es doch erst der Morgen ganze Jahre zuvor. Das lesen: ein Schwebezustand, der es möglich macht, in mehreren Räumen und Zeiten zu leben, gleichzeitig, ohne daß auch nur der Bruchteil einer Sekunde vorüber ist. Und von der Zeit kommt sie, wie auch nicht, aufs Nichts, mit dem alles anfängt, kommt auf den „Buchstaben auf der Wiese der sprechenden Gründe“, auf „die Regungen des Reises“ (ja, ihre Liebe zum Genitiv, manchmal bietet sie ein wenig zuviel des Guten, Süßen, und man verdirbt sich den Magen: was soll’s, auch das gehört in der Kindheit dazu), sie kommt auf den Atem, den Himmel, auf Gott und das Licht, auf Bücher, Zahlen und Steine und immer wieder aufs Nichts.

Schlangenverschlingung, Weltverdauung: und man gerät in ein philosophisches Taumeln, das nur aufhört, wenn man das Vorhandensein von mehr als drei Dimensionen als Wahrheit akzeptiert.

© 2024  ingrid mylo

– Judith Kuckart: Die Welt zwischen den Nachrichten. DuMont, Köln 2024. 192 Seiten, gebunden mit 25 Abbildungen, 24 Euro. Verlagsinformationen.
– Ulrike Schrimpf: Mein anfällig gewordenes Herz. Mit Radierungen von Axel Holst. Corvinus Presse, Berlin 2024. Siehe auch den Textauszug in dieser Ausgabe nebenan. Der Band erscheint im Oktober 2024.
– Marica Bodrožić: Herzflorett. Penguin Verlag, München 2024. 288 Seiten, Hardcover, 24 Euro.

Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Siehe auch: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.

In 2023 von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.

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