Geschrieben am 15. November 2017 von für Bücher, Crimemag

Sammelband: „Gefangen. Eine literarische Inventur“

_gefangen 71531Die Würde zurückgegeben

Gefängnistexte aus drei Jahrhunderten

Ein schöner Band, fast minimalistisch gestaltet, auf jeden Fall würdig, findet Alf Mayer.

Keine einfache Sache, ein Buch über „Leben und Hoffen hinter Gittern“ zu machen (so der Untertitel) und dem Thema auch gestalterisch und visuell gerecht zu werden. Das Urteil kann jedoch schon vorab verkündet werden: Rundum gelungen, lautet das Verdikt. Ehrlich gesagt, hätte mich alles andere bei diesem Verlag gewundert, trotzdem ist es schön, dann auch bei solch einem Thema wieder ein schönes Buch von „Corso in der Verlagshaus Römerweg GmbH“ in der Hand zu haben. Verleger Lothar Wekel und Stefan Geyer haben ihr Bestes gegeben, vermutlich sogar etwas mehr als sonst Herausgeber so tun (können).

Der Auftritt ist rundum großzügig zu nennen. Das fängt an mit den drei Fotodoppelseiten vorne und zwei Bilddoppelseiten hinten als Entree und Ausklang. Das sind der Satzspiegel mit großzügigem Weißraum, der sehr lesbare zweispaltige Textlauf, die großzügig gesetzten Illustrationen und alles zusammengenommen, die – auch wenn das seltsam klingen mag – beinahe feierliche Würde, die da ein Buch seinen Texten angedeihen lässt. Schnell für den 328 Seiten starken Band eingenommen haben mich das idealtypische Format, das mattgestrichene Papier und das vorbildlich übersichtliche Inhaltsverzeichnis über vier Seiten. Hier hat man, und ist immer und immer wieder zu spüren, einer schönen Idee auch Platz gegeben. Hier hat niemand gesagt: Aber es wäre billiger, vier Seiten einzusparen. Dieses Buch atmet.

In gewisser Hinsicht ist es eine – zumindest ästhetische – Wiedergutmachung für viele der Autoren, die alle eines gemeinsam haben: Sie waren „Gefangen“, so der Buchtitel. Und die neue Freiheit, in der sie sich nun versammelt wiederfinden, ist tatsächlich „Eine literarische Inventur aus drei Jahrhunderten“. Peter Zingler erinnert in seinem angenehm bodenständigen Vorwort zurecht daran, dass das Schreiben im Gefängnis nicht unbedingt willkommen ist und dass Henry Jaeger seine guten Gründe hatte, seinen auf Klopapier geschriebenen Romantext immer unterm Hemd mit in die Freistunde zu nehmen. „Es wäre doch eine Schande, wenn irgendein Knastbeamter den Text von ‚Die Festung’ gefunden und im Klo hinabgespült hätte.“

prisonImmer wieder Überraschungen, diese Texte haben Freigang

Rund 95 Prozent der Texte hat Stefan Geyer zusammengetragen, die anderen Lothar Wekel,
der auch mit Unterstützung von Mitarbeiterinnen, die Bildauswahl besorgt
hat.  Es war eine umfangreiche und lange Arbeit. Der Band beginnt mit den üblichen Verdächtigen: Ciacomo Casanova und seine „Flucht aus den Bleikammern von Venedig“, ein Gefängnis-Gedicht von Johann Gottfried Herder, ein Brief des Marquis de Sade an Madame, Jeremy Benthams Entwurf für ein Panoptikum (siehe auch die CrimeMag-Besprechung dieser Schriften). Bemerkenswert, dass die Bildredaktion dann ein doppelseitiges Bild vom Crest Hill Gefängnis in Illinois montiert, die visuelle Anschauung des vorangegangen Textes.

Dann der Freiherr von der Trenck, die „Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben“ von Charles Dickens, ergänzt von einer Farbansicht des Newgate Goal. Balcaz, noch einmal Dickens, dieses Mal aus Philadelphia, Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, Maxim Gorki, Oskar Panizza, Paul Verlaine, die Frauenrechtlerin Emma Goldmann, der Anarchist Alexander Berkman, natürlich auch Rosa Luxemburgs „Briefe aus dem Gefängnis“, Klabunds Zellen-Verse. Erich Mühsam, Ernst Toller, umfangreich der Kommunist Max Hoelz – und da sind wir erst auf Seite 100.

Viele Überraschungen warten dann noch. Das Buch beweist politisches Interesse und Rückgrat. Chelsea Manning und die türkische Autorin Gaye Boralıoğlu sind unter den aktuellsten „Insassen“.

Ein kommentiertes Autorenregister und sehr sauber geführte Quellennachweise runden den rundum empfehlenswerten Band ab.

Alf Mayer

Stefan Geyer, Lothar Wekel (Hrsg.): Gefangen. Leben und Hoffen hinter Gittern. Eine literarische Inventur aus drei Jahrhunderten. Corso Verlag – Corso 54, Wiesbaden 2017. Format 21 x 26 cm, bedruckte Vorsätze, vierfarbiger Druck, Fadenheftung, gebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen,. 328 S., 90 Abbildungen, 48 Euro.

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