Geschrieben am 16. Februar 2013 von für Bücher, Crimemag

Jeremy Bentham: Das Panoptikum

MSB_Bentham_Panoptikum_Umschlag.inddEin Klassiker des Gefängniswesens

– Jeremy Benthams „Panoptikum“ endlich zugänglich und neu bewertet – eine Besprechung von Alf Mayer.

Wie eine Detektivgeschichte liest sich diese Neubegegnungen mit einem wichtigen klassischen Text, der in keiner Kulturgeschichte des Gefängnisses respektive des Ausbruchs fehlen dürfte: Jeremy Benthams „Panoptikum oder Das Kontrollhaus“. Was Herausgeber Christian Welzbacher als Band NF 014 der Reihe Batterien im Verlag Matthes&Seitz nun vorlegt, ist nicht nur editorisch sorgfältig und buchgestalterisch gediegen, es ist vor allem inhaltlich eine kleine Sensation.

1791 in 500 Exemplaren veröffentlicht, erscheint der knapp 100 Buchseiten umfassende ursprüngliche Text nun erstmals vollständig auf Deutsch, für die eigene Urteilsfindung unerlässlich. Bis heute gibt es keine endgültige oder gar kritische Ausgabe des Gesamtwerks von Jeremy Bentham (1748–1832), wohl aber hartnäckig verfestigte Urteile über ihn. Der Sozialreformer Bentham, so das allgemeine Urteil, das sei ein früher Verfechter des Überwachungsstaates.

PanopticonÜberwachen und Strafen

In Benthams Panoptikum, dem idealen Gefängnis- und Erziehungsbau mit strahlenförmig angeordneten Trakten, genügt ein im Mittelpunkt des runden Gebäudes sitzender Aufseher, um all die Delinquenten einer gleichzeitigen, permanenten Überwachung zu unterziehen. Michel Foucault sah in seinem Werk „Überwachen und Strafen (1975) Benthams Gefängnisbau als Prototypen für die latente Perversion bürgerlicher Aufklärung, als die Schizophrenie eines Liberalismus, der stets das Gute will und stets das Böse schafft.

„Im Assoziationsfeld des Überwachens (vor allem in seiner paranoiden, pervertierten, entfesselten Form)“, schreibt Christian Welzbacher in seinem erhellenden Nachwort, „hat Jeremy Benthams ‚Panoptikum‘ neben George Orwells ‚1984‘ einen festen Platz … ein geradezu traditionell gewordenes Missverständnis, das Foucault nur noch endgültig festschrieb. So ist das ‚Panoptikum‘ ein Meisterstück angewandter, in ihrer Anwendung gescheiterter Aufklärung – ja mehr noch: Symbol für das Scheitern der Aufklärung selbst.“

Laut Foucault hatte Bentham eine „Machttechnologie gefunden, die geeignet ist, die Überwachungsprobleme zu lösen“, und das mittels Architektur. Für ihn war er das ergänzende Gegenstück zu Rousseau, der laut Foucault von einer transparenten, in jedem ihrer Teile sowohl sichtbaren als auch lesbaren Gesellschaft träumte, in der es keine Dunkelzonen, keine Privilegien gibt. Jeder sollte von der Stelle aus, die er innehat, das Ganze der Gesellschaft sehen können. Foucault kannte, als er das schrieb, das „Panoptique“, eine 1791 erschienene Kompilation der Texte Benthams, die der Genfer Publizist Etienne Dumont verfasst hatte. Nun liegt der ganze Text vor, und es lässt sich lesen, wie viel Platz und Bedeutung Bentham eben gerade nicht der Bestrafung, sondern der Besserung einräumte, wie er einen – wirtschaftlich-utilitaristisch – modernen, aufklärerischen Ansatz verfolgte gegenüber dem herkömmlichen primitiven, in vieler Hinsicht unproduktiven Strafsystem.

NPG 413; Jeremy Bentham by Henry William PickersgillDie Seelen zu formen …

Die Sitten reformiert, der Gesundheit einen Dienst erwiesen, das Gewerbe gestärkt, die öffentlichen Ausgaben gesenkt, die Wirtschaft gleichsam auf ein festes Fundament gestellt, der Gordische Knoten der Armengesetze nicht durchschlagen, sondern gelöst – all das durch eine einfache architektonische Idee. So sah Jeremy Bentham seinen Entwurf von „Panoptikum oder Kontrollhaus“, den er als Folge von im russischen Kritschew geschriebenen Briefen im Jahr 1787 nach England sandte. Eine neue Methode sei es, „die darauf abzielt, durch die Kraft des Verstandes die Seelen in einem Umfang zu formen, wie es bislang ohne Beispiel ist, und das bis zu einem ebenfalls beispiellosen Grade, abgesichert gegen Missbrauch durch Jeden, der sich entscheidet, sie anzuwenden“.

Gefängnisausbrüche ließen sich wegen der permanenten Überwachung leicht vermeiden, postulierte er, sogar das Anlegen von Ketten wäre unnötig. Bentham dachte philosophisch, politisch, ökonomisch und sozial, das im vorliegenden Band enthaltene „Selbstgespräch“ gibt seine Grundzüge des Utilitarismus in knappen Sätzen wider. Seine Gefängnispläne umfassten auch die Verwaltung, die Kosten für die Gefangenen sollten letztlich auf Null gesenkt werden können. Wichtig dafür eine Unternehmensführung auf Vertragsbasis, es musste im Interesse des Geschäftsführers liegen, so viel Arbeit wie möglich aus den Gefangenen herauszuholen, ohne ihnen Schaden zuzufügen.

Mehrere editorische Notizen, eine frühe Einordnung Benthams durch Henry Sidgwick, ein ausführliches Gespräch mit Michel Foucault zum „Auge der Macht“, ein Essay von Andreas L. Hofbauer, eine ausführliche Zeittafel und das schon erwähnte Nachwort von Christian Welzbacher öffnen immer wieder neue Fenster und Sichtweisen auf einen oft zitierten, aber – wie man nun merkt –doch wenig bekannten und verstandenen Grundtext der geschlossenen Gesellschaft, die sich Gefängnis nennt, und der unsere zivile Welt doch in so vielen sich immer mehr annähert. Urlaube werden offen als Ausbrüche angepriesen, unsere Fußfesseln sind heute elektronisch und heißen GoogleMaps, Facebook oder WhatsApp.

Alf Mayer

Jeremy Bentham: Das Panoptikum (Panopticon or The Inspection-House; aus dem Jahre 1787). Aus dem Englischen und mit einem Essay von Andreas L. Hofbauer. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christian Welzbacher. Mit einem Essay von Henry Sidgwick und einem Interview mit Michel Foucault. 221 Seiten. 12 Abbildungen. Gebunden mit Schutzumschlag. Berlin: Matthes&Seitz 2013. 221 Seiten. 26,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Porträt: Jeremy Bentham by Henry William Pickersgill oil on canvas, exhibited 1829 NPG 413/© National Portrait Gallery, London.

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