Geschrieben am 17. Oktober 2017 von für Bücher, Crimemag

Ein Roman – zwei Perspektiven: Kerstin Ehmer: Der weiße Affe

511lxxTrW5L._SX333_BO1,204,203,200_Ute Cohen und Joachim Feldmann haben sich unabhängig voneinander diesen Roman angesehen und sind beide sehr angetan.

Die goldenen Zwanziger …

Von Ute Cohen

Ein jüdischer Bankier, der sich bei seiner Walküren-Geliebten mit Schweinswürsten überfrisst, der aufgespießte Rotschopf einer polnischen Kostümbildnerin und ein weißer Porzellanaffe – Kerstin Ehmers historischer Krimi Der weiße Affe spielt im Berlin der 20er-Jahre, einem Moloch, der an Maupassants Paris und David-Lynch-Grotesken erinnert. 

Der Plot erscheint zunächst simpel: Der Bankier Eduard Fromm wird ermordet im Treppenhaus seiner Geliebten aufgefunden. Der junge, aus der Provinz stammende Kommissar Ariel Spiro geht übereifrig ans Werk und blamiert sich bis auf die Knochen. Vom Liebeskummer geplagt, der Häme missgünstiger Kollegen ausgesetzt, scheint Spiros Großstadt-Exkursion gescheitert. Dann aber ereignet sich ein zweiter Mord, dessen Brutalität den Jagdinstinkt des Kommissars aufpeitscht.

Halluzinationen

Die parallelen Erzählstränge, die Ermittlungen im Fall des ermordeten Bankiers und die Drogenhalluzinationen eines eingesperrten Kindes überkreuzen sich in einem fatalen Ereignis. Spiro irrt durch Berlin, stolpert durch den Modder und macht bei Leydickes süßem Bitter und jüdischer Gans im Scheunenviertel Bekanntschaft mit allerlei Sumpfblüten. 
ber4Prostituierte und die aufklärerische Sexualmoral Magnus Hirschfelds treffen auf ausgezehrte, Windeln kochende Proletarierinnen, Zuhälter, Hehler und die Vorboten des Nationalsozialismus. In seinen rauschhaften Streifzügen durch Berliner Biotope verliert sich Spiro in Schein und Sein: Ein jüdischer Bankier wird von seinen Kindern Shylock getauft, nach Shakespeares Kaufmann, dessen Schuldner mit dem eigenen Fleisch büßen müssen. Und wie steht es mit Ariel Spiro selbst: Ist er nach dem Löwen Gottes oder nach Shakespeares versklavtem Luftgeist benannt?

Kommissar

Ehmer spielt mit Identitäten und führt den Leser ebenso wie ihren Kommissar auf falsche Fährten. Als Symbol für diese Irrfahrten pflanzt sie gleich zu Beginn den »Weißen Affen« auf. Ob der Porzellanaffe tatsächlich Teil des »Judenporzellans« ist, das Friedrich der Große Moses Mendelssohn zum Kauf gegen das Privileg einer Heirat aufgezwungen hat, ist historisch nicht belegt. Um den Affen ranken sich Geschichten, die so unwahr und so wahr sind wie das Jüdischsein der Hauptfiguren. Der Porzellanaffe steht im Biedermeier-Puppenstübchen der Prostituierten, wird vererbt an die Bankierstochter, die freidenkerische Amazone Nike, und zerschellt schließlich in einem Audi-Erben-Suppen-Aufprall auf der Gitschiner Straße. 
Er steht symbolisch für Antisemitismus, verlorene Identitäten und animalische Rohheit. Ariel Spiro verfolgt er bis in seine Träume: »Auf einem hohen, dreibeinigen Tisch hockt er selbst, gemacht aus Porzellan, hält mit kurzfingrigen, haarigen Händen seinen langen haarigen Schwanz, große Zähne grimassieren ein Grinsen im weißen Affengesicht.« Erst nach Auflösung der Mordfälle und einem Gespräch mit der Mutter findet Spiro Erlösung. Der Konflikt zwischen Assimilation und Selbstbehauptung zersplittert wie der Affe, Symbol der Grausamkeit der Obrigkeit gegen jüdische Denker.
Ehmer begleitet die Entlarvung, die Suche ihres Kommissars in einer Sprache, die trotz ihrer bildlichen Strahlkraft weder anbiedernd noch falsch wirkt. Der Metaphernreichtum passt zu Figuren, die sich selbst als erschaffen fühlen »wie ein Golem«, verkleidet und geschmückt oder tönern und leer. Und trotz aller Grausamkeit schenkt Ehmer uns einen Hoffnungsschimmer. Ariel Spiro ist ein Retter: »Im Talmud steht, dass die Welt trotz all ihrer Sünden nicht untergeht, solange auf ihr noch 36 Gerechte leben, die in der Not mittels ihrer selbstlosen Taten uns alle retten.« Berlin ist nicht verloren.

(Dieser Artikel erschien zuerst in der Jüdischen Allgemeinen.)

berGrell und expressiv

Von Joachim Feldmann

Kommt ein Provinzler nach Berlin, dann kann er was erleben. Selbst ein für sein Alter ziemlich erfahrener Kriminalbeamter wie Ariel Spiro, den es 1924 aus dem 25.000-Einwohner-Städtchen Wittenberge an der Elbe in die Reichshauptstadt verschlägt, bleibt diese Erfahrung nicht erspart. Schon beim ersten Besuch in einem anrüchigen Lokal wird ihm die Brieftasche samt Dienstausweis geklaut. Aber das ist natürlich nicht alles. Ein jüdischer Bankier ist ermordet worden. Spiro soll ermitteln und leidet sofort an Reizüberflutung. Ein Wunder ist das nicht:  Schließlich bekommt er es mit einer bemerkenswerten Familie zu tun. Vor allem Nike, die grünäugige Medizinstudentin, nebenbei als Sexualtherapeutin im berühmten Hirschfeld-Institut tätig, muss sich gar nicht anstrengen, um Spiro den Kopf zu verdrehen. Energisch verfolgt er falsche, aber hochinteressante Fährten, um am Ende beinahe zufällig auf den wahren Täter zu stoßen. Wer aufmerksam liest und sich ein wenig im Genre auskennt, weiß natürlich schon früher Bescheid. Dafür sorgt der mankellmäßig arrangierte Plot. Der Spannung tut das keinen Abbruch.

Die Fotografin Kerstin Ehmer, Betreiberin der Berliner Victoria Bar, erweist sich in ihrem Krimidebüt „Der weiße Affe“ als gewiefte Erzählerin. In einer expressiven Sprache, fast an der Grenze zur Selbstparodie, entwirft sie ein grelles Bild der einzigen deutschen Metropole während ihrer wilden Jahre. Gleich zu Anfang wird Ariel Spiro von seinem Zug auf den Bahnsteig „gespuckt“, abends  im gemieteten Zimmer drohen Möbelstücke „mit dunkel gemaserter Größe“ und beim Besuch in der Nachtbar Kokotte „schmollen ihm“ Münder „dunkelrote Schlachtreihen des Begehrens entgegen“.  Da zu widerstehen, fällt schwer. Am Ende fühlt sich Spiro wie ein „geschlagener Krieger“. Und  fährt zurück in die Provinz. Aber vieles spricht dafür, dass es bei einem kurzen Heimatbesuch bleibt. Zu hoffen wäre es.

Kerstin Ehmer: Der weiße Affe. Pendragon Verlag, Bielefeld 2017. 279 Seiten, 17,- Euro.

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