Geschrieben am 2. August 2024 von für Crimemag, Litmag, Special Thomas Wörtche, Thomas Wörtche

D.B. Blettenberg, Jochen Brunow, Theo Bruns/ Rainer Wendling, Gerhard Beckmann

D.B. Blettenberg: Die Ferne kann nicht trennen

Nun also der 70ste.

   Seinen 65sten Geburtstag hat Thomas Wörtche auf der griechischen Insel Leros — die für eine Dekade mein freiwilliges Exil in der Ägäis war — gefeiert. Er lud bei Popis ein, einer einfachen und etwas abgelegenen Taverna an der Bucht von Merikiá. Wir saßen am Ufer über dem Strand und tauschten uns wie so oft über Gott und die Welt aus. Er war im Urlaub, residierte in einem kleinen Hotel in Álinda, aber auch hier wurde gearbeitet. Er bereitete sich auf einen Beitrag über einen etwas in Vergessenheit geratenen englischsprachigen Thriller-Autor vor.

   Soweit ich mich erinnere, begegnete ich Thomas Wörtche zum ersten Mal bei den Erlanger Poetentagen. Es ging um das Thema politischer Spannungsroman. Er hatte mich eingeladen, um mit Stefan Murr und Peter Zeindler zu lesen. Wir schauten vom Podium auf rund tausend Zuhörer, die auf Biergartenbänken hockten, hinab. Ich las damals aus Blauer Rum. Das war im August 1989, also vor 35 Jahren.

Seitdem hat Tom meine Arbeit kontinuierlich begleitet. Er hat meine Romane als Kritiker wahrgenommen und einige meiner Kurzgeschichten und Essays als Herausgeber an prominenter Stelle platziert. Auch meine oft jahrelangen Abwesenheiten in Übersee änderten daran nichts. Ich erinnere mich, dass ich im Dezember 1993 in Managua eines jener Thermopapier-Faxe von ihm erhielt, in dem er über seinen Besuch bei Ross Thomas berichtete, dessen Haus in Santa Monica dem kalifornischen Feuersturm zum Opfer gefallen war. Ein tragisches Ereignis, das der von uns verehrte Autor wohl mit beeindruckendem Stil ertragen hatte.

Die Ferne war, was uns in Kontakt hielt. Ich hoffe, das bleibt so. Ich wünsche Thomas Wörtche zu seinem 70sten nur das Allerbeste. Möge er es noch lange machen.

D.B.Blettenberg

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Jochen Brunow: „Writers Tears“, aber keine Angst …

Petra Hardt verabschiedete sich gerade aus ihrer Rolle bei Suhrkamp und bereitete ihren Abschied von Berlin vor, als ich ihr erzählte, dass ich keine Drehbücher mehr schreiben wolle und an einem Kriminalroman arbeite. „Du musst unbedingt Thomas Wörtche kennen­lernen. Also wirklich unbedingt! Der Mann weiß alles über Kriminalliteratur und er verlegt sie auch.“ Und natürlich schaffte sie es, uns beide zusammenzubringen. Was sie nicht sagte, war, dass dieser Mann nicht nur alles über Kriminalliteratur weiß, sondern sein genereller Kenntnis­reichtum schier unbegrenzt ist. Was unteranderem an seinem rekordverdächtigen Lese­tempo und Lesepensum liegt. Er argumentiert im Gespräch meinungsstark, aber überhaupt nicht verbissen, was der coolen Lakonie seines wunderbaren Humors geschuldet ist. Es war ein riesiges Geschenk, das Petra mir machte, als sie mich mit Thomas bekannt gemacht hat.

Er hat meinen Roman dann nicht bei Suhrkamp veröffentlicht, er passe halt nicht in sein Programm. Aber außer dem trockenen Kommentar „Kann man so machen“ gab es dann doch den einen oder anderen entscheidenden Hinweis und Ratschlag. Ich verdanke ihm viel. Vor allem die Ermutigung weiterzumachen, trotz vieler anderer Verlagsabsagen. Und auch, dass es nach dem Experiment mit Books on Demand dann doch noch geklappt hat mit einem Verlag.

Jedes Mal, wenn wir uns zu Gesprächen im Büdchen am Lehniner Platz gegenüber der Schaubühne treffen, lieber Thomas, ist es ein Vergnügen, mit Dir zu plaudern. Meist ist es ein unverbindlicher, aber äußerst unterhaltsamer Austausch, aber in einigen wichtigen Momenten blitzt dann doch immer wieder Entscheidendes auf. Ich möchte diese Gelegenheit nicht missen und schätze mich glücklich, Dich zu kennen. Ich freue mich auf unser nächstes Treffen, es warten dann auf Dich „Writers Tears“. Keine Angst ist nur irischer Whisky.

Alles Gute, alles Liebe, langes Leben und auch weiterhin frohes Schaffen.
Dein Jochen

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Theo Bruns & Rainer Wendling

In dem linken und engagierten Buchkosmos, in dem sich auch der Verlag Assoziation A bewegt, war und ist uns Thomas Wörtche fast unweigerlich ein kontinuierlicher Begleiter – sei es als Herausgeber & Verleger, als Rezensent oder Juror diverser literarischer Bestenlisten. Stets sucht er im Krimi die gesellschaftskritische Tiefendimension und in der schönen Literatur die weite Welt. Und mit dem Alter wird der Horizont nicht kleiner, sondern größer.

Freiheit & Glück für die nächsten Jahrzehnte wünschen dir

Theo Bruns & Rainer Wendling

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Gerhard Beckmann: Ein Hoch auf Thomas Wörtche – mit persönlichen Erläuterungen

Als den „Krimi-Papst“ hat Elmar Krekeler, einer der besten von den dem Publikum nahestehenden Literatur-Redakteuren unserer namhaften Feuilletons, Thomas Wörtche vor einigen Jahren in der „Welt“ bezeichnet, um dessen herausragende  Autorität und Geltung allgemeinverständlich zu etikettieren. (Das fragliche Interview ist mit freundlicher Genehmigung von Elmar Krekeler nebenan in diesem Special dokumentiert., d. Red) Und es gibt hier zu Lande ja  auch niemanden sonst, der so extensiv wie intensiv, urbis et orbis, eine gute Hand über das riesige, magnetisch anziehende und babylonisch verwirrende Genre der Thriller-, Kriminal- und Spionage- Romane hält, der generell aufzuklären vermag und im Konkreten so verlässlich wie brillant verständlich Orientierung gibt. Thomas Wörtche ist tatsächlich eine Autorität.

Hommage von Hartmut Andryzuk für TW zum 70.

Aber er ist, lieber Elmar Krekeler, alles andere als ein Krimi-Papst, Er bildet zum Beispiel in allem, was ihn auszeichnet, geradezu einen Gegenpol zu unserem letzten Literaturpapst. Marcel Reich-Ranicki hat eine eigene klanonmische Orthodoxie großinquisatorisch durchzusetzen versucht und sich dazu selbst als Re-Inkarnation der größten klassischen deutschen Literatur- und Kulturkritiker wie Gotthold Ephraim Lessings inszeniert. Es war ein verzweifelter letzter Versuch, in Deutschland  „Hochliteratur“ als Leitkultur zu re-installieren. Doch gerade auf diese Weise hat Literatur – als Literatur aus der Perspektive eng literarästhetischer Kriterien beziehungsweise von Disziplinarien gängiger Literaturwissenschaft – endgültig die letzten Quadratmeter eines gesellschaftlichen und kulturellen Resonanzbodens verloren.

Ich bitte um Nachsicht für den vielleicht allzu polemisch anmutenden Unterton dieser einleitenden Bemerkungen. Aber ich möchte Thomas Wörtche hier jetzt nicht einfach mit freundlichen Lobesworten zu seinem siebzigsten Geburtstag gratulieren, nur um dem Freund eine Freude zu machen und öffentlich meiner Bewunderung zu versichern. Ich möchte die Gelegenheit gern nutzen, um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser ein wenig bewusster zu machen, w a r u m wir alle Thomas Wörtche großen Dank schulden und w o r i n eigentlich das Besondere seines Lebensweges und die Bedeutung seines schier unglaublich hohen persönlichen Engagements und immensen Arbeitseinsatzes für die Kultur unseres Landes nun schon seit Jahrzehnten besteht – in der Hoffnung, dass seine Lebensneugier, Lebenslust und -kraft ihm noch ad multos annos erhalten bleiben.

Was ihn, vor allem anderen, kennzeichnet: Er ist nie in einer abgesicherten, vorgezeichneten, festumrissenen Position tätig gewesen, hat nie als Angestellter oder Beamteter einer Organisation gearbeitet. Er hat sich nie auf und mithilfe der Plattform einer Autorität und Respekt verleihenden, vorantreibenden etablierten Institution wie einer Universität, dem Lektorat eines maßgeblichen Verlages  oder der Redaktion einer Zeitung beziehungsweise Zeitschrift profiliert. Ist konsequent allen Gefährdungen aus dem Weg gegangen, irgendwie als Rädchen in einem Räderwerk abhängig und steuerbar zu werden. Er folgte einem ganz persönlichen Antrieb von Ahnungen, Neugierden, Interessen. Sie waren und blieben unorthodox und breit gefächert. So hat er sich entfalten können. Denn er ließ sich eben nie über einen Leisten schlagen.

Natürlich hat Thomas Wörtche studiert, Germanistik und Philosophie, in Bochum und Konstanz. In Franken hielt es ihn nicht lang, weil die berühmte „Erlanger Schule“ von Paul Lorenzen und Wilhelm Kamlah nach dem Fortgang ihrer bedeutenden Schüler – der Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Kuno Lorenz, Jürgen Mittelstraß und Friedrich Kambartel – bereits ihre Beweglichkeit verlor; Mittelstraß ist dann in Konstanz sein Co-Doktorvater geworden. In „Schulen“ und intellektuellen Stabilbaukasten-Systemen findet Thomas Wörtche bis heute nicht sonderlich viel Sinn und Verstand. Da hält er sich zum Beispiel, auch privat, als Refugium, doch lieber an den singulären  Denker Ludwig Wittgenstein, in dessen Licht bisher Unerklärliches immer wieder erkennbar und „energising“ wird.

Der Drang zu Eigenregie und Unabhängigkeit muss von Anfang an stark gewesen sein. Er schien ihn auf abseitige Geleise zu führen. Oder war es ein Gespür für an Wegrändern liegende und ignorierte Phänomene, in denen Ansätze zu Erneuerungen und Weitungen von Kunst und Literatur keimten, im Cross-Over mit Auswirkungen von  Massenbildung und – medien der modernen Industriegesellschaft, in Aufnahmer der unablässigen Erschütterungen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Verwerfungen des  20. Jahrhunderts mit seinen Weltkriegen und Massenvernichtungen, das Thomas Wörtche zur Unabhängigkeit motivierte?

Da ist etwa die Dissertation, mit der er 1987 in Konstanz promoviert wurde. Es ist eine – bis heute gefragte, und lieferbare! – Studie „zum strukturellen Kriterium  eines Genres“, der phantastischen Literatur. Das „Genre“ wurde trotz großer literarischer Qualitäten und höchster politischer Relevanz von Autoren wie Stanislaw Lem, Isaac Asimow oder Boris und Arkadi Strugatzki bei der Science Fiction, trotz der spektakulären Rezeption der neuartigen, meisterlichen „Hobbits“- und „Narnia“-Romane von literar- und kulturwissenschaftlichen Koryphäen wie den Oxford- und Cambridge-Professoren J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis, die zudem noch die Germanenmythologie der Nazis wissenschaftlich als falsch und politisch als völkischen Irrsinn entlarvt hatten, vom deutschen kulturellen Establishment wie, noch mehr, an den Universitäten einfach ignoriert. Thomas Wörtche hat sich auch intensiv mit der Entwicklung von modernen Kunstformen und Pop-Massen-Kulturen wie Film, Comics und Jazz befasst. Sein Hauptschwerpunkt ist aber die Kriminalliteratur geworden. Er hat sich also auf die kritische Wahrnehmung von Ordnungen, Strukturen, rationalen Denkschemata und von Ideologien in Grau-, Grenz- und Konfliktzonen konzentriert, auf die Darstellung von Extremlagen und –empfindungen, auf Gefahren-, Druck- und Bruchstellen des Lebens.

Kein „Mandarin“, sondern mittenmang zu sein

Aus der Vogelperspektive, von oben „über den Gipfeln“ ist all das nicht zu erfassen. Auch darum kann Thomas Wörtche nicht päpstlich sein und will auch in keiner Weise Krimi-Papst sein. Er hat es sogar dokumentiert. In einer sehr umfangreichen Sammlung seiner einschlägigen journalistischen Arbeiten bringt er keinen Text auf den neuesten Stand seines Wissens und Verstehens. Sie sollen da, mit allen Beschränkungen und eventuellen Fehleinschätzungen des Erst-Erscheinungsdatums, unrevidiert, mit ihm selbst zur Diskussion stehen, als Archiv und Kulturspiegel für die Entwicklung einer individuellen, maßgeblichen Rezeption von Krimi, Thriller und Spionageroman in unserem Land. 

Und wenn der obige Abriss, was ich befürchten muss, Ihnen zu abstrakt und zu sehr von oben hin erscheinen sollte, kann ich nur gestehen, dass ich es im knappen Rahmen hier einfach nicht besser kann. Ich vermag es  auch nicht, das mit Anekdoten oder Details aus der Biographie von Thomas Wörtche beziehungsweise seiner Kommunikation mit  Autoren zu veranschaulichen. Monographien über Schriftsteller haben mir nicht weitergeholfen. Ich war, und bin, jedoch überzeugt, dass Ihnen hier nur mit dem Zeugnis oder persönlichen Bericht eines Autors „aus der Szene“ gedient sein könnte, dessen Erfahrungen, Erkenntnisse und Schilderungen uns Deutsche unmittelbar berühren und betreffen, an denen die Entwicklung dieses Genres mitsamt  ihrer Hintergründe ja bis in die 1980er eigentlich vorbeigegangen ist; der also auch für uns irgendwie repräsentativ, nachvollziehbar und erhellend wirken kann. In England, Frankreich und den USA habe ich niemand zu entdecken vermocht, der uns vielleicht stellvertretend ‚ansprechen‘ könnte. Ich glaube, ihn schließlich im Italiener Ignazio Silone (1900 – 1978) gefunden zu haben. Er war übrigens Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache in Darmstadt und ist, hervorragend übersetzt, bei  Kiepenheuer & Witsch verlegt worden.

Er wurde als Secondo Tranquilli in den Abruzzen geboren, wo seine Familie im Erdbeben von 1915 Leben und Existenzgrundlage verlor. Überlebt haben nur sein Bruder und er. Mit siebzehn Jahren hat er zum ersten Mal rebelliert und sich politisch bekehrt, weg von der Moral des Christentums, die er als Schüler in einem Priesterseminar hörte und im täglichen Leben des Umfelds konterkariert fand. Er beteiligte sich an Aufständen der Landarbeiter und trat der sozialistischen Jugend bei. Vier Jahre später wurde er überzeugter Marxist und Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei in Livorno, die ihm über zehn Jahre, in der Illegalität, alles bedeutete. Bis er hier er dem gleichen Widerspruch zwischen Lehre und moralischer Praxis begegneter wie in der katholischen  Kirche.

So wurde er, der von der faschistischen Regierung Verbannte, zudem von der KPI diskreditiert und verstoßen und ging in doppeltem Exil in die Schweiz. Seinen ersten Roman „Fontamara“, der den Niedergedrückten, Entrechteten und Opfern des Faschismus in seiner ländlichen Heimat eine Stimme gab, konnte er nur, und das unter Lebensgefahr, mit einem Pseudonym veröffentlichen, das er dann seither als Namen führte: Ignazio Silone.

Im Schweizer Exil, in Zürich, wurde er zum Weltbürger. In Italien wurde er nach der Rückkehr als Schriftsteller – mit inzwischen vier Romanen – abgelehnt: vom Neorealismus literarisch, von der Öffentlichkeit, weil er bei ihr mit seiner moralisch-religiösen Grundhaltung aneckte, bei den Kommunisten sowieso, die ihm mit ihrem großen Einfluss auf die damaligen Intellektuellen eine geistige Heimat nahmen. Die Sozialistische Partei, die er 1946 in der Verfassungsgebenden Versammlung vertrat, verspielte sich und ihren humanen Sozialismus in endlosen Aufsplitterungen, Re-Unions und neuerlichen Spaltungen, so dass Silone verbittert austrat und sich ab 1949 von jeder aktiven Beteiligung an der Politik zurückzog. Er hat sich danach als „Sozialisten ohne Partei und Christen ohne Kirche“ definiert.

Es ist fast so, als hätte Ignazio Silone mit seinem autobiografischen „Notausgang“ – er hat  ihn in den turbulenten 1960ern geschrieben und publiziert, endlich auch in Italien die nachhaltige Wirkung und Bedeutung verschafft, die er international und auch in Deutschland auf Grund seiner Romane längst  besaß. Mir kommt es so vor, als hätte er in diesem Buch die Lebensaufgabe und den Weg für Thomas Wörtche vorgezeichnet.

Silone hat die totale Desillusionierung mit allen Ideologien, mit allen politischen Parteien und Bewegungen festgestellt. Im Westen hat er die Entmythologisierungen persönlich durchlebt. Im Osten registrierte er beispielsweise die Moskauer Schauprozesse und die stalinistischen Straflager als Mitglied einer Komintern-Delegation. In einer der scharfsinnigsten Analysen des  Faschismus hat er sogar den bedrohlichen allgemeinen Rechtsruck in der gegenwärtigen EU vorausgesehen.

Literarisch wird die Enttarnung der Politik insbesondere im Genre des Kriminalromans aufgenommen, wird fassbar und kritisch präsent. Thomas Wörtche widmet diesem Genre nicht umsonst seit Jahrzehnten sein Hauptaugenmerk. Dass dieses „Genre“ ein sowohl intellektuell wie über die Buch-Massenmärkte breit bis in die Hochkultur durchschlagendes Segment geworden ist, liegt nicht zuletzt auch an der Arbeit von Thomas Wörtche. 

Diese Entwicklung erklärt sich weitgehend dadurch, dass sie primär „von unten“  kam und bis heute immer wieder von Pulp und anderen populären Künsten und Medien erweitert, aktualisiert und neugeformt wird –  ein Aspekt, der in unserem Land der Dichter, Denker und Epigonen gar nicht laut genug betont werden kann. Gerade von Thomas Wörtche wird er immer wieder in Erinnerung gerufen, Silone hat dem mit seiner These von der unabdingbaren Verankerung des Autors in seiner Heimat und  regionalen Kultur zusätzlich Ausdruck verliehen. (Dieser Welt-Literat ist in all seinen großen Romanen Mit-Mensch und Sprecher der Armen in den Abruzzen geblieben.)

Die in diesem Zusammenhang spezielle Relevanz der Krimi- und Thriller-Autoren ist jüngst durch zwei umfassend gründliche Sachbücher erhärtet worden. Der erfolgreiche, preisgekrönte Crime-Schriftsteller Martin Edwards, als Präsident des britischen Detection Clubs Nachfolger von u.a. Dorothy  Sayers, Agatha Christie und G.K. Chesterton, hat in seinem „Life of Crime“ nachgewiesen, dass und in welch vielfältig konstruktiver Weise die Schriftsteller dieses Genres eine einzigartige  Community bilden. Einer solchen Community ist auch Thomas Wörtche mit seinen persönlichen Netzwerken als Vertrauter, Freund, Helfer, Berater und Vermittler zugehörig.     

Obendrein gibt  es nun die Monographie „Perplexing Plots: Popular Storytelling and the Poetics of Murder“ von  David Bordwell. Es hat offenbar dieses hochrangigen  Filmwissenschaftlers bedurft, um in einer dicht dokumentierten und schlüssig argumentierten Analyse die in deutschen Gebildetenkreisen noch immer kursierende Legende endgültig ad acta legen zu können, dass Massenkultur auf  einer Popularisierung und Trivialisierung von gediegener Elitekunst beruhe. Stattdessen gibt es oft die umgekehrte Wechselwirklung, dass moderne „Massenproduktion“  ein authentischer Ausgangspunkt und Humus für Edelgewächse sein kann.

Die beiden Sachbücher erfordern auch Umkehrungen und Vertiefungen im rezeptionsgeschichtlichen Denken. Sie belegen hieb- und stichfest: Es ist die starke Verbundenheit von „niederen“ Autorinnen und Autoren  mit ihren Lesern und Leserinnen,  die dynamische künstlerische Prozesse in Gang setzt, einerseits, und andererseits im „Breitenpublikum“ die Akzeptanz neuer Kunstformen und kognitiver Sichtweisen und Gewohnheiten initiiert und fördert.

All das stützt die Erwartung und Hoffnung Ignazio Silones auf eine Zukunft, in der eine neue Literatur den Individuen mit ihren existentiellen Selbstbestimmungs-Bedürfnissen Raum lässt gegen die zunehmenden Übergriffe von politischen Formationen in Verbindung mit ausufernden Bürokratien und totalitären Kapital- und Technologie-Imperien, eine historisch gewachsene  Gesellschaft zerstören. Und es definiert die wachsend bedeutsame Rolle jener Kriminal-, Spionageromane und Thriller, die das heute zentrale Problem eines nihilistischen Kampfes von Staatsorganen gegen den Menschen in seiner Gesellschaft aufgreifen – wie Thomas Wörtche sie exemplarisch bei Suhrkamp  herausgibt.     

Hier muss schließlich eine Antwort auf die Frage gesucht werden: Wie kann Thomas Wörtche so etwas – und quasi im Alleingang – überhaupt gelingen?

Nun, er ist Herausgeber. Das heißt, er erhält, ähnlich wie ein Autor, Honorar. Darum ist er, notabene, kein Verlagsangestellter. Thomas Wörtche ist demgemäß völlig frei, als kultureller Akteur, publizistisch, in seinen Autoren-Netzwerken er selbst zu sein. Er ist also kein Amtsträger, kein Funktionär einer Organisation, kein Manager, der (auch) ganz andere als persönliche Interessen vertritt. Er erfüllt genau die Bedingung, die Ignazio Silone als Voraussetzung zu Arbeit für wahre Kultur entdeckte: kein „Mandarin“, sondern mittenmang zu sein; Mensch unter und für Menschen.

Idealistisch tönt das, künstlerisch, wunderbar. Ich bin mit beidem persönlich vertraut, von der Pike auf mit leitenden Positionen im Angestelltenverhältnis wie mit dem Dasein eines Freiberuflers. Deshalb darf und muss ich Ihnen versichern: Die freie Existenz, für die Thomas Wörtche sich von Anbeginn frei entschieden hat, erfordert die permanente Bereitschaft und Fähigkeit, hohe Risiken einzugehen und auszuhalten. Thomas hätte ja auch Cheflektor eines größeren Verlags oder, als Universitätsprofessor, ein Landesbeamter werden können. Und es war ein hartes Brot, dass er sich so anders verdienen musste – mit Literaturkritiken und Essays „unter anderem in den Zeitungen Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, taz, Feitag, Die Woche, Weltwoche. Im Deutschlandfunk Kultur ist er mit Beiträgen zur Kriminalliteratur regelmäßig ‚auf Sendung‘.“  

So auf Wikipedia nachzulesen. „Für verschiedene Verlage gab und gibt er Krimi-Anthologien heraus. Von 1999 bis 2007 gab Thomas Wörtche die Reihe „metro“ in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag heraus. Von 2012 bis 2014 war er Herausgeber der Reihe „penser pulp“ in Zusammenarbeit mit diaphanes… Wörtche organisierte Krimi-Events, so die Cream-of-Crime-Reihe und andere thematische Serien im Bertolt-Brecht-Haus in Berlin sowie die Reihe „Krimis machen“ zusammen mit Tobias Gohlis… Thomas Wörtche war Juror der KrimiZEIT-Bestenliste, ist Jurymitglied des Deutschen Krimi-Preises und war Juror der Bestenliste ‚Weltempfänger’ der litprom“, heißt es da.

Noch eine große Kleinigkeit in Sachen Kultur und Globetrotterei: Thomas Wörtche hat sich auch ein fantastisches Universalwissen wie auch diverses Spezialwissen angeeignet, zum Beispiel über Geheim- und Sicherheitsdienste weltweit. 

All  das bedeutet auch ein schier unvorstellbar großes Arbeitspensum, eine fast unglaubliche Selbstdisziplin, die Fähigkeit und Willenskraft mit irrwitzigen Terminplänen und Überlastungen klarzukommen. Und dabei immer wieder Zeit zu haben für unvorhersehbare Gespräche in seinem Autoren-Netzwerk.  Auch für solch es Immer-auf-der-Höhe-Sein schulden wir ihm Dank, großen Dank. Wie für die vielen in- und ausländischen  Autoren und Autorinnen, die er entdeckt, betreut und/oder durch gesetzt hat.

An dem neuen Aufschwung des Suhrkamp Verlags in der jüngsten Zeit hat Thomas Wörtche mit seiner Reihe  entscheidend beigetragen. Nicht zuletzt dank seiner Arbeit am und mit dem „Genre“  ist dieses Haus endlich wieder – vielleicht sogar mehr denn je – literarisch innovativ und lebendig und mit seinen Literatur-Programmen ein echter Publikumsverlag geworden.

Gerhard Beckmann ist einer der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellte kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier. 

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