Geschrieben am 3. Juli 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2024

Textauszug Ross Thomas – Eine Kindheit im Bordell in Shanghai

Endlich liegt im Rahmen der Ross Thomas Gesamtausgabe im Alexander Verlag der umfangreichste Roman des Großmeisters zum ersten Mal in einer vollständigen und brandneuen Übersetzung vor. Alf Mayer hat sich darüber – hier nebenan in dieser Ausgabe – auch mit den Übersetzern Gisbert und Julian Haefs unterhalten.

Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und den Übersetzern präsentieren wir Ihnen hier als Textauszug aus »Die Narren sind auf unserer Seite« (The Fools in Town Are on Our Side, 1970) das Kapitel 10. Es geht um die Kindheit des Protagonisten Lucifer Dye im besten Bordell Shanghais in den 1940ern.

Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite (The Fools in Town Are on Our Side, 1970). Politthriller. Aus dem Amerikanischen von Gisbert und Julian Haefs. Vollständige und erstmals komplette Neuübersetzung. Alexander Verlag, Berlin 2024. 584 Seiten, 20 Euro.

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10

Es muss im Herbst 1939 gewesen sein, als ich Gorman Smalldane zum ersten Mal begegnete. Ich war damals fünf, beinahe sechs, und nüchtern, und Gorman Smalldane war vierunddreißig und ein bisschen betrunken. Es war entweder Montag oder Dienstag, gegen zehn Uhr abends, und ich war wie gewöhnlich auf meinem Posten vor der Tür von Tante Katerines Freudenemporium und wartete auf zu begrüßende Kunden. Es gab nicht viele und ich war froh, als das Taxi vorfuhr und der Mann im blauen Anzug heraussprang, den Fahrer bezahlte und das polierte Messingschild musterte, um sich zu vergewissern, dass dies Nummer 27 war. Das war alles, was Tante Katerines Etablissement je als sichtbaren Ausweis hatte. Es war alles, was es brauchte.

Smalldane schob sich durch das schmiedeeiserne Tor (Tante Katerine behauptete, es stammte direkt aus New Orleans) in der Ziegelmauer und kam auf mich zu, wobei er nur hin und wieder ein bisschen schwankte. Ich trug meine schicke Uniform mit dem affigen Riesenhut. Mein Gesicht war gepudert und geschminkt und zwei fehlende Vorderzähne verliehen mir zusätzliche Pracht.

Smalldane blieb vor mir stehen, in seiner ganzen Größe von fast eins neunzig. Er kippte seinen blonden Kopf zur Seite und musterte mich sorgfältig. Dann kippte er ihn auf die andere Seite und musterte mich noch ein bisschen. Danach schüttelte er den Kopf in sanftem Unglauben und ging um mich herum, um zu sehen, ob der Anblick von hinten irgendwie besser wäre. Als er wieder vor mir stand, bückte er sich, bis sein Gesicht kaum mehr als zehn Zentimeter von meinem entfernt war und ich den Whisky riechen konnte. Es war Scotch. »Also, was in Satans Namen sollst du denn darstellen, kleiner Mann?«, sagte er.

»Ich bin der elende Begrüßer der Kunden, Eure Lordschaft«, lispelte ich wegen meiner Zähne, wich einen Schritt zurück und verbeugte mich. Dann stürzte ich mich in eine lispelnde englische Version mit australischem Akzent der offiziellen Willkommensrede mit sämtlichen Verbeugungen und Gebärden und Grimassen.

Smalldane stand da, hörte sich alles an und schüttelte immer wieder den Kopf. Als ich fertig war, bückte er sich wieder und sagte: »Weißt du, was du bist, wie ich finde? Eine zahnlose Zimperliese.«

Ich offenbarte ihm die ganze Schönheit meines schwarz-weißen Lächelns, verbeugte mich wieder und sagte auf Kantonesisch: »Und deine Mutter, du besoffenes Schwein, war eine uralte Schildkröte, die sich von einem läufigen Köter hat besteigen lassen.« Das hatte ich irgendwo aufgeschnappt.

Immer noch gebückt, lächelte Smalldane und nickte, als stimme er mir absolut zu. Dann richtete er sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und sagte sanft: »Du solltest deine jauchetriefende Zunge hüten, du kleiner Lude für giftige Kröten, sonst reiße ich sie dir aus dem Mund und schiebe sie dir in den After, wo sie in der Brise deiner eigenen Winde flattern kann.« Sein Kantonesisch war so gut wie meins, seine Bildhaftigkeit kraftvoller.

Er machte mir keine Angst. Damals machte mir nichts Angst, wahrscheinlich weil ich durch und durch verdorben war. Aber Smalldane beeindruckte mich durch seine Größe und seine glänzende Beherrschung übler Beschimp- fungen. Ich verneigte mich wieder, ziemlich tief, und wies mit einer ausladenden Geste auf die Tür. »Hier entlang, Eure Lordschaft, wenn es Euch beliebt.«

»Für dich, Söhnchen«, sagte er und warf mir einen amerikanischen Halbdollar zu.

»Tausendfachen Dank, gütiger Gebieter«, sagte ich, noch so eine archaische Floskel, die mir irgendwer beigebracht hatte, die aber wegen meiner fehlenden Zähne mit Pfeifen und Zischen herauskam.

Smalldane ging durch die Tür und ich folgte ihm, teils, weil ich neugierig war, teils, weil das Geschäft sich eher schleppte, aber vor allem, weil ich die Tasse heißen Kakao haben wollte, die Yen Chi, Tante Katerines amah, mir jeden Abend zubereitete.

Ich war direkt hinter Smalldane, als die Madame des Hauses in die große Eingangshalle wogte. Sie blieb abrupt stehen, riss die Augen auf und hob die Hand an den Hals, eine dramatische Übung, die sie entweder von Norma Shearer oder Kay Francis übernommen hatte. Ich hatte oft genug gesehen, wie sie sie vor ihrem Spiegel übte. Aber dieses eine Mal ließ sie Pose Pose sein, lief mit ausgestreckten Armen auf Smalldane zu und rief so laut sie konnte: »Gormy!« Er umarmte sie und küsste sie lange, während ich mit klinischem Interesse zusah. Das ist ein Vorzug, den das Aufwachsen in einem Bordell mit sich bringt: Bekundungen von Zuneigung und Gefühlen machen einen nie verlegen.

Es gab einiges an halben Sätzen und unverständlichen Brocken wie »du hast doch versprochen« und »ich konnte nicht weg« und »mehr als zwei Jahre ohne dich« und »so lange« und »wie gut das tut« und all die anderen Dinge, die zwei Menschen, die einander mögen, nach langer Trennung sagen. Ich stand da, wahrscheinlich mit einem kleinen Grinsen, schaute zu und lauschte.

Tante Katerine sah mich dann und winkte. »Lucifer, mein Lieber, komm her. Ich möchte dich mit einem sehr lieben, sehr alten Freund von mir bekannt machen, Mr. Gorman Smalldane, dem berühmten amerikanischen Rundfunkkorrespondenten. Gorman, das ist mein Mündel, Lucifer Dye.« Sie musste »Mündel« irgendwo nachgeschlagen haben; es war nämlich das erste Mal, dass ich sie dieses Wort benutzen hörte.

»Mr. Smalldane«, sagte ich und verbeugte mich steif, eher auf europäische als auf chinesische Art. Eines der Mädchen aus Berlin hatte es mir beigebracht. Sie hieß Ilse.

»Das ist ein unerträglicher kleiner Pinkel, wie?«, sagte Smalldane. »Wer zum Teufel lässt zu, dass er sich so anmalt?« »I think it’s sehr aufgeweckt«, sagte sie, weil in Shanghai damals niemand Bedarf an cute hatte.
»Sieht so aus, als ob du ihn für einen Job in Sammy Chings Lokal unten am Ufer ausbildest – wenn die Japsen das noch nicht dichtgemacht haben. Matrosen mögen kleine Leckerchen wie den da.«

»Also, da liegen Sie schief, Mr. Gorman Famous Smalldane«, sagte Tante Katerine. »Er ist einfach ein kleiner Junge und geht jeden Tag in die Schule. Drei Stunden.«

»Wo?«
»Hier. Wir unterrichten ihn hier.«
Smalldane grinste und schüttelte den Kopf. »Wetten, dabei lernt er jede Menge. Und alles nützliche Sachen.«  

Ich fand das Gespräch faszinierend, zweifellos deshalb, weil sie über mich redeten.

»Er kann schon bis mit zwölf multiplizieren«, sagte Tante Katerine; ihr Englisch nahm ab, wie ihr Ärger zunahm. »Willst du es hören? Wie viel ist zwölf mal elf, Lucifer?«

»Hundertzweiunddreißig«, sagte der unerträgliche kleine Pinkel.

»Da!«, sagte sie triumphierend. »Siehst du! Ich wette, du kannst das nicht, wenn du sechs bist.«

»Ich kann’s jetzt noch nicht«, sagte Smalldane. »Ich bin nie über elf hinausgekommen.«

»Und er spricht sechs Sprachen. Vielleicht sogar sieben. Wie viele konntest du sprechen, als du in seinem Alter warst, Mister Alldasgewusst?«

»Das heißt Besserwisser«, sagte Smalldane, »und ich bin gerade mal mit Englisch klargekommen, aber wenigstens hab ich mich nicht an Mutters Rouge und Puder vergriffen und hatte Hosen an, lieber Himmel, nicht Mamas Bademantel.«

»Jetzt magst du seine Kleider nicht«, sagte sie; ihre Stimme wurde lauter. »Jetzt machst du lustig wegen seine Kleider. Weißt du, wie viel das Gewand kostet? Weißt du, wie viele ich dafür bezahlt habe? Ich habe fünfzehn Dollar amerikanisch bezahlt, so viele nämlich.«

»Trotzdem sieht’s blöd aus.«

»Das ist nicht alles, was er hat. Er hat noch vier, genauso teuer. Und er hat feine amerikanische Kleidung auch, die kommt von einem berühmten Modehaus.«

»Sears, Roebuck?«
»Buster Brown, das ist es«, sagte sie.

»Jesus«, sagte Smalldane. »Ich geb’s auf. Sieh mal, Katie, ich bin nicht hergekommen, um mich über irgendeinen australischen Balg zu zanken, den du unbedingt großziehen willst. Es ist mehr als …«

»Ich bin kein Australier, Sir«, sagte ich. »Ich bin Amerikaner«, womit ich bewies, dass auch in den Besten von uns ein bisschen Chauvinismus steckt.

»Den Akzent hast du aber nicht in Pittsburgh aufgeschnappt, Junge.«

Ich stand kerzengerade da, kniff die Augen zusammen und rezitierte: »Ich bin sechs Jahre alt und heiße Lucifer Clarence Dye und wurde geboren am fünften Dezember neunzehnhundertdreiunddreißig in Moncrief, Montana, Vereinigte Staaten von Amerika, und mein Vater war Dr. Clarence Dye, und ich wohne Nummer siebenundzwanzig.«

»Okay, Lucifer«, unterbrach mich Smalldane. »Sehr schön. Ich glaube dir. Entspann dich.« Er kniete nieder, so dass sein Kopf auf der Höhe von meinem war und ich den Scotch wieder riechen konnte. »Hör mal. Ich sage dir, was wir morgen machen. Morgen machst du blau …«

»Was heißt blau machen?«, sagte ich.

»Du schwänzt die Schule, und wir ziehen los und beschaffen dir amerikanische Kleider, und vielleicht heben wir ein paar im Shanghai Club.« Er schaute zu Tante Katerine hoch. »Gibt’s den Schneiderladen vom alten Tschi Fo noch, du weißt schon, neben der amerikanischen Schule in der Französischen Konzession?«

Tante Katerine hob die Schultern als Zeichen, dass es ihr egal war. »Die Amerikanische Schule wurde vor zwei Jahren geschlossen, aber ich nehme an, Tschi Fo ist noch immer im Geschäft.«

»Hast du was dagegen, wenn ich den Jungen mitnehme?«

»Was sollte ich dagegen haben? Ich bin bloß eine arme Russin, aus ihrer Heimat vertrieben in dieses vom Krieg zerrissene Land, ohne Freunde und allein, und ich habe versucht, diesem armen Jungen ein Heim …«

Sie wollte eben die Nachbrenner zuschalten, als Smalldane sie abschoss. »Ich will ihn nicht adoptieren, verdammt, Kate, ich will ihm nur Knickerbocker aus Cord kaufen, damit er sie knarzen hören kann, wenn er herumläuft. Das ist sein Geburtsrecht. Ich hab erst welche gekriegt, als ich fast elf war, und bis dahin musste ich kurze Hosen tragen. Gott weiß, was das bei mir psychologisch angerichtet hat. Ich bin nicht sicher, aber vielleicht ist es schon zu spät.«

»Was meinst du mit zu spät?«, sagte sie.

»Für den Jungen. Andererseits«, setzte er nachdenklich hinzu, »könnte er einen guten Transvestiten abgeben.«

»Nimm ihn!«, schrie sie. »Kauf ihm, was immer du willst! Kauf ihm den – den ganzen Bund!«

»Was meinst du, Lucifer?«, sagte Smalldane, der noch immer vor mir kniete. »Hättest du gern eine Hose? Aus Cord?« Ich verbeugte mich auf chinesische Art und schenkte ihm dann mein schönstes amerikanisches Zahnlückengrinsen. »Sehr gern, Sir.«

»Gut«, sagte er, stand auf und wandte sich zu Tante Katerine. »Geht er jetzt schlafen oder lässt du ihn die Nachtschicht schieben?«

»Zum Teufel mit dir, Gorman«, begann sie, aber er klatschte ihr die flache Hand aufs Hinterteil und lachte. Es ist immer noch das ansteckendste Lachen, das ich je gehört habe. Dann lachte sie und er nahm sie bei der Hand und sie rannten beinahe die Treppe hinauf. Keiner von beiden sagte mir Gute Nacht. Yen Chi brachte mir meinen Kakao und ich trank ihn da in der Empfangshalle und dachte nach über Smalldane und Cord-Knickerbocker und Tante Katerine. Bei seltenen Gelegenheiten hatte ich sie mit besonderen »alten Freunden« nach oben gehen sehen und es hatte mir nie etwas ausgemacht. Diesmal schon. Ich war erst sechs und verstand es damals noch nicht, aber ich hatte eben nicht nur meinen ersten Nebenbuhler, sondern auch meinen ersten männlichen Freund getroffen. Oder cobber, weil ich ja so redete, als ob ich von da unten käme.

Gorman Smalldane war ein siebenundzwanzigjähriger United-Press-Reporter gewesen, als er Tante Katerine 1932 in Mukden begegnete. Die japanische Invasion der Mandschurei hatte gerade begonnen und Tante Katerine wollte dort weg. Mit Smalldanes Hilfe gelangte sie nach Shanghai, wo sie sich geschäftlich selbständig machte, einen wohlhabenden chinesischen Beschützer oder Gönner fand, der sich als die örtliche Version von Lucky Luciano herausstellte, und 1933 eröffnete sie ihren Palast der Sünde.

Ihr Sponsor war Du Wei-sung (andere schrieben ihn Dou Yen-Seng oder sogar Fu-Seng), ein Bauer, der in bester Horatio-Alger-Tradition als Obstverkäufer in der Französischen Konzession begonnen hatte. Er war ehrgeizig, hart und absolut skrupellos und machte den Opiumhandel zu seinem privaten Monopol. Er beteiligte sich auch an Glücksspiel, Prostitution und Schutzgeld und arbeitete schließlich von einem luxuriösen Anwesen mit hohen Mauern in der Französischen Konzession aus.

Da er sich selbst von der Opiumsucht geheilt hatte, was zeigte, zu welcher konzentrierten Selbstbeherrschung er fähig war, konnte Du sehr gut das reiche Potential einschätzen, das ein Drogenmonopol bot. Den Opiumhandel dominierte er vollständig, nachdem er die Rote und die Grüne Gesellschaft vereinigt hatte, zwei rivalisierende Gruppen, die als geheime politische Bruderschaften begonnen hatten, dann aber zu kriminellen Banden verkommen waren, die sich für alles interessierten, was einen schnellen Shanghai-Dollar versprach. Bis Du die rivalisierenden Banden vereinigte, brachten sie viel Zeit damit zu, in der West Side von Shanghai aufeinander zu schießen.

Als das Opium-Monopol sein Vermögen gesichert hatte, diversifizierte Du sich weiter und trat ins legale Geschäftsleben ein. Chinas Who’s Who führte ihn als Direktor von Papiermühlen, vierzig Banken, Baumwollfabriken und Schiffahrtsgesellschaften. Ferner war er Mitglied des Exekutivkomitees der chinesischen Handelskammer und erkaufte sich die Geschäftsleitung von Shanghais führender Tageszeitung The China Press, die zeitweise Shanghais wichtigste amerikanische Zeitung war.

Du schien in Sachen PR ebenso gerissen zu sein wie im Finanziellen. Er unterstützte zwei freie Krankenhäuser und diente als deren Präsident; er war der wichtigste Wohltäter mehrerer Waisenhäuser; er ließ Bettler auf seine Kosten bestatten und gab den wichtigsten Sponsor einer vorbildlichen Bauernkommune.

Außerdem organisierte er die Französische Konzession, und die zweitausend Franzosen, die dort lebten, waren bereit, seine zwielichtigen Nebengeschäfte zu ignorieren, solange er für eine Form von Recht und Ordnung sorgte. Tatsächlich waren sie so dankbar, dass sie ihn sogar in den regierenden Stadtrat der Konzession wählten.

Aber das, was vielleicht die Krönung von Dus Karriere war, verdankte er seinem Mitstreiter in der Tsching Pang oder Grünen Gesellschaft. Der Name des Mitgliedskollegen war Tschiang Kai-schek und er redete Du mit »Älterer Bruder« an. Als frisch konvertierter Methodist war Tschiang verständlicherweise besorgt über den zunehmenden Opiumhandel. Zu dessen Kontrolle schuf er, was er »Shanghai-Büro zur Unterdrückung von Opium« nannte, einen Zweig des Sechsjahresprogramms der Nationalistischen Regierung zur Opiumbekämpfung. Als Gegenleistung für die Ehre beschlagnahmte Du manchmal fünfzig Pfund Opium oder so und verbrannte es öffentlich. Alle fanden, das sei eine nette Geste. In der Zwischenzeit kontrollierte er den Opiumhandel, spendete den Nationalisten Millionen für den Kauf amerikanischer Kampfflugzeuge, und wann immer eine Epidemie oder Überschwemmung das Land heimsuchte, konnte man sich darauf verlassen, dass Du einen stattlichen Beitrag beisteuern würde.

Tante Katerine gab zwanzig Prozent ihres Gewinns an Dus Organisation weiter, und die Sittenpolizei fand nie die Zeit, sie zu behelligen.

Ich erfuhr bald, dass Gorman Smalldane nicht, wie von Tante Katerine behauptet, der berühmte Rundfunkkorrespondent war. Nach der Mandschurei hatte er weiter für United Press in Nanking gearbeitet, bis sie ihn nach Hongkong versetzten. Von da reiste er 1935 nach Äthiopien, um über Mussolinis Unternehmen zu berichten, und von dort nach Spanien, wo er Francos Seite des Bürgerkriegs beobachtete.

In Spanien traf er H. V. Kaltenborn, der damals zweimal pro Woche für CBS berichtete, 50 $ pro Sendung erhielt und seine Spesen selbst bezahlte. Im Oktober 1937 holte sich Kaltenborn eine schlimme Kehlkopfentzündung und konnte nicht auf Sendung gehen. Er bot Smalldane 25 $ dafür an, dass dieser in einen französischen Grenzort kam und die Sendung für ihn machte. Edward R. Murrow, damals Europa-Manager bei CBS, hörte sie, mochte Smalldanes Stimme und heuerte ihn als freien Mitarbeiter an.

Wahrscheinlich kannte Smalldane China besser als jeder andere amerikanische Korrespondent. Geboren wurde er 1905 in Kanton; seine Eltern, methodistische Missionare, waren tot. Mit einem Stipendium besuchte er die North- western University in Illinois – eine solide methodistische Einrichtung – und schloss 1926 sein Studium ab. 1927 kam er zurück nach Shanghai, und weil er fließend Chinesisch sprach, bekam er einen Job bei der damals amerikanisch geleiteten China Press und ging später zu United Press. Mit vierunddreißig, als ich ihn kennenlernte, betrachtete Smalldane sich noch immer als Waise, was uns verband und vielleicht auch irgendetwas über seine Persönlichkeit sagte.

Sein Fall – zumindest sein vorübergehender – kam 1939. Er hatte eine Reihe Artikel, die er »verdammt brillant« nannte, über Shanghai geschrieben, welche in den USA ungewöhnlich gut aufgenommen und weit verbreitet wurden. Dann kam er auf die Idee, eine Enthüllungsgeschichte über Du Wei-sung, den Opiumkönig, zu schreiben und über dessen Verbindung zu Tschiang Kai-schek. Er steckte sieben Wochen in harte, intensive Nachforschungen für die dreiteilige Serie und schickte diese in die Staaten. Der erste Teil erschien, die beiden anderen wurden begraben und UP feuerte Smalldane, vermutlich auf Betreiben von Tschiang selbst, der ihm dann die Akkreditierung für Tschungking verweigerte.

Auf Tante Katerines Drängen hin gab Smalldane sein Zimmer im American Club auf (sie bezahlte seinen beträchtlichen Deckel) und zog in Nummer 27. Er machte jeden Monat ein paar Sendungen für CBS, verkaufte als freier Journalist ein paar harmlose Artikel an die North American Newspaper Alliance, einmal auch ans Liberty Magazine, und machte einige ziemlich profitable Deals auf dem Schwarzmarkt. Falls Du Wei-sung wusste, dass Smalldane in einem der von ihm protegierten Bordelle wohnte, ohne für Kost und Logis zu zahlen, schien ihn das nicht zu stören, und der Amerikaner kam mit dem japanischen Number One Boy, Major Dogshit, prima aus. Aber Smalldane kam ja mit fast allen meistens prima aus, besonders mit mir.

Ich nehme an, bei mir war es so etwas wie Heldenverehrung. Er holte mich aus dem Brokatkleid und steckte mich in Cordhosen. Er brachte mir bei, einen Baseball wie ein Junge statt wie ein Mädchen zu werfen. Er verbrachte lange Stunden damit, mir Vorträge über die schwierigeren Aspekte und Feinheiten von Football zu halten, wenn ich auch noch nie ein Spiel gesehen hatte; er führte vor (oft), wie man einen guten Martini zubereitet; er ließ sich über die Verdienste von Franklin D. Roosevelt und die Mängel von Wendell Willkie aus, beschrieb die sexuellen Abirrungen von Adolf Hitler, erklärte die Tatsache, dass die Erde doch rund war, und prophezeite den kommenden Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan im Pazifik. Davon war Smalldane völlig überzeugt.

Zwar sprach Major Dogshit kein Englisch und Smalldane kein Japanisch, aber sie verständigten sich gut genug in einer Mischung aus Französisch, Chinesisch und ausdrucksvoller Zeichensprache. Und Anfang November 1941 kam es dazu, dass der Major, reichlich angetrunken, Smalldane etwas servierte, was der größte Nachrichtencoup der Geschichte hätte sein können. Der Major stattete Nummer 27 seinen letzten Besuch ab und war deswegen rührselig. Es betrübte ihn, dass er seinen großen Freund »Smardane« und seinen kleinen Freund »Rucifer« verlassen musste. Am meisten betrübte ihn jedoch, dass er seinen monatlichen Zuschuss samt freien Kostproben von Nummer 27 aufgeben musste, wo er, wie er uns versicherte, die glücklichsten Tage seines Lebens verbracht hatte. Er mochte Amerikaner, sagte er, oder jedenfalls meinten wir, das hätte er gesagt, und er wollte nicht gegen sie kämpfen.

Smalldane fragte, in welchen Teil Chinas er versetzt würde, aber Major Dogshit wackelte abwehrend mit einem Finger und schüttelte den Kopf. Nicht China, sagte er. Nicht mehr China. Er würde nach Süden gehen – ganz weit nach Süden. Er werde für intensives Training einer Spezialtruppe attachiert. Dann kicherte er und murmelte etwas auf Französisch über »aber nicht von See her, sondern von Land«. Danach kippte er um, und Smalldane wies einen der house boys an, ihn heimzubringen.

In dem von Tante Katerine so genannten »Gastlichkeitsraum« von Nummer 27 – eigentlich eine mittelgroße Cocktaillounge, in der Kunden die Ware begutachten konnten – versuchte Smalldane, aus der Sache schlau zu werden. Er holte eine Karte aus seinem Zimmer und breitete sie auf dem Tisch aus.

»Dogshit hat Süden gesagt«, sagte er.»Wo ist das?«, fragte ich.»Direkt nach unten, du unwissendes Stück Dreck«, sagte er auf Kantonesisch.»Wie kann es denn auf der Karte unten sein, wenn das doch da ist, wo wir jetzt sind?«, fragte ich; dabei wies ich nach links, und weil es eine sehr logische Frage war, sprach ich Französisch.

»Was steht denn da?«, fragte Smalldane; mit dem Finger klopfte er auf den Kompass der Karte.

»Wie soll ich das wissen?«, sagte ich. »Ich bin erst acht und kann weder lesen noch schreiben.«

»Himmel, das vergesse ich immer.«

»Ich kann jetzt aber schon das Einmaleins bis fünfzehn«, sagte ich. »Willst du wissen, wie viel fünfzehnmal vierzehn ist? Zweihundertzehn.«

»Kate!«, brüllte Smalldane hinüber zu Tante Katerine, die auf der anderen Seite des Raums den Eheproblemen eines kleinen französischen Beamten lauschte. Sie entschuldigte sich und kam an unseren Tisch.

»Wann bringst du ihm endlich Lesen und Schreiben bei?«, sagte er; mit dem Daumen deutete er auf mich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat noch viel Zeit. Vielleicht unterrichten wir ihn nächstes Jahr. Oder im Jahr danach. Du bist der Schreibexperte. Warum bringst du es ihm nicht bei?«»Ja, verdammt, ich fange sofort damit an!«Tante Katerine hob die Schultern und schwebte zurück zu ihrem Franzosen und den Problemen, die er mit seiner Frau hatte. Er war Stammkunde und kam eher wegen Rat als wegen Sex zur Nummer 27.

»Hier«, sagte Smalldane in strengem Ton zu mir. »Was ist das für ein Wort?«, und er klopfte mit dem Finger auf einen Punkt der Karte.

Ich schaute genau hin. »Das ist ein Punkt mit einem Kreis darum«, sagte ich.

»Nicht das Symbol, mein kleiner Rotzlöffel, sondern das Wort! Kennst du denn nicht mal das verdammte Alphabet?«»Ich bin erst acht und kann …«»Du fängst jetzt sofort an zu lernen«, sagte Smalldane.

»Das ist ein S, das ist ein I, das ein N und das ein G. Wiederhol das mal.«

»S-I-N-G«, sagte ich prompt und gähnte dann absichtlich. »Da ist doch nichts dabei, oder?«

»Was bedeutet das, du Dummkopf?« »Keine Ahnung.«»Es bedeutet Sing. S-I-N-G. Sing.« »Wie ein Lied«, sagte ich.

»Wie Singapur, du Ludenkröte.« Dann vergaß er seine Lehrer-Ambitionen und ließ den Finger nach Indochina hinabgleiten. »Sieh mal«, sagte er zu mir, weil er kein anderes Publikum hatte, »die Japsen haben schon Indochina und können von da los nach Malaya, um Singapur von hinten anzugreifen. Nach Süden, hat Dogshit gesagt. Und ich wette siebzehn Dollar und achtunddreißig Cent, dass das Singapur bedeutet, und zwar vom Land her, nicht von See.« Smalldane wettete immer 17,38 $ auf irgendwas. Ich habe nie erfahren warum.

Die nächsten vier Wochen war er den ganzen Tag und die halbe Nacht unterwegs, um eine Bestätigung für seine Theorie zu finden. Er lieh sich von Tante Katerine Geld, um japanische Offiziere betrunken zu machen und ein- fache Soldaten zu bestechen und Unteroffiziere dazu zu bringen, ihm das Wenige zu sagen, was sie über Truppenbewegungen wussten. Er verbrachte Stunden im Shanghai Club, wo er mit dessen britischen Mitgliedern über Malaya und Singapurs Verteidigungsstellungen redete. »Uneinnehmbar, old boy«, sagte er zu mir, wobei er ihren Akzent nachäffte. »Absolut uneinnehmbar.«

Ich wusste nicht, wann oder wo er das fand, was er für das letzte Puzzleteilchen hielt, aber er fand es, und dann verbrachte er drei Tage damit, eine Zweitausend-Wörter-Story abzufassen. Ich erinnere mich noch an den Aufmacher. Smalldane las ihn mir mindestens sechsmal vor:

JAPANS ARMEE WIRD ANFANG DEZEMBER OSTKÜSTE MALAYA ANGREIFEN UND DURCH DSCHUNGEL SINGAPURS UNGESCHÜTZTE RÜCKSEITE ATTACKIEREN ENTHÜLLEN ZUVERLÄSSIGE QUELLEN HIER HEUTE  

»Du hast ein paar Wörter weggelassen, oder?«, sagte ich, immer noch völlig ahnungslos, wo Singapur war.

»Die fügen die in New York wieder ein«, sagte Smalldane. »Willst du mitkommen, wenn ich’s abschicke?«

»Klar doch«, sagte ich.

Wir liehen uns Tante Katerines Airflow Chrysler und fuhren los zum Pressetelegrafenamt. Es war morgens am 8. Dezember 1941 und japanische Truppen nahmen uns fest, ehe wir auch nur den halben Weg zurückgelegt hatten.

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