Geschrieben am 3. Juli 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2024, News

Gisbert & Julian Haefs: Ross Thomas übersetzen – ein Interview

»Habt ihr solch einen Fall von Verstümmelung schon erlebt?«

Ein Interview von Alf Mayer mit Gisbert und Julian Haefs zu Ross Thomas‘ „Die Narren sind auf unserer Seite“

Für uns ist es klar eins der Bücher des Jahres. Endlich liegt der umfangreichste Roman von Ross Thomas erstmals in einer vollständigen – und dazu wunderbar polierten – Übersetzung vor. Alf Mayer hat sich mit den beiden Übersetzern, Vater und Sohn, Gisbert und Julian Haefs unterhalten.

Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite (The Fools in Town Are on Our Side, 1970). Politthriller. Aus dem Amerikanischen von Gisbert und Julian Haefs. Vollständige und erstmals komplette Neuübersetzung. Alexander Verlag, Berlin 2024. 584 Seiten, 20 Euro.

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Alf Mayer: Erst einmal Gratulation. Dieses Buch ist editionstechnisch ja der dickste Stein in der revidierten Neu-Edition von Ross Thomas im Alexander Verlag. Amerikanische Originalausgabe von 1970: 383 Hardcover-Seiten, deutsche Taschenbuch-Übersetzung bei Ullstein von 1972: 144 Seiten – und jetzt eure vollständige Neuübersetzung: 580 Seiten. Ist euch ein vergleichbarer Fall an Verstümmelung aus der Literaturgeschichte bekannt?

Julian: Ich habe 2016 für Atlantik »Das Schicksal in Person« von Agatha Christie neu übersetzen dürfen. Die deutsche Erstausgabe von 1972 war fast um die Hälfte gekürzt und ganze Passagen teils unsinnig umgestellt und neu zusammengefügt. Nach einem kurzen Blick in diese Fassung habe ich mich dann schnell dazu entschieden, sie nicht weiter zu Rate zu ziehen.

Gisbert: Nicht so exzessiv. Ich erinnere mich an Kürzungen in älteren deutschen Kipling-Ausgaben, aber da hatte man nur Dinge weggelassen, die der Übersetzer offenbar nicht verstand und lieber gar nicht als falsch wiedergab. Im »Genre«-Bereich hat man früher viel gekürzt, weil das Krimi- oder SF-TB aus Kostengründen nicht mehr als 12 Bogen=192 Seiten dick sein sollte. Aber diese Ullstein-Metzelei von 1972 untertrifft alles mir Bekannte.

Ullstein-Krimi 1440, 1972

Frage: Marilena Savino hat mir gesagt, sie habe als Lektorin so gut wie gar nicht in die Ullstein-„Übersetzung“ geschaut. Zitat: „Entweder hat die Stelle dort gefehlt, oder es war komplett unbrauchbar.“ – Wie seid ihr mit der alten Übersetzung umgegangen? Habt ihr die Ullstein-Übersetzung durchgearbeitet?

Julian: Nach Absprache nicht hineingeschaut, um sich nicht auf falsche Fährten locken zu lassen und dem Werk unbefangen und frisch zu begegnen.

Gisbert: Ich habe das deutsche Opus vor ca. 45 Jahren gelesen und nichts verstanden, weil eben zu viel fehlte. Ein weiterer Blick jetzt wäre mir ziemlich masochistisch vorgekommen.

Was fandet ihr besonders gravierend oder schade?

Gisbert: Das ganze Verfahren ist komplett indiskutabel, da braucht man nichts als »besonders« hervorzuheben.

Julian: Dem kann ich mich nur anschließen.

Es fehlen ja ganze Handlungsstränge, sogar Personal, unzählige erzählerische Details. Wie würdet ihr diese Art von Übersetzung/ diesen Übersetzer klassifizieren? Wie hätte Ross Thomas so etwas wohl genannt?

Julian: Ich finde es eigentlich unverantwortlich, so zu arbeiten, es war aber leider vor einigen Jahrzehnten noch Gang und Gäbe, den Originaltext zu beschneiden, um z.B. auf eine gewünschte Anzahl von Druckbögen zu kommen. Ross Thomas hätte mit Sicherheit einen bissigen und gelungenen Agenten- oder Kleidungsstilvergleich über die stümperhafte Ausübung professioneller Arbeit gefunden, den zu erdenken an seiner statt ich mir nicht anmaßen will.

Gisbert: Ross hätte wohl gegrinst und gefragt, wer besser bezahlt worden ist, der Übersetzer oder der Verstümmler.

Bei Ullstein fehlt ja sogar das Mark-Twain-Motto. Die „fools in town“ könnte man ja auch als „die Dummen“ übersetzen, ihr habt euch für „die Narren“ entschieden. Mich erinnert das als Titel sogleich ans „Narrenschiff“, an Eulenspiegeleien, den Simplicissimus, an die großen pikaresken Romane. Ist dieses Buch der große Schelmenroman von Ross Thomas?

Gisbert: Wir haben auch an »Trottel« gedacht, aber nicht an den schließlich doch moralischen »tumben Tor«. Bei Ross Thomas ist nichts allgemein moralisch; es gibt nur ein paar positive individuelle Beziehungen innerhalb der All-Gemeinheit.

Julian: Auch »Schafe« war mal in der engeren Auswahl, aber da es ja darum geht, dass sich die Bevölkerung von dem ganzen Hokuspokus zum Narren halten lässt, passt das schon am besten.

Was macht dieses Buch größer als manch andere seiner Romane?

Julian: Aus meiner Sicht definitiv die bunte und lebhafte Schilderung der wilden Kindheit des Protagonisten. Auch der Plot an sich ist schon besonders perfide gestrickt.

Gisbert: Es ist dicker, nicht unbedingt größer; ich mag da keine Abstufungen vornehmen, weil mir das gesamte Œuvre trefflich mundet.

Könnt ihr unsere Leser auf zwei, drei Passagen weisen, die euch beim Übersetzen besonders gefallen haben?

Julian: Für mich besonders die Schilderung der Kindheit des Protagonisten als kindlicher Türsteher im Bordell, mit wunderbar verschrobenen Figuren und herrlich blumigen Beschimpfungen (exemplarisch Kapitel 8 und 10). Außerdem die herrlich trockenen, zynischen Dialoge zwischen Dye, Lynch und Loambaugh (exemplarisch Kapitel 22 und 30).

Gisbert: dito.

Wie viele der Ross-Thomas-Neuausgaben habt ihr betreut/ revidiert/ neu übersetzt?

Julian: Ich habe mich sehr gefreut und geehrt gefühlt, für diesen einen Roman als Co-Pilot einspringen zu dürfen.

Gisbert: Ich habe diesen hier halb, »Seersucker Whipsaw« und »Die im Dunkeln« ganz übersetzt und bei etlichen anderen unterschiedlich gründlich an der Revision mitgewirkt.

Jetzt ist noch ein Titel in der Werkausgabe offen, oder? »The Seersucker Whipsaw« spielt in Afrika. Was dürfen wir erwarten? Und wie übersetzt ihr diesen Titel?

Gisbert: Wie schon erwähnt: Übersetzung ist fertig, noch nicht gesetzt oder durchgesehen, und wann das Buch erscheint, weiß der Verleger. Für den Titel nehmen wir gern Vorschläge entgegen …

Ihr arbeitet als Vater-und-Sohn-Team, wie geht das?

Julian: Wir haben halbiert und uns beim Tonfall natürlich abgestimmt. Vor Übersetzen meiner zweiten Hälfte habe ich die erste Hälfte meines Vaters gelesen und redigiert, um möglichst nahtlos anschließen zu können. Strittige oder knifflige Begrifflichkeiten haben wir immer wieder gemeinsam gewälzt und sind im Trio mit dem Verlag zu guten Lösungen gekommen.

Gisbert: Wie jede andere Zusammenarbeit – ähnlicher Zugang und gute Kooperation.

Es ist nicht euer erstes Projekt, oder?

Julian: Das stimmt. 2019 haben wir bereits Michael Caines Autobiografie »Die verdammten Türen sprengen« gemeinsam übersetzt, ebenfalls für den Alexander Verlag. Außerdem haben wir auch bei der Jubiläums-Neuübersetzung von Joseph Conrads »Nostromo« für Manesse zusammengearbeitet, die jetzt zufällig fast zeitlich mit den »Narren« erscheint.

Frage an Julian: Was ist das Besondere an Ross Thomas? Was magst du an ihm? Gibt es Dinge, die du anders siehst als dein Vater?

Julian: Thomas hat einen einzigartig trockenen und boshaften Tonfall und kommt bei tollen Dialogen teils über mehrere Seiten komplett ohne jegliche Füllwörter oder Einschübe aus, was mich extrem beeindruckt. Da wird man auch beim Übersetzen richtig mitgerissen. Und ich glaube, Diskrepanzen in der übersetzerischen Auffassung treten zwischen meinem Vater und mir am ehesten dann auf, wenn es um die Frage geht, welche Formulierungen und welches Vokabular heute noch geläufig ist, wie viel man der Leserschaft ohne Glossar zumuten mag, ob man manche Dinge etwas moderner verpackt, um mögliche Stolpersteine beim Lesen zu glätten. Das hält sich aber insgesamt sehr in Grenzen.

Die Ullstein-Übersetzung hat ja 1972 schon alles weggelassen, was heute anstößig sein könnte. Ihr habt euch für die volle Wahrheit entschieden. War das eine Diskussion im Verlag?

Julian: Nein, wir waren uns alle einig, dass es ikonoklastisch und allgemein nicht zielführend ist, Formulierungen, die man heute als überkommenen ansehen würde, zu zensieren. Aus meiner persönlichen Sicht: Erstens ist so etwas in sehr vielen Fällen (bei den »Narren« genauso wie bei »Wer die Nachtigall stört«, um das bedeutendste und wichtigste Beispiel zu nennen) stark verfälschend, da sich in den unterschiedlichen Tonfällen und der unterschiedlichen Wortwahl der Figuren gerade Rassenkonflikte überhaupt erst widerspiegeln. Und zweitens: Wie sollen wir als Gesellschaft je an den Punkt kommen, sagen zu können »Wir haben noch viel vor uns, aber auch schon einen weiten Weg zurückgelegt«, wenn wir alle Werke, die uns zeigen, wie viel weniger selbstverständlich Rassismus und das damit einhergehende Vokabular zum Glück heute ist, verändern und genau die Stellen tilgen, die einen solchen Vergleich und damit ein Lernen aus der Geschichte überhaupt erst möglich machen?

Gisbert: Auch gut gemeinte Zensur ist Zensur.

Wie zeitgemäß ist diese voluminöse Geschichte von 1970 heute noch? Warum sollte man Ross Thomas lesen?

Julian: Spannende Agententhriller sind immer lesenswert, und die von Ross Thomas besonders, da er einen einzigartig bissigen Tonfall hat. Korruption und Misswirtschaft wie in diesem Band sind zeitlose Themen, und auch der Hintergrund des Kalten Kriegs, vor dem viele von Thomas’ Romanen spielen, ist ja leider wieder höchst aktuell.

Gisbert: Gute Bücher sind immer aktuell, und Ross Thomas‘ klarer, zynischer Blick auf das allgemeine Hauen und Stechen unterscheidet sich wohltuend von »Betroffenheit« und Blabla. Vor allem macht die Lektüre Spaß – vorausgesetzt, man mag trockenen Esprit.

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Gisbert Haefs, 1950 in Wachtendonk am Niederrhein geboren, lebt und schreibt in Bonn. Als Übersetzer und Herausgeber ist er unter anderem für die neuen Werkausgaben von Ambrose Bierce, Rudyard Kipling, Jorge Luis Borges und zuletzt Bob Dylan zuständig. Zu schriftstellerischem Ruhm gelangte er nicht nur durch seine Kriminalromane, sondern auch durch seine farbenprächtigen historischen Werke Hannibal, Alexander und Troja. Im Heyne Verlag erschienen zuletzt Caesar, Die Mörder von Karthago und Die Dirnen von Karthago.

Julian Haefs wurde 1984 in Bonn geboren. Nach dem Abitur studierte er zunächst Kommunikations- und Produktdesign in Köln, anschließend Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Seit 2015 arbeitet er als freier Literaturübersetzer für Englisch und Lektor in Bonn. – Hier einige, wirklich nur einige, Bücher und Übersetzungen von Vater und Sohn.

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