Geschrieben am 1. Juni 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2024

Hazel Rosenstrauch: Karl August Varnhagen

Romantischer Zeitgeist

Dieses Jahr wird das innige Verhältnis vieler (nicht aller) Deutschen zur Romantik wieder gut sichtbar, dazu passt die Edition des emeritierten Germanistik-Professors Peter Sprengel. Er hat aus der umfangreichen, in Krakau aufbewahrten Hinterlassenschaft Karl August Varnhagens einen Ausschnitt aus den Reiseblättern gewählt und kommentiert sie in einem Nachwort. Es geht um die Reise von Berlin nach Tübingen mit Stationen in Meißen, Leipzig, Dresden, Bayreuth, Nürnberg und anderen Städten. Der damals 24-Jährige Varnhagen hat Stadtbilder und Landschaften, interessante Begegnungen und komische Männer, bestaunte Kunstwerke und seine Gedanken festgehalten. Vieles davon hat er später in seinen “Denkwürdigkeiten” veröffentlicht. Der Herausgeber hat auch Stellen aufgenommen, die Varnhagen gestrichen hatte, und einen reichen Anmerkungsapparat hinzugefügt. Insofern ist es ein wissenschaftliches Werk.

Der Held der Geschichte, Karl August Varnhagen, wird auf der Umschlagseite in fünf Zeilen als Ehemann der berühmten Rahel Levin vorgestellt. Sonst findet sich zu ihm wenig. Was die Frage aufwirft, ob der Autor dieser Reiseblätter inzwischen so bekannt ist, dass sich weitere Hinweise auf diesen Chronisten erübrigen? Er hat ja nicht nur die Briefe Rahel Levins, verehelichte Varnhagen, herausgegeben, er war Biograph zahlreicher Zeitgenossen, Übersetzer (u.a. aus dem Russischen), ein Zeithistoriker avant la lettre, Essayist und Meister der kleinen Form, die innerhalb der deutschen Germanistik lange Zeit nicht gewürdigt wurde. 

Sprengel bedient das von Hannah Arendt in die Welt gesetzte Klischee vom “Witwer Rahels” (hier irrte die berühmte Philosophin), in seinem Anhang interpretiert er Textstellen, gelegentlich kühn, vor einer germanistisch-romantischen Schablone. Von den verwirrenden Verhältnissen ist wenig, von romantischen Gefühlen oft die Rede – von Ich-Spaltung, zwei Seelen in der Brust, zerrissen durch die Liebe zu zwei Frauen. Er erkennt “homoerotische Assoziationen”, obwohl Varnhagen das erwähnte Objekt der Begierde (seinen Reisebegleiter Nikolaus Harscher) in seinen “Denkwürdigkeiten” mehrfach als recht unsympathisch beschrieben hat.

Varnhagen gehört zu einer sehr spezifischen Art von Romantikern – als Freund Heines und Fürsprecher der Jungdeutschen, als Sohn eines Republikaners, der ihn auf der Flucht mitgeschleppt hat, Kind aus einer protestantisch-katholischen, französisch-deutschen Ehe, Außenseiter schon deshalb. Er wurde im Ausland lange Zeit mehr geschätzt als in Deutschland-West, in der DDR bereits 1950 als Demokrat gewürdigt. Er war kein einsamer Mönch, der von oben hinabschaut, nicht von Innerlichkeit und Realitätsflucht bestimmt. Zerrissen, verunsichert und verwirrt waren er und sein Kreis zwischen Hoffnungen und Ängsten dieser Umbruchszeit. Interessant an diesem Leben sind weniger zwei Seelen in seiner Brust als sein kritischer Blick auf die Geschichte und sein Umgang mit Ambiguität, auch einer früh eingeübten Unzugehörigkeit. Die deutschen Länder sind von französischen oder unter Napoleon dienenden deutschen Soldaten besetzt, die Ideen von einem Ende der Willkürherrschaft gekrönter Häupter schwirren durchs Land. Er weiß mit seinen 24 Jahren noch nicht, ob er Arzt, Schriftsteller oder Soldat werden soll. Rahel Levin, die er gerade erst kennengelernt hat, verpasste ihm das schöne Attribut “Konfusionär”. Ist das romantisch? Wäre diese Konfusion nicht ein herrliches Objekt, um den Zeitgeist in dieser Zeitenwende zwischen Restauration und scheiternden Demokraten einzufangen? 

Lesern, die mehr wissen wollen, hilft die  schmale Literaturliste nicht weiter. Sprengel bedankt sich zwar bei Nikolaus Gatter, dem verdienstvollen Vorsitzenden der Varnhagen-Gesellschaft, aber all die Autoren, die sich mit den Lebensumständen, dem politischen Kontext, den realen Unsicherheiten beschäftigt haben, spielen nicht nur in der Literaturliste, sondern auch in den doch etwas altbackenen Interpretationen keine Rolle. Schade.

Karl August Varnhagen von Ense. Aufbruch nach Tübingen. Reiseblätter 1808. Hsgg. von Peter Sprengel, Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 210 Seiten, 12 teils farbige Abbildungen, gebunden, 28 Euro.

Siehe auch: Hazel Rosenstrauch, Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens. Eine Jugend um 1800. Verlag Das Arsenal, Berlin 2003

  • Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen. Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

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