Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Alf Mayer: Jochen Brunow »Die Chinesin«

Beckmann trägt – Zum zweiten Roman von Jochen Brunow

„Einmal in ihrem Flussbett eingeschlossen, läuft die Geschichte Gefahr,
darin zu versickern, wenn man nicht zulässt, dass sich ihre Zeit nach außen hin verlängert,
dorthin, wo wir, die Protagonisten aller Geschichten, leben. Wo nichts abgeschlossen ist.“
(Michelangelo Antonioni; als Motto von „Die Chinesin“)

Mir immer noch unvergessen ist mir einer der schönsten Liebesfilme, den ich kenne: „Berlin Chamissoplatz“ von Rudolf Thome, Drehbuch: Jochen Brunow, Kamera: Martin Schäfer. Bei der Uraufführung am 1. November 1980 auf den Hofer Filmtagen war ich dabei. Zwanzig Tage aus dem Leben von Anna und Martin (gespielt von Hanns Zischler und Sabine Bach), segmentiert durch zwanzig lange Auf- und Abblenden. Einmal sitzen die beiden im Kino, es läuft Jacques Rivettes „Celine und Julie fahren Boot“. Martin schläft an ihrer Schulter ein, Anna weint fast unmerklich. Mir pocht heute noch das Herz, wenn ich an die Szene denke.

Jochen Brunow ist ein Erzähler. Auch für das Unsichtbare. Ist es immer schon gewesen. Er weiß ums Erzählen, weiß ums Sehen, weiß um die Richtung des Blicks. Und dass das Auge nur sieht, was es weiß (Max Slevogt).

Ich lernte ihn als Filmkritiker kennen. Dann wurde er Mitbegründer der Zeitschrift Filme – Neues und Altes vom Kino (13 Ausgaben zwischen 1980 und 1982), der Anspruch an die Texte dort hoch, so ernst genommen wie das Filmemachen selbst. Er gehörte zu den Gründern des VDD, des Berufsverbands der Drehbuchautoren, rief 1987 die Berliner Drehbuchwerkstatt mit ins Leben, wurde Seminarleiter, Juror und Stoffbetreuer, Dozent für Dramaturgie und Drehbuch an der DFFB in Berlin und der ZHDK in Zürich, war immer auch schon an Musik und ihrer Verbindung mit dem Film interessiert.

Jetzt also nach Drehbucharbeit, nach vielen Reisen, darunter länger Neuseeland, eine späte Karriere als Autor von Kriminalromanen. Schauplatz für seine geplante Trilogie: Sardinien, ganz viel Sardinien, und Berlin. Nicht das übliche Debüt. Nicht das übliche Möchtegern und Kannichdochauchmal. Ganz stark, von Anfang an, sind bei ihm Ort und Zeit. Der Raum bei ihm stets mehr als nur der Ort der Handlung (so auch der Titel meiner Besprechung seines Debuts „Verdeckte Spuren“). Seine Hauptfigur heißt Gerhard Beckmann, 61, vorzeitig pensionierter Ex-Polizist aus Berlin, der Sardinien zu seiner zweiten Heimat gemacht hat und dort eigentlich seine Ruhe haben will. Aber wir wissen ja, es kann der Frömmste nicht …

Sein Debüt „Verdeckte Spuren“ veröffentlichte Brunow als „book on demand“, was auch etwas über unsere Verlagslandschaft heißt. Band 2 seiner Trilogie, er heißt „Die Chinesin“, ist gerade im Renommierverlag ars vivendi erschienen, hat dort Ivy Pochoda, Walter Mosley, S.A. Cosby, George Pelecanos oder Lawrence Osborne als Nachbarn. An den frühpensionierten Polizisten Gerhard Beckmann kann man sich gewöhnen, das zeigt das zweite Buch mit ihm. Oft ist das ja der schwierigste Roman. Jochen Brunow aber erweist sich in „Die Chinesin“ erneut als Erzähler mit poetischem Mehrwert. Ihm folgt man gerne. Sardinien, sonnenflimmernd im Herbst, entsteht vor uns so plastisch dass man es zu riechen meint. Aber auch in Berlin führt das Buch an unbekannte Ecken. Der Raum ist bei Jochen Brunow wirklich stets mehr als nur der Ort der Handlung. Und Raum haben auch seine Figuren: Beckmann, wie er allmählich in die Balance kommt. Oder die Chinesin Xia, mit der scharfkantiges Licht auf die allgegenwärtige Präsenz einer Weltmacht fällt. Das ist Kriminalliteratur, poetisch und politisch, geerdet und beflügelt. Diese Lektüre lässt den eigenen Atem spüren.

Kein „second book syndrome“ also. In „Die Chinesin“ sind wir sogleich umstandslos mit Gerhard Beckmann in seinem klapprigen Range Rover auf Sardinien, seiner zweiten Heimat, unterwegs. Der Schirokko rüttelt übellaunig an der Karosserie, die feuchte Glut des Fahrtwinds ist schweißtreibend, die Mineralwasserflasche auf dem Beifahrersitz schon lange leer.

„Die Hitze in den Bergen von Sardinien kann Bilder erzeugen. Sie lässt die Luft flirren, sodass sie einem Wanderer wie eine Substanz erscheint, ein Äther, in dem sich wie auf einer Leinwand Trugbilder manifestieren. Von diesen Phantasien erzählen die janas der Sarden, Geschichten und Märchen von zierlichen Feen, bösen Hexen und den Geistern Verstorbener, die in Höhlen hausen. Auf seinen Touren durch das Inselinnere hatte Beckmann schon einige mysteriöse Erdlöcher entdeckt, die in unterirdische Welten führten mit Wänden voller magischer roter Symbole. Domus de janas nannten die Sarden diese Höhlen, die Archäologen als unterirdische Grabstätten einer vornuraghischen Zivilisation aus der Zeit von 3000 Jahren vor Christus identifiziert hatten.“

Außer einigen Lastwagen gibt es kaum Verkehr auf der SS 131. Beckmann ist unterwegs zu einem bronzezeitlichen Brunnenheiligtum, dazu war er bisher noch nie gekommen. In der spätsommerlichen Sonnenglut wandert er durchs Gebüsch. Zu den Spannungsbögen bei Jochen Brunow gehört, dass eine alltägliche Situation/ eine kleine geschilderte Episode plötzlich Aufladung und Tiefe erhält und damit den Roman-Innenraum erhellt, die Welt, in der wir uns mit den Protagonisten bewegen. SANS SOLEIL hieß 1982 der Film von Chris Marker voller Alltagsbilder aus Japan, der seine Zuschauer durch den Kommentar in eine neue Wahrnehmungs-Dimension katapultierte. Jochen Brunow, der diese Methode „kristallisierter Einzelmomente“ (so Fritz Göttler über SANS SOLEIL) für sich als Romanerzähler verfeinert hat, schrieb damals zu diesem Film:

Sans soleil setzt auf die analytische Kraft der Bilder, auf die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Der Film schafft dies, indem er die große Bilderflut, die numerische Vervielfachung der existierenden Bilder und die Zersetzung ihrer Abbildfunktion durch die elektronische Bearbeitung im Computer, in den Körper des Films selbst hineinholt.“ Doch zurück zu Beckmann in der sardischen Macchia:

Wieso hatte er sich so erschrocken? Er glaubte, die schwarze gespaltene Zunge der Schlange gesehen zu haben, den Glanz in ihren kleinen schwarzen, lidlosen Augen. Wie konnte er sich so täuschen? In einem Beitrag über die menschliche Wahrnehmung hatte er gelesen, dass das Auge die Realität nicht einfach spiegle, sondern das Sehen ein geistiger Akt sei. Weshalb es auch zwei Arten von Blindheit gäbe, retinale Blindheit, bei der das Auge erkrankt ist, und kortikale Blindheit, die auf einer Schädigung des Gehirns beruht. Beckmann beruhigte sich mit dem Gedanken, zumindest seine Reflexe seien immerhin noch ganz in Ordnung.

Eine wichtige Wahrnehmungserweiterung des Romans ist die Präsenz und Allgegenwärtigkeit von China in unserer europäischen Welt. Unter jedem Stein, wenn man ihn umdreht, dekliniert das Buch durch, schaut ein Stück China heraus. Am Beispiel der Insel Sardinien wird das besonders sinnfällig. Zuerst ist es eine Migrantin am Strand, „die Chinesin“, die Beckmann unter all den Handtaschen- und Fake-Produkt-Verkäufern auffällt. Dann ein „Schilfjunge“, Gruppen von Landsleuten, Lagerhallen, Industriebrachen, Glückspiel, illegale Turniere, Organisierte Kriminalität, chinesische Chemikalien, mit denen sich ,Badesalze‘ und andere synthetische Drogen herstellen lassen, eine Handelsdelegation, Touristen und Investoren, Pläne für eine Smart City auf Sardinien, zur Übernahme ganzer Häfen oder zur Transformation ehemaliger Militärstützpunkte als eigene Brückenköpfe. Immer mehr Romanpersonal, die Leiche einer verstümmelten chinesischen Frau, Ermittlungen, Einblicke in die Welt der Triaden und ihre Verknüpfungen mit der wirtschaftlichen Expansion der chinesischen Großmacht, die europäische Angst, es sich mit China nicht zu verderben, und auch die generelle Indifferenz diesem Thema gegenüber…

Xia, die Chinesin, „war eines Tages unter den vielen Migranten, die ihre Dienste am Strand von Porto Taverna anboten, aufgetaucht wie eine Er­scheinung, wie ein schönes Phantom. Sie war nicht groß, ihre zierliche Gestalt wirkte fest, stabil, auf seltsame Weise unzer­störbar.“ Ihre große Sonnenbrille wirkt wie aus der Zeit gefallen. Einmal blickt sich Beckmann über die eigene Schulter, sucht im Spiegel die Stelle, auf die ihn die Chinesin  bei ihrer Strandmassage hingewiesen hat. Unter ihren Händen war es ihm vorgekommen, als würde sie seinen Körper lesen. Da sei eine Stelle bei ihm:

„Schlecht. Doktor gehen.“
Ihr Finger kreiste einen Punkt auf seinem Rücken ein. Er verstand nicht, was sie meinte, aber sie beharrte darauf, da sei etwas „krank“ an seinem Rücken, genau zwischen den Schulterblättern.
„Sonne zu viel.“

Beckmann muss an Peter Lorre denken, wie er in Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ im Schaufenster „versucht, das Kreidemal auf seinem Rücken zu erkennen, als er sich krümmt und windet wie ein Wurm“. Das Melanom bringt Beckmann mit der Ärztin Leonie zusammen, mit der sich eine Affäre und damit auch ein neuer Blick auf Sardinien und auf seinen eigenen Gefühlshaushalt als Witwer entwickelt. Die Liebesgeschichte ist intensiv, aber auch melancholisch. Die Warnung „hic sunt leones“/ Hier sind Löwen hat ihre Berechtigung. Der Filmautor Brunow lässt seinen Protagonisten Beckmann an die Antonioni-Schauspielerin Monika Vitti denken – „die traurige Nomadin der verlorenen Liebe“.

Immer wieder, aber nicht zu viel, flackern solche filmischen Reminiszenzen auf. Szenen, Räume, Gefühle, Bilder, die wir aus dem Kino kennen und ihm für immer zuschreiben. Industriebrachen etwa dem „Stalker“ von Tarkowski, die Einsicht „Ein Fisch sollte besser im Meer, ein Mann in der Sonne bleiben“ natürlich Alexis Sorbas. Aber auch Kafkas Strafkolonie findet ihren Platz, oder eine sagenhafte Pho-Suppe in Berlin. Überhaupt Berlin. Die Kellerbar im Hotel Ellington in der Nürnberger Straße, die chinesische Botschaft im einstigen Domizil des FDGB oder illegale chinesische Polizeistationen. Beckmann, den wir mit diesem zweiten Roman mehr als lieb gewinnen, eignet sich in diesem Buch die Welt neu an. Kommt etwas mehr ins Lot. Und auch der Land Rover klappert am Ende nicht mehr.

Jochen Brunow: Die Chinesin. Kriminalroman. Verlag ars vivendi, Cadolzburg 2024. Klappenbroschur, 296 Seiten, 18 Euro. – Buch 1 der Trilogie, Verdeckte Spuren, als book on demand.

Siehe auch: Alf Mayer liest Jochen Brunow, „Verdeckte Spuren“. Der Raum stets mehr als nur der Ort der Handlung, CrimeMag November 2023.

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