Geschrieben am 31. August 2013 von für Crimemag, Kolumne

Alf Mayers „Blutige Ernte“: Roger Hobbs: Ghostman

roger_hobbs_GhostmanWeniger als 48 Stunden

‒ Roger Hobbs‘ furioser Debüt-Thriller „Ghostman“.

Zweitausend Dollar liegen auf dem Tisch, Kleingeld für eine kleine Auskunft. Immer wieder schaut der Informant das Geld an, Benjamin Franklins Gesicht starrt zurück. Auf keinem in den Vereinigten Staaten gedruckten Zahlungsmittel findet man ein lächelndes Gesicht. Alle starren mit tödlichem Ernst, Franklin scheint durch einen hindurchzuschauen. Seine Augen folgen dem Betrachter überallhin, wie die Augen der Mona Lisa. Ganz beiläufig, nachdem es schon mehr als 200 Seiten um einen Haufen verschwundenes Geld geht, findet man diese kleine Betrachtung in Roger Hobbs „Ghostman“. Und ja, sie stimmt. Kein Geldschein lacht je zurück. What the fuck. Immer wieder verpasst einem Roger Hobbs solch einen beiläufigen Streifschuss. Hätte man immer schon wissen, aus anderen Büchern längst erfahren können. Wenn es dort gestanden hätte, hat es aber nicht. Als abgebrühter Leser fand ich es erstaunlich, wie oft Roger Hobbs mich in seinem Erstling überraschte.

Roger HobbesDie Sache mit dem Geldkreislauf zwischen Banken und der Federal Reserve, der US-Notenbank, und die „Bundesbeiladung“, ein „Wort das kein Mensch hören will“, besonders der Ghostman nicht. Die Sache mit unserer Gedächtnisleistung, exemplifiziert daran, dass man plötzlich einen Geldschein zeichnen soll. (Versuchen Sie’s mal!) Woher der Ausdruck „Wheelman“ kommt, von einem Deutschen namens Herman Lamm, einem ehemaligen Soldaten, der seine Überfälle als taktische Operationen plante, und von dem Wort, das ein Marinekapitän für seinen Steuermann benutzt, weil „Fahrer“ damals noch ein Begriff aus dem Bereich von Kutschen und Pferden war. Warum ein Mazda MX-5 die klassische Wahl für ein Fluchtauto ist, warum Naphtha, ein Gemisch aus Holzkohleteer und Petroleum, auch „Fackelsprit“ (torch gas) genannt wird, und was es heißt, wenn das unter einem Auto tröpfelt. Mit welcher Farbe echtes Geld brennt (orange in USA), hunderte Sachen mehr. Okay, die drei Methoden ein Kasino auszurauben. Durch den Vordereingang: Keine zwei Minuten Vorsprung mehr wie früher. Alle Chips schnappen: Kann gelingen, aber man muss sie eintauschen. Drittens: Das Geld im Transit stehlen – unbedingt bevor es in einem Geldtransporter steckt – und dann in unter zwei Minuten weg zu sein.

Er lebt allein, schläft allein, isst allein, traut niemandem

So fängt „Ghostman“ an. Hector Moreno und Jerome Ribbons holen uns als Leser mit ins Team. Dann steigt Methode drei. Das Ende des Prologs holt den Erzähler auf die Bühne und lautet so:

„Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Polizei war schon in voller Stärke unterwegs und durchkämmte die Straßen nach ihm. Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Meldung von dem Raubüberfall war bereits bei der Highway-Polizei und beim FBI. Vier Tote. Mehr als eine Million Dollar erbeutet. Über hundert Patronenhülsen auf dem Asphalt. Eine Sache für die Titelseiten. Es war zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Polizei hatte ihre Detectives bereits geweckt. Noch zwei Stunden vergingen, und dann weckte jemand mich.“

Der Erzähler, das ist der Ghostman. Er ist der Beste im Spurenverwischen nach einem Verbrechen. Jetzt muss er eines aufklären, weil er jemand einen großen Gefallen schuldet: der Casino-Überfall schiefgelaufen, das Fluchtauto versteckt und  verlassen, Geld und der überlebende Räuber verschwunden und mehr als eine Partei im Spiel, von den Behörden ganz zu schweigen. Jack Delton, wie er sich nennt, wenn es denn einen Namen braucht, ist kompetent, kein Zweifel, und so paranoid, dass er mit einer Pistole unter dem Kopfkissen schläft. Er lebt allein, schläft allein, isst allein, traut niemandem. Es geht ihm nicht um Geld, das Nötige weiß er immer zu besorgen. Er lebt „für den Rausch, nicht für die Dollarzeichen, die daran hängen“.

Schichtweise enthüllt sich während seines Feuerwehreinsatzes in Atlantik City die Katastrophe eines alten Jobs in Malaysia; eine Parallelgeschichte, in der alle Handlungsstränge kulminieren. Den Lokomotiven, die da aufeinander zu rasen, können wir beim Fahrtaufnehmen zuschauen und ihre Wucht einschätzen lernen. Das ist es, was ein Thriller braucht: „locomotive breath“, Jethro Tull lässt grüßen. Dass man als Leser den Showdown kaum erwarten kann, obwohl vorbei sein, wird was einem gerade die Härchen auf dem Unterarm stehen lässt. Tempi und Töne, Dialogfeuer und Infos, Cliffhanger und freien Fall jongliert der 24-jährige Roger Hobbs in seinem Debütroman gekonnt und cool. Neben der Dynamik der Personenkonstellationen ist auch die verrinnende Zeit der Faktor. Roger Dobbs kennt sein Genre, macht nebenbei manch augenzwinkernde Verbeugung, eine ihrer kleineren, dass ein Fluchtfahrzeug auf einen gewissen Michael Hitchcock zugelassen ist.

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Die Sache mit der Bundesbeiladung

Den ganzen durchorchestrierten Thriller über tickt eine Uhr. Sie heißt „Bundesbeiladung“, im Original „Federal payload“.

„Kein Mensch hat je versucht, einen Geldtruck der Federal Reserve auszurauben, denn niemand ist so blöd. Es geht nicht. Der Grund dafür ist, dass es der Regierung scheißegal ist, was mit der Kohle auf dem Transport passiert. Sie beschützen sie mit allem was sie haben – mit bewaffnetem Sicherheitspersonal, leeren Trucks zur Tarnung und allem, was es sonst noch gibt, aber sobald sie annehmen, dass es tatsächlich irgendwelchen Gaunern in die Hände gefallen sein könnte, fackeln sie die ganze Ladung ab … Die Zentralbank zahlt der Regierung nur ungefähr zehn Cent für jeden Schein, der gedruckt wird, und das sind im Wesentlichen die Kosten für Farbe und Papier. Wenn das Geld verbrennt, macht das per Saldo praktisch nichts. Die Bank verliert Papier, und das ist alles.“ Die Bundesbeiladung hält die Geldlieferung im wahrsten Sinn zusammen, sie explodiert, wenn die Geldpakete nicht binnen 48 Stunden von einem qualifizierten Tresormanager mit einem exakten Empfangscode gescannt werden. „Sonst heißt es bye-bye Kohle. Die Bundesbeiladung ist der Kuss des Todes.“

Neunzehn von 48 Stunden sind es noch, auf Seite 262, am Ende von Kapitel 39; da hatte ich, oh süßes und länger so intensiv nicht erlebtes Lesegefühl, schon angefangen, den immer schmaler werdenden Buchrest gegen all die noch offenen Stränge abzuwägen. „Ghostman“ ist tough und schnell, schlüpfrig und wendig wie eine Natter; um ein Blurb Elmore Leonards für Bill Crider zu zitieren: „If this book moved any faster, you would have to nail it down to read it.“ Roger Hobbs – nein, ein Wunderkind nenne ich ihn noch nicht, mit seinem ersten Buch – weiß, wie man das Tempo erhöht und die Erzählung in Kurven wirft, dass die Reifen quietschen.

„I had to go to be a rat“, heißt es am Ende von Kapitel 28, etwas verharmlosend übersetzt als: „Ich musste zum Singvogel werden.“ Mit der Polizei kooperieren, jemand aus „dem Leben“ zu verpfeifen, das geht gar nicht. Das bleibt unverzeihlich. Wie tief also muss der Erzähler im Schlamassel stecken, diese Volte sehenden Auges zu vollführen? Die Uhr tickt gegen ihn, und dennoch muss er manche Stunde einfach verstreichen lassen, beschäftigt sich dann mit dem, was ihn seit jeher am allermeisten entspannt: Lateinisch lesen. Ovids „Metamorphosen“ sind es. Roger Hobbs, der das Romanmanuskript noch als Hochschulabsolvent vollendete und damit einer der heißen Deals der Buchmesse 2012 wurde, mit bereits teuer verkauften Filmrechten und 13 Auslandskontrakten nach Frankfurt kam, nimmt auch diese Volte. Die Klassikvorliebe seines Protagonisten, der am liebsten selbst übersetzt, hat nichts peinlich Aufgesetztes. Als Ghostman dauernd die Identität zu wechseln, das sei für ihn Übersetzungsarbeit, meint er einmal. Lakonisch.

Latein im Thriller? Geht das?

Latein im Thriller, geht das? Wenn es nicht auf der Dan-Brown-Trivial-Pursuit-Ebene ist? „Haben Sie schon mal den Satz gehört: Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo?“, sagt der Ghostman zu Alexander Lakes, dem Mann, der ihn vor Ort in Atlantik City mit allem Nötigen versorgt, ihm als absolut vertrauenswürdig zugesagt worden war und dennoch jeden seiner Schritte an den Wolf verriet, den großen Gegenspieler.

Lakes schüttelte den Kopf. „Ist das Latein?“, flüsterte er.
„Ja, das ist Latein.“
„Hab ich noch nie gehört.“
„Möchten Sie wissen, was es bedeutet?“
Lakes starte auf den Tisch. „Ich bin nicht sicher.“
„Sie möchten es wissen. Glauben Sie mir, Sie möchten es wissen.“

aeneasUnd dann erzählt ihm der Ghostman seine Lesegeschichte (S. 320 ff.), wie er schon als Kind alles las, was ihm in die Hände fiel, wie die Bücherei sein zweites Zuhause wurde, wie er dennoch nie ein Buch fand, das ihm wirklich gefiel, wie immer noch etwas fehlte, wie er anfing, „literarischen Kram“ zu lesen, Pynchons „Die Enden der Parabel“, Rushdies „Mitternachtskinder“, Ecos „Name der Rose“. Bis ihm jemand die „Äneis“ gab, sozusagen die Fortsetzung der „Ilias“ und der „Odyssee“. Wie er das Gefühl hatte, Äneas zu sein, zu etwas Großem bestimmt, dabei keiner von den Guten: „Äneas musste üble Dinge tun, um dahin zu kommen, wo er hin musste.“ Während andere Jungs Modellflugzeuge sammelten, las er Latein. Fühlte sich lebendig, wenn er die „Äneis“ las, im Original. Nein, liebe Lateinlehrer und Bildungsbürger, Autor Roger Hobbs erzählt das nicht, um sich bei Ihnen Liebskind zu machen. Er holt hier, ganz nebenbei (und wohl an manche Leser verloren, aber egal) die Grausamkeit griechischer Tragödien an den modernen Thrillertisch.

„Meistens hatte ich das Gefühl, ich hätte überhaupt keine Bestimmung. Mir war, als existierte ich gar nicht – oder nur, wenn ich dieses Buch las. Und nur einmal habe ich mich genauso lebendig gefühlt: an dem tag, an dem ich zum ersten Mal am helllichten Tag einem Mann den Schädel einschlug und ihn ausraubte.“ „Warum erzählen Sie mir das?“
„Weil Sie verstehen sollen, warum ich das hier tue, und weil sie es auch dem Wolf erzählen sollen. Glauben Sie, Sie können es behalten? Geht es in ihren Kopf?“
Lakes antwortete nicht.
„Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo?“, wiederholte ich. „Das ist ein Zitat aus dem Buch. Es ist außerdem mein persönliches Motto. Ich weiß noch, wie ich es zum ersten Mal gelesen habe … Das ist es, was mir gefehlt hat. In dieser einen Zeile war alles zusammengefasst … Es ließ den Zorn und die Hoffnungslosigkeit verschwinden, und alle meine Probleme ergaben einen Sinn.“ Lakes biss auf die Innenseite seiner Wange. „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was es bedeutet.“ „Es bedeutet: Kann ich die himmlischen Götter nicht mir beugen, setze ich die Hölle in Bewegung.“

Ich gestehe: Ab hier hatte ich Gänsehaut. Denn jetzt geht es erst recht Slam-Bang. Der Ghostman nimmt es mit dem Wolf auf, und überlebt. Die FBI-Agentin, mit der er dealte und flirtete, besorgt ihm ein Boot zur Flucht nach Kuba, fragt ihn zum Abschied, wie er denn nun wirklich heiße. Sie könne ihn Ghostman nennen, lacht er, und legt ab.

„Ich war fast zwei Tage auf den Beinen gewesen, aber trotz der Erschöpfung verspürte ich eine erstaunliche Erregung. Und das kam nicht von der Geldtasche zu meinen Füssen. Es war die pure Ekstase meines Jobs … Ich fühlte mich mächtig und lebendig. Mein Gott, es war schön.
Jetzt musste ich nur noch eines tun.
Verschwinden.“

Hoffen wir, dass er wieder kommt. Wie sein Autor auch. Wir Leser brauchen Thrillerautoren, die das Adrenalin in uns kitzeln ohne die grauen Zellen auszuschalten. Ein Thriller braucht den real deal, braucht kundige Präzisionsmechaniker. Deswegen ist es eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Deswegen braucht es den nächsten Thriller von Roger Hobbs. Schnell!

Alf Mayer

Roger Hobbs: Ghostman (Ghostman, 2013.). Deutsch von Rainer Schmidt. München: Goldmann 2013. 381 Seiten. 14,99 Euro. Informationen zum Buch und Autor. Foto: © Michael  Lionstar über Goldmann. Zum Interview bei Goldmann.

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