Geschrieben am 3. Oktober 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: John Wray: Das Geheimnis der verlorenen Zeit

wray_zeitIm Gurkensud der Unendlichkeit

Von Frank Schorneck.

Znaimer Gurken waren einmal das prominenteste landwirtschaftliche Produkt des tschechischen Städtchens Znojmo und seiner südmährischen Umgebung. Mittlerweile sind sie ebenso vergessen wie zwei ehemalige Bewohner der Stadt, die vom Lauf der Geschichte überholt wurden: Da ist einerseits der Priester Vaclav Prokop Divis, der das Pech hatte, zwar zeitgleich mit Benjamin Franklin den Blitzableiter zu erfinden, aber im Gegensatz zu seinem auf Dollarnoten verewigten Konkurrenten verarmt in einem Kloster zu sterben. Da ist zum anderen Ottokar Gottfriedens Toula, ein Amateurphysiker und Gewürzgurkenanbauer, der zeitgleich mit Einstein die Krümmung der Zeit entdeckte, aber leider unmittelbar darauf von einem der damals noch sehr seltenen Automobile überrollt wurde.

Wer in den neuen Roman von John Wray eintaucht, wird schon bald auf diese grotesken Lebensläufe stoßen und sich köstlich amüsieren. Eher unwahrscheinlich ist, dass man bemerkt, wie sehr Wray hierbei aus dem Fundus der Realität schöpft. Denn Divis gab es ebenso wie die berühmten Znaimer Guren – und sogar das von Wray beschriebene Postkartenmotiv „Ein Ausflug nach Znaim“ mit einem auf einer überdimensionalen phallischen Gewürzgurke reitenden Geschäftsmann ist im Internet zu finden und entspringt keinesfalls der überbordenden Phantasie des Autors. Es empfiehlt sich also auch im übertragenen Sinne, mit offenen Augen durch diese 700 mit Anspielungen und Zitaten gespickten Seiten zu gehen. Der Autor hat sich nach eigenen Angaben tief in die Materie der Physik eingearbeitet, doch auch ohne ein Physikstudium bereitet der Roman großes Vergnügen.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive des jungen Waldemar Tolliver, der aufgrund einer bösen Intrige „aus der Zeit ausgeschlossen“ wurde. Er vegetiert in der zugemüllten Wohnung seiner verstorbenen Tanten und die Zeit vergeht für ihn nicht. Er schreibt seiner Geliebten, wie er in diese Situation geraten konnte und im Laufe der Geschichte erfahren wir, dass diese Mrs. Haven (er nennt sie tatsächlich nur ein einziges Mal beim Vornamen) an seiner Lage keinesfalls unschuldig ist.

In seinen Aufzeichnungen führt Waldemar weit zurück in die Geschichte seiner Familie, bis hin zu eben jenem Ottokar Gottfriedens Toula, der im Moment seines persönlichen Heureka sein Leben auf noch kaum befahrenen Straßen lassen musste. Toulas Aufzeichnungen gelten lange als verschollen, Generationen exzentrischer Familienmitglieder versuchen, hinter das Geheimnis der verlorenen Zeit zu kommen. Buchstäblich über Leichen geht dabei ein Großonkel Waldemar Tollivers, dessen Menschenversuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ihn zu einem Fluch der Familiengeschichte machen. Doch offenbar ist er in seiner Brutalität dem Geheimnis der Zeitreise auf die Spur gekommen, denn Waldemar ist sich sicher, in seiner Zeitblase vom bösartigen Vorfahren heimgesucht zu werden.

In seiner vielfach verschachtelten, Generationen-, Familien- und Menschheitsgeschichte umspannenden Konstruktion sperrt sich dieser Roman jedem Versuch der Nacherzählung einer Handlung. Zu viele Stränge greifen ineinander, zu viele Pfade winden sich durch diesen Prosa-Irrgarten. Zu viele Exzentriker und moralische Grenzgänger bevölkern dieses Panoptikum, das Lewis Carrolls Teeparty wie ein lahmes Kaffeekränzchen wirken lassen. Da ist zum Beispiel Waldemars Vater Orson Tolliver, ein eher mittelmäßiger Science-Fiction-Autor, der es mit Sternenpornos zu beachtlichen Verkaufszahlen bringt (großartig sind die zitierten Passagen aus seinen Stories) und der ungewollt zum Gründer einer abstrusen Sekte wird. Ein Schelm, wer L. Ron Hubbard und Scientology hinter diesem Handlungsstrang sieht. Auch literarische Anspielungen sprudeln ohne Unterlass aus den Seiten, mal versteckt, mal offensichtlich. So bewirbt sich Orson Tolliver auf einen Nachtwächterposten in einem Elektrizitätswerk, kommt dort am Wächter nicht vorbei und findet sich unversehens in Kafkas Türhüterparabel „Vor dem Gesetz“ wieder, die zum Teil wörtlich zitiert wird. Viele zunächst unscheinbar erscheinende Details fügen sich ineinander, wie zum Beispiel das Motiv der Zikade, deren tiefere Bedeutung sich erst gegen Ende des Romans offenbart, und das den Leser wie auf einer Möbiusschleife wieder zum Beginn lenkt, um mit diesem Wissen einen zweiten Lesedurchgang anzugehen.

Der wilde Mix aus Science-Fiction, Schelmenroman und Familiensaga ist eine wahre Fundgrube grotesken Humors, ein Sittengemälde des vergangenen Jahrhunderts und eine Hommage an den Forschergeist der Physik. Und zwischen all den Formeln, Theorien und Apparaturen, die dem Zweck dienen, sich die Zeit gefügig zu machen, schimmert die simple und auch außerhalb der Wissenschaft akzeptierte Erkenntnis hervor, dass Zeit schneller vergeht, wenn man Spaß hat. Der Sektengründer Richard Haven hat dagegen die „autosuggestive Psychostasis“ erfunden, verbringt seine Tage damit, möglichst vollkommene Langeweile und somit fast ewiges Leben zu erreichen. Diesen Roman sollte er dabei nicht in die Hand nehmen.

Frank Schorneck

John Wray: Das Geheimnis der verlorenen Zeit. Deutsch von Bernhard Robben. Rowohlt, 2016. 736 Seiten. 26,95 Euro

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