Geschrieben am 11. Juli 2012 von für Bücher, Litmag

Frank Fischer: Leipzig Augustusplatz (aus: Weltmüller)

Literatur und Kunst, zweiter Teil (zu Teil eins): Im Mittelstück seines „Weltmüller“-Buchs verwandelt Frank Fischer einen Leipziger Platz in ein sensationell selbsttätiges Kunstwerk.

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Frank Fischer hat in „Der Louvre in zwanzig Minuten“ vorgeführt, wie die Zeit, ist sie nur knapp genug, die Wahrnehmung des Orts erledigt und die der darin aufbewahrten Kunst gleich mit. Jetzt hat er mit „Leipzig, Augustusplatz“, dem Mittelstück seines „Weltmüller“ – Buches, den umgekehrten Prozess geschildert, nämlich auf welche Weise ein Kunstwerk einen Ort nachhaltig in die Zeit einsetzt, indem es eine Deutungslawine lostritt.

In einer fiktiven Reportage beschreibt der „Reporter Frank Fischer“ ein auf dem Leipziger Augustusplatz installiertes Kunstwerk in Form einer gedachten Weltkarte, wie sie auf dem „Weltmüller“- Cover zu sehen ist. Für jeden der 192 UNO-Mitgliedsstaaten ist eine Stahlplatte in den Boden eingelassen, ungefähr dort, wo sich die Hauptstadt befindet. Auf der Platte sind jeweils zehn sprachliche Ausdrücke (Wörter, Sätze, Ausrufe, Namen usw.) eingraviert. Ein seitlich stehendes Schild verkündet, dass das Kunstwerk „Länder – Lexicon“ heißt. Zunächst wird es als Werk des Schotten Ross Sinclair ausgegeben, der jedoch die Autorschaft abstreitet.

Einen schottischen Konzeptkünstler namens Ross Sinclair gibt es tatsächlich, er hat in Leipzig eine Hauswand mit einem Dekalog zum Thema Geografie, Nation, Staatsbürgerschaft usw. versehen. „Schafft die Geografie ab!“, der Titel von „Frank Fischers“ Reportage, erweist sich als Zitat daraus. Wir lesen also den real vorhandenen Text eines fiktiven Autors über das Werk eines real existierenden Künstlers, der im Text seine Autorschaft bestreitet, was er realiter nicht muss, da das Kunstwerk nicht existiert. Das klingt schon mal

vielversprechend.

Vor mehr als vierzig Jahren hat Roland Barthes seinen Essay über das Verschwinden des Autors publiziert und damit eine ziemlich langlebige Diskussion ausgelöst. Die bildenden Künstler (mit Ausnahme vielleicht der Fälscher) zeigten nur mäßiges Interesse an dieser Theorie. So behauptet „Ross Sinclair“ einfach, sein Name fungiere im „Länder-Lexicon“ als ein Ingrediens unter vielen. Die meisten seiner Kollegen hätten wohl immerhin ihre Kontonummer hinterlassen.

Nicht der Schöpfer also, sondern die Betrachter sind es, die den Kunst-Status der Installation sichern, indem sie wie plappernde Brüter Deutung auf Deutung hecken, je länger, desto ausschweifender. Geltung rangiert hier vor Genesis. Mit ihrer manischen Sinnsuche und Sinnproduktion bezeugen die Interpreten die Lust, die jedes Kunstwerk durch seinen Rätselcharakter verspricht und die der Leser im Leseprozess selbst erfährt, da die Geschichte ja genau das erzählt: wie das Kunstwerk auf dem Platz erscheint, wie es interpretiert wird und welche Unklarheiten und Fragen durch das Bemühen, sie zu beantworten, fortwährend

neu generiert werden.

Warum trägt die Gesamtinstallation den Titel „Länder – Lexicon“? Warum sind auf allen Tafeln zehn sprachliche Äußerungen zu finden, auf der Deutschland–Tafel aber nur neun? Warum befindet sich gerade dort ein banaler französischer Werbe-Satz? Was hat es überhaupt mit diesen Sätzen und ihrem möglichen Realitätsbezug auf sich? Ergänzen oder kommentieren sie sich gegenseitig? Wer hat sie ausgesucht und eingraviert? Muss es nicht ein Kollektiv gewesen sein, bei so vielen Sprachen, Schriften, Intertextualitäten? Usw. usw.

Als wäre das nicht genug, dokumentieren Fotos, dass einige Sätze im Laufe der Zeit ihre Reihenfolge auf den Platten ändern, selbsttätig, wie es scheint. Das Kunstwerk modifiziert sich, kompliziert sich, und die hechelnden Deuter, um seiner Herr zu werden (was natürlich unmöglich ist), übertragen die Gravuren komplett ins Netz, tauschen sich darüber aus und spüren ihren Signifikaten bis in die fernsten Weltwinkel nach. Doch mit ihrem Google – Getöse rufen sie hauptsächlich Hinweise auf die von ihnen selbst verfassten Beiträge auf und verstärken also bloß die Selbstreferenz.

Es ist der Wahn des Sinns, an dem die Augustusplatz – community sich bis zur Absurdität abarbeitet. Mit der Annahme: ‚Dies ist ein Kunstwerk‘ ist eben gesetzt, dass es etwas bedeutet. Und das muss man doch rauskriegen, verdammt? Und wenn das Kunstwerk die „Leipziger Abschrift der Welt“ ist, dann muss doch auch die Welt etwas bedeuten, verdammt? Denn wenn alles nichts bedeutet, kann doch jeder Beliebige jeden beliebigen Schmock auf jeden Platz der Erde nageln und sich kaputt lachen über die Blödiane, die….? Und die Reportage des verschwundenen (!) Reporters „Frank Fischer“ könnte, da des Enträtselns kein Ende ist, bis ins Unendliche fortgesetzt werden?

Und dieser Text auch?

Inzwischen beginnen die „Weltmüller“-Exegeten sich bereits fleißig bloggend einzuklinken und den im Text beschriebenen Entzifferungsmarathon auszuweiten. Wenn sie dran bleiben, ist der Leipziger Stadtrat vielleicht eines Tages gezwungen, das Werk sozusagen nachzureichen, es also auf dem Augustusplatz installieren zu lassen, von Ross Sinclair, „Ross Sinclair“ oder autochthon aus dem Boden quellend, eine faszinierende Vorstellung. In leichter Abwandlung eines der schon berühmten Theoreme der Geschichte: „Es ist ja von sich aus interessant, wenn irgendwo irgendwas von irgendwem rumliegt“.

Das reizt eben einfach. Schauen, sinnen, still beiseite treten wäre eine Energie sparende Alternative zum Interpretationsfuror, macht aber keinen Spaß. Wir wollen das Werk nicht bloß „gewähren lassen“, wie der Schlusssatz rät. Also: bemächtigen wir uns seiner, stürmen wir „zu Tausenden“ auf den Augustusplatz, Buch in der Hand! Nach  Leipzig zu fahren lohnt immer, und „Weltmüller“ ist sowieso ein „Buch wie Gold“ (Andreas Platthaus, FAZ).

Gisela Trahms

Frank Fischer: „Leipzig Augustusplatz“ aus: Weltmüller. SuKuLTuR 20912. 124 Seiten. 14,00 Euro.

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