Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Ute Cohen über Thomas Fischer „Sex and Crime“

Lust und Über-Ich und ein Advokat der Freiheit

Der Buchtitel deutet es bereits an „Sex and Crime – Über Intimität, Moral und Strafe“ Thomas Fischer, ehemaliger Bundesrichter, Anwalt und Kolumnist, bewegt sich zwischen zwei Welten, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Sex and Crime bringt unser Blut in Wallung, jagt uns Adrenalin durch die Adern und lässt diese seltsam schöne Lust auf Grenzüberschreitung aufbranden. Der Untertitel aber appelliert an unser Über-Ich, an diese Gebots- und Verbotsinstanz, die nach Freud im Widerstreit steht mit dem Es. Triebhaftigkeit und Moral, Verbrechen und Strafe, nicht fern ist der Gedanke an Dostojewski auch, an Schuld und Sühne. Thomas Fischer ist nun angetreten, zu vermitteln zwischen dem Reich der Sinne und dem der Schuld und Strafe. Mit seinem Buch fordert er das Ich heraus, appelliert an unser bewusstes Denken des Alltags und ruft ein Realitätsprinzip in Erinnerung, das in der gegenwärtigen Debatte um das Sexualstrafrecht verloren gegangen zu sein scheint.

Tendenz zur Totaldurchrechtlichung

Wie sonst ließe sich erklären, dass eine bekannte deutsche Feministin auf Twitter kundtut, es sei nicht kindgerecht, wenn in einem Kinderbuch von Janosch der sprechende Frosch die schweigende Tigerente küsst? Schließlich würden da an einer schweigenden Figur sexuelle Handlungen vorgenommen. Fischer gebietet dieser Vermischung von Recht und Fiktion Einhalt, indem er den selbstbewussten Menschen dazwischentreten lässt. Diese Grenzziehung vollzieht er nicht in der Rolle des Tugendwächters, sondern als Vertreter eines Systems, das er zwar als unabhängig darstellt, aber nicht als hermetisch geschlossen oder undurchlässig. Der Tendenz zur Totaldurchrechtlichung, wie sie sich gesellschafts- und auch rechtspolitisch bemerkbar macht, steht Fischer skeptisch gegenüber. Gesellschaftlicher Wandel muss und soll sich im Rechtsystem spiegeln; Recht aber darf nicht als Instrument politischer Gruppierungen missbraucht werden. Das Recht, gewinnt man den Eindruck, solle nicht das gleiche Schicksal ereilen wie die Wahrheit: „Die Wahrheit sagt, wer am „‚betroffensten‘ guckt, am lautesten weint oder am ‚unbescholtensten‘ aussieht“, schreibt Fischer und wendet sich damit als Stimme der Vernunft gegen eine Emotionalisierung des Rechts.

Gefahr durch die besonders Progressiven

In der zunehmenden Individualisierung und Betonung der Identität in unserer Gesellschaft sieht Fischer eine Gefahr: Die Entgrenzung von Begrifflichkeiten und die Unfähigkeit, von der eigenen Betroffenheit zu abstrahieren, unterminiert das Prinzip der Gleichheit. Die Schaffung einer allgemeinen Rechtsordnung ist nicht kompatibel mit der Verabsolutierung von individuellen Regeln. In der gegenwärtigen Debatte um Identität ist dieses Buch ein zentraler Beitrag. Die Überwertung der Identität und die starke Betonung der Differenz haben für Fischer zur Folge, dass immer neue Verhaltensweisen für strafwürdig und strafbar erklärt werden. Der horror vacui, die Furcht vor einer vermeintlichen Gesetzeslücke bereitet totalitären Strukturen den Weg. Fischer erkennt diese Tendenz und nimmt mit seinen Thesen die Position des Mahners ein, des Advokaten der Freiheit. Das mutet an wie ein Paradoxon, da Fischer von seinen Gegnern nicht selten als illiberal diffamiert wird. Nimmt man Fischers Blickwinkel ein und gibt dem selbstbewussten Ich eine Chance zur Stellungnahme, erkennt man jedoch, dass Freiheit und Recht auch gefährdet werden können durch diejenigen, die sich besonders progressiv glauben. Das Rechtssystem und insbesondere das Strafrecht sollten sich resistent zeigen gegenüber sozialkritischen Modeerscheinungen und identitären Bewegungen, die rechtlich bewährtem Universalismus und gesellschaftlich erprobtem Humanismus entgegenstehen.

Rückbesinnung

Fischer beschreitet einen unbequemen Weg, wenn er in einer höchst empfindlichen Gesellschaft die kalte Ratio einsetzt. Es ist aber auch der einzig gangbare Weg, um sich nicht in den Irrungen und Wirrungen des Sentiments zu verlieren. Gerade im Sexualstrafrecht tut man Opfern keinen Gefallen, wenn man Sensibilität und Betroffenheit zum Maß des Rechts, zum Maß aller Dinge macht. Veranschaulichen lässt sich das am Begriff der Gewalt. Der Gewaltbegriff hat im Strafrecht verschiedene Phasen durchlaufen: von ursprünglich physischer Gewalt über psychische hin zum entgegenstehenden Willen. Wie auch beim Missbrauch erachtet Fischer die Ausweitung der Begriffe als problematisch: Angestrebte Differenzierung schlägt in ihr Gegenteil, in Entdifferenzierung um. Hinsichtlich eines dynamischen, auch gesellschaftlich bedingter Wandlung unterworfenen Gewaltbegriffs nimmt Fischer eine konservative Position ein, die sich aber auch als Reaktion auf die zunehmende Fluidität des Gewaltbegriffs, wie sie von progressiven Rechtspolitikern vertreten wird, deuten lässt. Diese Rückbesinnung auf den Kern der Gewalt begründet Fischer nicht nur rechtsgeschichtlich, sondern auch gesellschaftshistorisch und biologisch. Viele Feministinnen mögen das als Provokation empfinden, doch sind Fischers Darlegungen auch Darreichungen zur Schärfung von aus den Fugen geratenen Argumentationsstrategien. Man mag dieses Angebot ausschlagen oder aber annehmen und darin eine Möglichkeit zum Schutz von auch im rechtlichen Sinne Opfern erkennen. Gerade in der #metoo-Debatte hat sich ein Frauenbild herausgebildet, das Stärke, Resilienz und Durchsetzungskraft von Frauen, von ehemaligen Opfern verkennt. Auch wurde Weiblichkeit an sich als rein und unschuldig betrachtet, ohne dabei zu bedenken, dass auch Frauen zu Kalkül und Kampf mit allen Mitteln fähig sind. Fähig freilich auch zum Ausnutzen einer Welle der Viktimisierung, die auch diejenigen trägt, die Schützbedürftigere verdrängen. Vergessen wir nicht, dass #metoo für ein 13-jähriges missbrauchtes Mädchen erfunden wurde. Vergessen wir nicht, dass „Ja heißt ja“ auch bedeutet „Nein“ sagen zu können. Vergessen wir nicht, dass sexuelle Selbstbestimmung auch Eigenverantwortung bedeutet. Vergessen wir nicht, dass nur Widerstand festgefahrene Positionen ins Wanken bringt. Und vergessen wir vor allem nicht, dass die wahre Minderheit oftmals die schweigende Mehrheit ist.

Bedenken wir also das leichtfertig Dahingeworfene, das Sinnentleerte. Fischer regt mit seinen Ausführungen zur animalischen und soziologischen Dimension von Sexualität gängige Schemata zu hinterfragen: Was ist das Patriarchat? Was ist strukturelle Gewalt und inwiefern und auf welche Weise sollen diese Begrifflichkeiten bei der Rechtsbildung eine Rolle spielen. Wenn Fischer proletarische, bürgerliche und adlige Sexualität historisch betrachtet, dann fragt man sich in der Tat, ob die Rede vom Patriarchat nicht die Vielschichtigkeit bürgerlicher Sexualmoral verkennt. Patriarchat wird oftmals mit einer seltsamen Verquickung aus adliger und proletarischer Sexualmoral, wie Fischer sie aufzeigt, assoziiert: Der Mann ist übergriffig, die Frau ökonomischen Zwängen ausgesetzt. Aus diesen Zuspitzungen könnte ein enormer Erkenntnisgewinn resultieren, der sowohl Frauen als auch Männern zugutekäme.

Fischers Buch liest sich, begibt man sich erst einmal hinein in diesen Gedankenkosmos, wie ein Manual für female Empowerment, denn er traut Frauen mehr zu als wir uns manchmal selbst. Je mehr wir Sicherheit verlangen, je mehr wir uns zu Opfern stilisieren oder gar vom Opfernimbus profitieren, desto mehr unterwerfen wir uns einer möglichen Entmündigung. Das gilt gerade für aktuelle Überlegungen, wie sich zum Beispiel das prämenstruelle Syndrom bei der Zurechnungsfähigkeit auswirken soll. 1981 wurde erstmals PMS als „mental disorder“ qualifiziert. Das erinnert unangenehm an eine Zeit, in der imbecillitas, fragilitas und infirmitas sexus die Geschäftsfähigkeit von Frauen beschränkte. Die Frage stellt sich daher: Bedeutet die Resexualisierung des Rechts einen frauenfeindlichen Konterschlag? 

Kein „Gedankenstrafrecht“

Wir können es nicht wollen, dass Geschlechtlichkeit das Recht determiniert, dass Biologie vom Menschen erschaffenes Recht wieder determinieren soll. Auch ist es wenig wünschenswert, dass jeder kleinste Winkel unserer Intimität durchleuchtet und kontrolliert wird. 

Das Leben schreibt die besten Geschichten, heißt es, und nicht selten übertrifft die Wirklichkeit die Phantasie selbst der originellsten Autoren. True Crime Fiction boomt und die Sehnsucht nach Wahrheit wächst. Der Weg von der Fiktion und damit vom Gedanken zu Recht und Strafe kann aber nur ein unilateraler sein. Er darf nicht münden in ein „Gedankenstrafrecht“ (Fischer). Der Dichtergeist kann sich Wille und Wahn in seinem Reich verschreiben, im Rechtssystem aber sollte er sich nicht zum Schöpfer aufschwingen, dieses Risiko ist unkalkulierbar.

Wenn wir klar zu unterscheiden wissen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, vermag das Strafrecht der Stoff sein, aus dem die Träume sind. Sehen wir das Recht jedoch durch das Prisma der Wünsche, entpuppt es sich schneller als Albtraum, als wir wahrhaben wollen.

Ute Cohen

Thomas Fischer: Sex and Crime – Über Intimität, Moral und Strafe. Droemer, München 2021. Hardcover, 374 Seiten, 22 Euro.

Ute Cohen kuratierte bei uns die CulturMag-Specials Tabu und Sex. Weitere Texte von ihr bei uns hier. Ihre Romane „Satans Spielfeld“ – Rezension hier – und „Poor Dogs“ – besprochen hier und hier, verhandeln sexuelle Gewalt gegen Frauen.

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