Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023, News

TW: Der Quellcode für „True Crime“

Eduard Zimmermann. Foto: ZDF

„Diese Sendung ist kein Spiel: Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“, so heißt der Film von Regina Schilling, der neulich für große Aufmerksamkeit sorgte. Schilling seziert in diesem brillanten Film-Essay die psychosozialen Befindlichkeiten Westdeutschlands, Österreichs und der Schweiz vor allem in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren. Mediengeschichte als Mentalitätsgeschichte also, Bilder als semantisches Material, mit denen eine Gesellschaft über sich selbst verhandelt.

Tatsächlich war „Aktenzeichen XY ungelöst“ ein Dauerbrenner in deutsch-schweizer-österreichischen Wohnzimmern. Ich war bei Sendestart 1967 dreizehn Jahre alt, musste also nicht heimlich schauen. Wenn meine Eltern zugesehen haben, haben sie sich entweder blendend amüsiert – über die Leichenbittemine von Eduard Zimmermann, sein bedenken- und staatstragendes Glotzen in die Kamera, sein moralisches Triefen, über die ungelenken Einspieler und den dort auftretenden Schauspielern aus der siebten Reihe -, oder sie haben sich gespult, weil sie die ganze Veranstaltung für ein Aufruf zu Denunzianten- und Spitzeltum, ganz in abscheulicher Tradition, hielten.

Eduard Zimmermann. Foto: ZDF

Ich selbst hatte noch keine Begriffe für das, was mich diese Sendung als zutiefst abstoßend empfinden ließ: Aber es war wohl die Enge und die Miefigkeit nicht nur in den Interieurs, deren Geschmacklosigkeit entsetzlich war, es waren auch die würgenden Bilder vom richtigen und guten Leben – Regina Schilling montiert sie gleich zu Beginn des Filmes als Setting dessen, was folgen sollte. Das Reihenhaus, die Mietswohnung, die patriarchalische Kleinfamilie par excellence. Eine anscheinend normative Welt., die entweder von außen – von oft mit ausländischem Akzent sprechenden Unholden – und von innen – meist von Frauen, deren schlimmer Lebenswandel nur in Tod und Elend führen konnte – bedroht war.  Angst hatte ich schon damals nicht vor den Bildern, sondern vom Mind Set, der dahinterstand.

Wobei wir bei den Bildern wären: Vor allem in den s/w-Zeiten und in der Regie von Kurt Grimm waren die Einspielfilmchen deutlich an den Film Noir angelehnt, anscheinend. So noir ungefähr wie die Pappgrusel-Edgar-Wallace-Filme mit ihren belanglosen Handlungen. Fake noir, würde ich heute sagen. Aber immerhin schaffte es schon ein zunächst rudimentäres Bewusstsein dafür, dass „Noir“ in seinen verschiedenen Ausprägungen eben auch in finsterster Reaktion enden kann. Es gibt gerade unter „Fans“ zum Beispiel eine unerklärlich und auch nicht reflektierte Vorliebe für einen protofaschistischen Autor wie Mickey Spillane oder man liest geflissentlich über extrem problematische Konstellationen bei Jean-Christophe Grangé hinweg – und jüngstes Beispiel, man versucht, den Le-Pen-Spezi A.D.G. (= Alain Fournier, 1947 – 2004) wieder aufzuwerten, wie gerade mit der Re-Edition von „Die Nacht der kranken Hunde“ (bei Elsinor, Ü: Kurt Müller, 1973) geschehen. Was kein Grund zur Empörung ist, sondern nur zeigt, dass semantisches Material nicht per se ideologische ausgerichtet sein muss. Oder eben, siehe „Aktenzeichen XY“, beliebig funktionalisiert werden kann. 

Und noch ein anderer Punkt ist im Kontext von Regina Schillings Film bemerkenswert. In der Rezeption des Films war man sich erstaunlich einig, dass „Aktenzeichen XY …“ (auch international gesehen) der Quellcode für „True Crime“ war, was angesichts von Romanen wie  „Das Massaker von San Martín“ von Rodolfo Wash (1956, Rotpunktverlag, Ü: Erich Hackl) oder Truman Capotes „Kaltblütig“ (1965, zuletzt Kein & Aber, Ü: Thomas Mohr)  engführend ist. Oder eine Gabelung im Wortgebrauch vorwegnimmt.

Die Unzahl heutiger True-Crime-Podcasts, Kolumnen, Magazine, TV-Sendungen usw. mögen tatsächlich in ihrer verbrechensaufklärerischen Intention nebst Fahndungsgedanken von Eduard Zimmermanns Format inspiriert sein (inwieweit dessen Weltbilder und Ideologeme da noch weiter wesen, müsste man mal gesondert untersuchen – Berge von Magisterarbeiten stünden dann an), dass „True Crime“ aber auch eine literarischen Kunstform sein kann, die planetenfern vom schlichten Fall-Aufklärungsschema entfernt ist, siehe Walsh, Capote, Wambaugh etc. etc., beweist auf´s Neue mit großer Meisterschaft der italienische Autor Nicola Lagioia mit seinem kapitalen Roman „Die Stadt der Lebenden“ (btb, Ü: Verena von Koskull). Auch dort wird ein realer Mordfall, also True Crime pur, rekonstruiert und gleichermaßen mittels eines hochartifiziellen literarischen Verfahrens dekonstruiert, wobei die angeblich festen Parameter des Genres sich im Multiperspektivismus auflösen. Nicht nur die „Fakten“ werden problematisch, sondern auch die Mechanismen der Betrachtung von „Fakten“. Mit solchen Entwürfen von „True Crime“ kann ich bestens leben.

© 08/2023 Thomas Wörtche 

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