Geschrieben am 3. Oktober 2022 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2022

Reading Ahead (25): „The Sawdust House“ David Whish-Wilson

Eine Ästhetik am Werk, jenseits der pragmatischen Erfordernisse

Alf Mayer über den neuen Roman eines großen australischen Autors

Kommt ein Autor zu seiner Lektorin, er wolle als nächstes über einen Boxer und ehemaligen Sträfling schreiben, der 1856 unter mysteriösen Umständen in einer Gefängniszelle in San Francisco ums Leben kam … 

David Whish-Wilson ist kein Typ für den Elfenbeinturm. An der Curtin University im australischen Perth koordiniert er das „Creative Writing Program“, ist in der Welt schon weit herumgekommen, einst zehn Jahre durch Europa, Afrika und Asien getrampt. Seine Messer schmiedet er sich selbst, braut sich eigenen Whiskey und Gin, zieht mit seinen Kids durch den australischen Busch. Boxen geht er seit 20 Jahren in seinem Freo (wie die Einheimischen die Perth vorgelagerte Hafenstadt Fremantle nennen) ins Mamba Boxing Studio seines Freundes Joromi Mondlane. Vielleicht wäre im vorletzten Jahrhundert aus ihm auch ein so guter Faustkämpfer geworden wie James „Yankee“ Sullivan, der Protagonist seines Romans „The Sawdust House“ es war. Diesen Sullivan gab es wirklich. David Whish-Wilson hat dessen Lebensgeschichte in Cork, Irland, London, New York und Sidney recherchiert. Das Ergebnis ist sein nun neunter Roman: mehr als eine Boxergeschichte, mehr als ein historischer Roman (von der Historical Novel Society Australasia nominiert), mehr als ein Noir. Es ist auch ein Buch übers Erzählen und Erinnern, über Politik und Demokratie – und es hat einen Autor auf der Höhe seiner schöpferischen Kraft. „The Sawdust House“ ist ein großer Roman.

They found James Ambrose dead in his cell, 
A gaping gash in his arm had drained him down to hell
No one knew for sure if Ambrose was his name
They called him Yankee Sullivan in early days of fame 
He’d known the game of fisticuffs had always treated him right  

But no one knew the men who came and took his life that night

Matt Damon in „Jason Bourne“ (2016)

Die kalifornische Band „Primus“, für ihre jazzigen Crossovers bekannt, die sie selbst „psychedelische Polka“ nennt, hat diesem Yankee Sullivan im „Brown Album“ von 1997 den Song „Fisticuffs“ gewidmet. Das ist ein alter Ausdruck für den Kampf mit bloßen Fäusten, heute bare knuckle fighting genannt – und Teil einer veritablen, geschichtsträchtigen Untergrundkultur. Auch Jason Bourne treffen wir im vierten Film der Reihe auf dem Balkan bei dieser Sportart an. Der Box-Connausseur Merlin Lauert meint: „Wer glaubt, dass ein Muhammad Ali der beste Boxer aller Zeiten ist, der vergisst, einen Blick auf die weitestgehend undokumentierte Zeit des Faustkampfes zu werfen.“ Beim Bare Knuckle Boxing kann einem ein falscher Jab die Hand brechen (einen ihrer 27 Knochen), es wird eher mit dem Handballen geschlagen, die Faust bleibt oftmals den Körpertreffern vorbehalten. Es ist ein komplett anderer Box-Stil.

Einer seiner Meister war jener James „Yankee“ Sullivan, als Francis Murray am 10. März 1811 in Bandon in der Grafschaft Cork, Irland, geboren, im Londoner East End auf der Straße aufgewachsen, schon früh Profiboxer geworden, auch als James Ambrose bekannt, straffällig geworden, zu 20 Jahren verurteilt und nach Australien deportiert. Nach acht Jahren in einer Straßenbau-Gang begnadigt, ließ sich in Sydney bei den Rocks nieder (wo heute die Harbour Bridge steht), damals das gefährlichste Hafenviertel der Welt. Australische Unterweltler waren rund um die Welt gefürchtet. Die „Sydney Coves“ oder „Sydney Ducks“ nannte man sie im San Francisco der Goldgräberzeit. Dave Whish-Wilson schickt in seinem Roman „The Coves“ (meine Besprechung hier) einen halbwüschsigen Jungen durch diese Hölle. Mit „Sawdust House“ kehrt er fünf historische Jahre später erneut in diese Boom-Town zurück, an die „Küste der Barbaren“, wie man die Gegend damals nannte.

Die Worte der einfachen Leute, wie sie fließen

Der Roman spielt 1856 innerhalb von fünf Tagen. Zeigt einen Mann in einer Gefängniszelle, um sein Leben fürchtend, das Aufknüpfen durch eine Vigilantentruppe erwartend, einen Mann, der auf seine Vergangenheit zurückschaut. Zum ersten Mal. Nicht gewohnt, zu ordnen, über die eigene Schulter zu schauen. Der Rhythmus des Buches ist eigenartig, erzeugt flackernde Bilder, manchmal nur einige wenige Sätze lang, erinnerte mich an die Schwarzblenden in Scorseses Boxerfilm „Raging Bull“, eine verlorene Figur, mitten im Boxring tanzend. Aber es gibt auch die langen Runden, manchmal schmerzhaft lang.

Yankee Sullivan hat ein Gegenüber, einen jungen Journalisten, mit sich selbst noch nicht im Reinen, der ihm Fragen stellt, der mehr wissen will als nur sie sensationellen Halbweltgeschichten. 

Es ist, auch erzähltechnisch, eine ganz eigene Komposition, wie Whish-Wilson diese Unterhaltung auffächert. Nicht der herkömmliche Dialog. Stattdessen hat jeder Protagonist tatsächlich eine eigene Buchseite, wenn er zu Wort kommt, das dehnt und verdichtet die Erzählstränge auf seltsame Weise – so wie auch die Boxzeit in einem Ring nicht dem Metronom folgt, sondern die eigenen Tänze, Pausen, Beschleunigungen und Geschwindigkeiten hat. 

Wow.

Der  Sprachgebrauch in Dave Whish-Wilsons Roman ist besonderer Würdigung wert, verpasst manchmal regelrechte Kinnhaken, um in der Boxwelt zu bleiben. 

David Whish-Wilson mit Boxpartner und Freund Joromi Mondlane © privat

„It is indeed a new thing to order my life in such a way that it becomes clear to myself … a life made up of so many stories, they are like braids of a river…“, sagt Sullivan. Schon auf der ersten Romanseite rekurriert er auf seinen Freund, den Dichter Whitman, wie der von den Worten davongetragen wird: „… the gentle melody of my friend the poet Whitman when he were most deeply transported by his words, the words of every man and woman swelling within him, and which in my solitude swell within me.“

Auch Dave Whish-Wilsons Roman fängt die Worte, wie sie fließen, thematisiert immer wieder das Sprechen, die Urkraft der Worte und des mündlichen Ausdrucks selbst.

Write it down like I say it and no other way. (Seite 15).

Das Sägemehl des Titel bezieht sich auf jene Art Kaschemmen, in denen fürs bessere Saubermachen „danach“ Holzspäne auf den Boden gestreut waren, so wie das Stroh im Stall das Ausmisten einfacher macht. Ich selbst traf solche Kneipen teilweise noch in den frühen 1990ern im Südwesten der USA an (heute dort aus Gründen der Hygiene und des Brandschutzes verboten), im Jahr 2020 sogar noch einer Bar im australischen Outback. 
Während seiner Zeit in New York führte Sullivan einen als „Sawdust House“ bekannten Saloon auf der Division Street, im sägemehl-bestreuten Hinterzimmer wurden Faustkämpfe ausgetragen. Sägemehlverkäufer machten mit ihren Fässern damals tägliche Runden in New York, verkauften ihr Abfallprodukt an Restaurants, Bars und Metzgereien, wo es das Blut aufsaugte.

Kochen ohne Deckel, der alle und alles niederdrückt

Es ist auch eine mehrschichtig politische Geschichte, die hier erzählt wird. Alleine schon Sullivans Outcast-, Exil- und Ruhm-Vergangenheit taugt bestens, dazu kommt die sich aus wildestem Goldgräberfieber und Raffgier allmählich zu politischem System und Demokratie formende Gründungsgeschichte Amerikas – der blutige Faustkampf-Sport darin eine „strukturierende Metapher der amerikanischen Erfahrung“, wie der Soziologe Richard Slotkin das 1973 in seiner großen Studie „Regeneration Through Violence: the Mythology of the American Frontier, 1600-1860” auf den Punkt brachte. Sullivan geriet als der (richtigen) Stimmabgegnung nachhelfender Wahlurnen-Bewacher ins Visier des „San Francisco Vigilance Committee“, einer selbsternannten Bürgerwehr, von lokalen Geschäftsleuten aufgestellt und deren Interessen dienend. Die australischen Kriminellen, die „Sydney Ducks“, waren ihnen verhasst und sollten vertrieben werden.

Die Lebensbeichte in der Gefängniszelle, das ist Dostowjeski und Simenon („Der Schnee war schmutzig“), ist existentielle Literatur. Ist Camus und Sartre. Ist „History Noir“. Und Politikstunde.

Demokratie ist für Sullivan „a new system of government form to me, and it were baffling. I will admit that it appeared in the complexity of its operations much like the manoeuvrings of gangs and thieves and cutthroats… It were a seemingly messy way of organizing things… Democracy has always seemd to me a system that works against itself, but that is also ist peculiar cleverness, because for all the energy and scheming wasted securing the votes of other men, there is as a consequence less violence directed from above upon those who want things different. Democracy is like boiling an open pot of water – the steam can escape. There is no iron lid holding us all down, which were the system I were used to.“

Die Demokratie als ein System, das auch gegen sich arbeitet, in der Konsequenz aber weniger Gewalt von oben auf jene ausübt, die etwas anderes als die Mehrheit wollen. Ein Wasserkochen, das den Dampf entweichen lässt, ohne Deckel, der alle und alles niederdrückt. – Lektion von einem Boxer.

Auf Seite 163 kommt der kaum ein Satzzeichen kennende Erzähler Sullivan auf Walt Whitman zurück, der für ihn auf besondere Art die Sprache der einfachen Leute spricht: „He speaks the language of every American man woman child. All of your words songs prayer course through him night and day… He has a way with words that makes you see things that you never knew were there until he says them and then you realise that they have always been there like gold nuggets and jewels at you feet in the manner oft he biblical statement I was blind but now I see.“

Die Fäuste in Essig baden…

Der Erzähler, der das Gold in der Alltagssprache sichtbar machen kann. Das gelingt auch Dave Whish-Wilson mit den Erinnerungen dieses ungebildeten Straßenkämpfers von vor 170 Jahren. Ganz zweifellos hat er hier einen Goldschatz gefunden, versteht ihn, für uns zu heben. Da ist er ganz Scheherazade.

Nicht nur ein Wort-, auch ein Messerschmied…

The truth is that I talk so much because when I stop talking I begin to dream.“

An manche Buchpassagen kehre ich immer wieder zurück, etwa an die am Anfang, die den Ton setzt, welche Art Faustkämpfer dieser Sullivan ist:

„Me – preparing for battle, my body no more than a manifestation of the will that possesses my mind to the exclusion of all else. Such a fierce and sharp blade it is, too – the transsubstantiation of fear, hatred, self-hatred, love and self-love. I soak my fists in vinegar blocking out the banter of my mates and my wife, the wailing of my infant daughter. I starve myself to feed my will, and the pain that consumes my bones, sinew, muscles fuels my will. The images of my opponent’s face are a manifestation of my will fading to nothing before ist certainity, focus and direction.
When I walk into the ring toward the scratch I am almost entirely absent, I am instead a combustible vapour made of nerve-sickness and dread that fueles the rising balloon in the shape of my body, My feet do not touch the ground. My naked skin does not feel the prick of cold air or the weight of humid air. My ears roar with silence. My eyes dance over my opponent like over water…“

Da kann man sich nur verneigen.

An anderer Stelle (S. 227) erzählt Sullivan von Captain Isaiah Rynders (1804 – 1885), der ihn in New York unter die Fittiche nahm. Als Geschäftsmann, Sportler, Unterweltfigur und politischer Organisator war Rynders untertrennbar mit der Seilschaft „Tammany Hall“ verbunden, der Keim- und Machtzelle der Demokratischen Partei in New York.  Er  warb Sullivan an, nachdem er ihn kämpfen und eine seltene Grazie bei ihm gesehen hatte, „something that he strangely described as the aesthetics at play beyond the pragmatics of the operation“. – Eine Ästhetik am Werk, jenseits der pragmatischen Erfordernisse.

Genau das ist auch der Mehrwert von David Whish-Wilsons Buch.

Alf Mayer

David Whish-Wilson: The Sawdust House. Fremantle Press, Freemantle WA 2022. 304 Seiten, 32,99 AUD.

Von David Whish-Wilson sind die Romane „Die Gruben von Perth“, „Die Ratten von Perth“ und „Das große Aufräumen“ bei Suhrkamp erschienen. Seine Bücher „True West“, „The Coves“ habe ich hier in der Rubrik „Reading Ahead“ besprochen. Das Porträt „Dieser Stadt fehlt die Demut“ von mir hier.

Reading ahead mit CrimeMag:
(24) Jack Jewers: The Lost Diary of Samuel Pepys
(23) John Byron: Tribute
(22) Andrew Nette & Iain McIntyre: Dangerous Visions and New WorldsRadical Science Fiction 1950 to 1985
(21) Adam Morris: Bird
(20) David Whish-Wilson: True West
(19) Andrew Nette and Iain McIntyre (ed): Sticking it to The Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980
(18) David Whish-Wilson: The Coves
(17) Rachel Kushner: The Mars Room
(16) Stephen Greenblatt: Tyrant
(15) John Harvey: Body & Soul
(14) Iain McIntyre and Andrew Nette: Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980
(13) The Illustrated Ross Macdonald Archives
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal

Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen: Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012)
Charles Bowden: 
Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)

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