Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020, News

Else Laudan (Verlegerin): Verinselung #Covid-19

Auf Umwegen die Richtung finden

Die surrealen Verhältnisse affizieren mein Zeitgefühl. Tagtäglich schwanke ich zwischen Hoffnung und Besorgnis. Lucien Sève, der Philosoph, der eine Wissenschaft der Biografie erdachte (Die Welt ändern – das Leben ändern), ist tot: Corona. Sie hatten für den 94-Jährigen kein Beatmungsgerät.

Lucien Sève

Optimismus des Willens und Pessimismus des Verstandes, heißt es bei Gramsci. Meinem Bauchgefühl nach ist das wichtigste im Alltag gerade Freundlichkeit und Solidarität, beide blühen zart in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen des Unvertrauten. Nicht drauftreten. Nicht wegbrüllen, auch wenn die Lunte kurz ist. Lieber einen Umweg machen.

Im Verlag arbeiten wir noch, ein bis zwei vor Ort, zwei zu Hause. Zu tun gibt es endlos, obwohl so vieles an Kulturellem jetzt gar nicht planbar ist. Aber das, was wir am besten können, ist doch auf jeden Fall sinnvoll: beharrlich weiter gute Bücher machen. Das ist nun meine Insel.

Neulich im Winter saß ich auf einer Insel des Frühlings am Lektorat von Vertrauter Fremder – ein Leben zwischen zwei Inseln: Stuart Halls Autobiografie, die weit über die Lebensgeschichte des Cultural-Studies-Begründers hinausgreift. (Übersetzt hat sie übrigens Ronald Gutberlet, den ihr auch als Krimiautor kennt.) Das Buch bringt einen Geist rüber, der freundlich und klug ins Denken dringt, ohne je allwissend aufzutreten. Hall ist ein toller Lehrer, dessen entspannt selbstironische Wärme nachhallt, mich in diesen wirren Zeiten aufmuntert und tröstet, mit Sätzen wie diesem: »Und da sitze ich nun und zerbreche mir den Kopf über den historischen Moment der karibischen Nachkriegsmigration nach Britannien und greife auf Anansi und Humpty Dumpty zurück, um etwas von den Merkmalen diasporischen Denkens einzufangen. So läuft es, wenn man sich darauf einlässt, auf Umwegen die Richtung zu finden. Man kann nie sicher sein, wohin man geht oder wen man unterwegs trifft.« (Vertrauter Fremder, S. 204)

Halls abgeklärt-zugewandte Haltung prägt diese Mischung aus Erinnerungen, Schilderungen und Analysen. Das wirkt wie Vitamine für Seele und Denken. Beiher gibt er fesselnde Geschichtsstunden mit besonderem Fokus auf Kolonialismus, Literaturen, Jazz, die New Left und Migration. In geschmeidigen Rückblenden erzählt er, wie er wurde, wer er war, dazu führt er uns nach Jamaika, ins London der 1950er und zu den Quellen seiner »Erkenntnis, dass Identität nicht bloß eine Kombination festgelegter Eigenschaften ist, die unveränderliche Essenz des innersten Selbst, sondern ein sich beständig verändernder Prozess der Positionierung.« (Ebd., 31)

Positionierung – ja, genau die fällt mir momentan zugleich leicht und viel schwerer als sonst. Corona ist ein historischer Einschnitt. Diverse Paradigmenwechsel sind wahrscheinlich. Ein Digitalisierungsschub ist sicher. Es bleibt nicht, wie es war, und wir bleiben nicht, wie wir sind. Woran festhalten? Was überdenken? Wofür streiten?

Zum Beispiel die Frauenfrage, derzeit in krisentypischer Zuspitzung. Klar, oder? Die absolute Mehrheit der Menschen in den „niederen“ Pflege- und Sorgeberufen, die wir meist nur wahrnehmen, wenn uns gerade der persönliche Notfall ereilt hat, die mäßig bezahlt werden und immer hochmotiviert sein müssen, sind Frauen. Dito die Mehrheit an den Kassen systemrelevant offener Läden. Und die Mehrheit derer, die jetzt Kinder (eigene oder die anderer) schulen, hüten und bespaßen. Ein Artikel von Mitte März fasst das Fiasko gut zusammen. Plus Sprache: Unterm Coronahimmel schwinden die Sternchen, die eben den Weg in die Medienwelt fanden. Nennt mich penibel, aber wieso ist immer die Rede von Helden, wenn sozialer Einsatz gewürdigt wird? Frauen wieder mal „mitgemeint“ = unterm Strich ungenannt? Diese Art Erzählung kennen wir doch, Alexander eroberte Indien und so weiter.

Dann die Kapitalismusfrage. So unübersehbar ist jetzt, wie schwer die Gesellschaft vom Neoliberalismus geschädigt ist, strukturell, kulturell, bis tief ins „Naturell“. Ausgerechnet Macron überraschte mich mit seiner Rede am 12. März: »Wir müssen das Entwicklungsmodell hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt hat und dessen Mängel nun ans Licht kommen. Die kostenlose Gesundheit, unser Sozialstaat sind keine Kosten oder Lasten, sondern wertvolle Güter, unverzichtbare Trümpfe (…), die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen. Wir müssen die Kontrolle darüber zurückgewinnen.« Dieser Typ, in der Wolle gefärbter Liberaler, hat anscheinend was gemerkt. Würde gern sehen, dass mehr solche Einsicht in die Politik sickert. Aber unsere Medien griffen es gar nicht auf, es stand nur im Freitag-Blog. Dieser Diskurs muss viel lauter!

Wo ist Isaac?

Else Laudan

Ein paarmal täglich scanne ich online die Lage, so gut es geht. Was wird erzählt, was nicht? Eindeutig ist die Not anderswo viel größer, doch fernes Elend und Krieg rücken noch weiter weg: Alle sind mit sich beschäftigt, gute Zeiten für politische Verbrechen. Dabei gibt es auch schöne Impulse. Akte der Solidarität, Ermutigung. Aber im Netz wimmelt es wie immer von Leuten, die in absoluter Selbstgewissheit andere abkanzeln, sich allwissend über andere erheben und sie verurteilen. Was hofft ihr nur dabei zu gewinnen? Bourdieus symbolische Gewalt, wenn schon nicht Schusswaffen wie in den USA? Ich bin eigentlich nicht zartbesaitet, aber von wütigen Rechthabereien wird mir übel. Leute, bitte, kommt runter. Freundlichkeit und Solidarität geht anders. Schon Wochen vor dem Kontaktverbot riefen viele nach Ausgangssperre, in meinen Ohren quietscht da eine Rückkoppelung. Die Logik der selbsternannten guten Bürger: Wer nicht brav ist, gehört entmündigt. Ich höre den Schrei nach der Autorität, die alles regelt, als schrill geschichtslos. Diese Erzählung kennen wir doch auch, gerade hier!

Und welche Erzählung läuft jetzt? Eben noch waren wir angeblich so maßlos frei – frei zu kaufen, frei uns zu verkaufen, frei zu konsumieren –, Wirtschaftshörigkeit und Privatisierungswahn tobten full speed. Plötzlich gibt es eine Notwendigkeit, gesellschaftlich zu handeln. Aber hoppla – diese Gesellschaft ist über dreißig Jahre stramm neoliberal konditioniert, daher die Partys, die Nummer mit dem Klopapier (der Dünnschiss muss raus), wundern dürfte das nicht. Die Politik reagiert erst mal wie ein besorgter Tierschutzverein. Kultur retten, Kleinunternehmen schützen, guten Willen gibt es offenbar – nur klebt die Frage der Systemrelevanz am System wie die Fliege an der Leimrute. Wann zeigt sich wohl, was wofür ausverkauft wird? Mein skeptischer Krimiverstand bezweifelt Läuterung, auch wenn das Getriebe derzeit knirscht.

Jedoch: Ein paar mir verhasste Schimären und Seifenblasen verlieren an Einfluss. Das Hamsterrad des Konsums ist spürbar angebremst. Sicherheit, dieses skurrile und verlogene Glücksversprechen, erweist sich als eine Art Immobilienblase – puff. Zeitweilig fühle ich mich wie in einem Roman von Jerome Charyn. Nur wo ist Isaac Sidel?

Bücher und Barbarei

Statt Isaac haben wir die Erfolgsjäger der letzten Dekaden, namentlich Amazon. Amazon ist nur ein idealtypisches Beispiel für die antisoziale Zuspitzung des Marktregimes, aber weil in einer Gesellschaft alles zusammenhängt, auch eine starke Metapher für das größere Problem. Jetzt gerade: Der Versandriese stoppt den Bucheinkauf – Hygieneartikel drehen sich einfach schneller, man muss Prioritäten setzen –, richtet hunderttausend neue Jobs ein, um den Markt im Shutdown zu dominieren, verdient unbändig, legal und steuerfrei. Diese Krise wird den Räuber mästen, seine unregulierte Macht vergrößern. Wieder profitiert die Barbarei.

#Büchersindlebensmittel – unsere (noch?) alphabetisierte Gesellschaft macht das zumindest potenziell wahr, und ich möchte unheimlich gern glauben, dass #zuhausebleiben im Shutdown heißt, Menschen lesen und schmökern und nähren ihren Geist, statt häusliche Gewalt auszubrüten. Für solche Hoffnung arbeiten wir. Nicht im Gesundheitswesen, wo zur Stunde der dramatische Wettlauf mit der Zeit tobt, sondern im Kulturellen, schwerer fassbar und doch der Nährboden fürs Miteinander in der ganz konkreten Gesellschaft, deren Große Erzählung – das, woran geglaubt, sich orientiert wird – wir als Publizierende und Bücherverbreitende mitproduzieren.

Ökonomisch sind wir Indie-Büchermacherinnen Risikogruppe, wie in letzter Zeit oft. Bedrohte Art, mühsam erhalten durch idealistisches Engagement bis zum Prekariat sowie Bündnisse und Allianzen. Seit Jahrzehnten erwürgt die Profitmaxime kulturelle Infrastrukturen, der Kampf dagegen ist gerade so lahmgelegt wie das öffentliche Leben. Die Gesellschaft braucht uns Literaturproduzierende, wir brauchen Entlastung vom Profitdruck, brauchen Sichtbarkeit, Veranstaltungen, Begegnung und Austausch, weg vom vereinzelnden Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Prinzip, hin zu der Idee, Gesellschaft gemeinsam zu machen, vielfältig, offen. Kultur für alle …

Aber jetzt Corona. Veranstaltungen sowieso komplett ausgesetzt. Die Buchläden, selbst bedrohte Verteiler und potenziell Orte der Begegnung und des Austauschs, sind zu. Und siehe da: Der Buchabsatz bricht ein. Kleine Verlage wie wir stehen vor einem Abgrund, der uns zeitverzögert ereilen wird. Müsste nicht Lesen das Gebot der Stunde sein im Lockdown? Leute, lest! Nachschub gibt’s von fast allen Buchläden, die liefern gern, per Post, per Fahrrad. Die Kolleg*innen strampeln. Gebt ihnen was zu tun!

Wenn alle mehr lesen würden, das wär’s doch. Stattdessen erschallen im saturierten Deutschland Rufe nach der harten Hand, wie absurd. Dagegen fällt mir nur ein Mittel ein: Übertönen. Mit ruhigen und nachdenklichen Äußerungen, Fragen, Antworten, Ideen. Mit Solidarität und Freundlichkeit. Mit Respekt und Zuspruch für Engagement. Mit Gesang von Fenster zu Fenster. Und mit gutem Erzählen, in dem das Platz hat, was wichtig ist.

Wiederveröffentlichungen sind übrigens verlegerisch besonders riskant. Kaum jemand bringt Kritiken über ein Buch, das es schon mal gab, es kann nicht auf die Krimibestenliste kommen, die nur echte Novitäten erlaubt oder wenigstens Neuübersetzungen – aber Liza Cody: Gimme more haben wir in der „alten“, der kongenialen, lauten, stürmischen, rotzigen und schlauen Übersetzung von Pieke Biermann gebracht, alles andere wär auch bescheuert, denn das Buch ist genau so gedacht. Es ist unser März-Titel, es sollte in Leipzig leuchten, dann fiel die Messe aus. Was ich dort allen sagen wollte: Linnet ›Birdie‹ Walker ist eine Figur, deren titelgebender Schlachtruf Gimme more! durch die Dekaden hallt. Vor 20 Jahren geschrieben und ernüchternd aktuell, wie wir an #frauenzaehlen sehen; zum Heulen zeitlos, was das Verhältnis von Kunst und Geld betrifft; dabei triumphal volltönend mit kratziger, amoralischer Stimme. Gimme more schenkt uns die schamlose Lilith des Rock’n’Roll, die göttlich giftige Ausputzerin, die es braucht – und Cody opfert weder den Humor, noch die Magie des Rock’n’Roll. Ich hab mich diebisch darauf gefreut, aus diesem Buch vorzulesen. Schon klar, fällt aus. Lest es selber, bitte.

Suspense heißt Schwebe

Gute Literatur kommt mir jetzt noch unverzichtbarer vor. Starke, fesselnde Schmöker, die zugleich den Finger in die systemischen Wunden legen, wie es unser Genre Krimi so gut kann. Packende Erzählungen, die den Geist heraufbeschwören, den wir als Gesellschaft dringend brauchen. Die große Sara Paretsky ist eine Garantin für diese Art Lesefutter. Bis Mitte Februar saß ich an der Übersetzung ihres Romans Altlasten, nächste Woche erscheint er. Ein höchst elegant geplotteter Krimi, aber eben noch mehr: ein fesselndes Plädoyer für soziale Verantwortung und gegen Geschichtslosigkeit. Für mich glüht diese Story mit ihrer wackeren Heldin, ihrem weiten Horizont und ihrer vollendeten Suspensekunst.

Clint Eastwood soll mal gesagt haben, was einen Westernplot auf den Punkt bringt: Ich reite in eine Stadt. Der Rest ergibt sich. – Paretsky nimmt diesen Ausgangspunkt für ihren Detektivinnenroman: V.I. Warshawski fährt in eine Kleinstadt. Dort ist sie Die Fremde. Und vor ihrem suchenden Blick entfaltet sich ein typisches Geflecht aus Normalität und Wegsehen, Gehorsam und Kriegsgewinnlertum, Trauma und Verdrängung bzw. Betäubung.

Große Verbrechen profitieren immer von der Geschichtsverdrängung derer, die den Laden am Laufen halten. Für das argwöhnische Hinterfragen des Gewohnten muss erst eine Ketzerin von außerhalb kommen. Nicht, weil es etwa allen gut ginge. Sondern weil Hinterfragen an Gewissheiten rüttelt und Pseudosicherheiten entlarvt, während blinde Flecken genau davor schützen. Aber unsere blinden Flecken schützen vor allem die Verursacher von Gewalt jeder Spielart. Aufklärung tut not. Und Warshawski weiß, dass das ihr Job ist. Natürlich inklusive mitreißendem Showdown.

Warshawski ist übrigens Spezialistin für Wirtschaftsverbrechen, sie kann Haie von kleinen Eierdieben unterscheiden und Profiteurscliquen von Mitläufergemeinschaften. Können wir das auch? Woher kommt der entrüstete Zorn über armselige Nudelhorter, aber die respektvolle Ignoranz gegenüber superreichen Eliten? Vorletzte Woche kursierte online ein Corona-Scherz, der Tucholsky amüsiert hätte. 10% der Deutschen besitzen gut 90% des Vermögens im Land. – Ja, aber dafür besitzen jetzt andere 10% gut 90% des Klopapiers im Land! Interessant daran ist, wer mehr Volkszorn auf sich zieht. Auch eine Art, nach unten zu treten, oder?

Überhaupt, das Virtuelle. Da geht viel jetzt. Was gut ist. Aber auch hart fordert. Ich bin vermutlich etwas oldschool, empfinde die Verlagerung ins Digitale als anstrengend, den Duktus oft als zu laut, spüre massiv Sorge – weitgehend ähnliche wie vor Corona, nur mehr: Wie den Überblick behalten? Was ist wichtig, was lenkt nur ab? Welche Interessen steuern, wer rudert, wer treibt im Strom? Neue Formate, Urheberrechte, Quellen, Seriosität …

Und wessen Daten wandern wohin? Habe jüngst in den späten Abendstunden zum zweiten Mal die Krimiserie Person of Interest gesehen, deren Balance aus Humor und Action mich angenehm an Mit Schirm, Charme und Melone erinnert. Doch Person of Interest, entstanden 2011-2015, ist bei den Kernthemen Digitalisierung, Überwachung, Gewalt ganz dicht am Puls der Zeit. Ungemütlich dicht, ich hab manchmal gestaunt, wie präzise jetzt erst normal Werdendes schon vorauserzählt ist. (Siehe dazu auch die beiden Essays von Markus Pohlmeyer bei uns. May 2016: Von der Geburt einer Göttin, und März 2017: Vom Tod einer Göttin– d. Red.)

Virtuell Kultur machen, selbst soweit es geht, ist für mich nur ein Notprogramm. Ich vermisse die Begegnungen, den Austausch, die Diskussionen, den Kontakt. Im Verlag wie drumherum. Mein Mantra – wir müssen Gesellschaft gemeinsam machen – ist jetzt ganz auf Datenströme angewiesen. Das ist so indirekt!

Umso wichtiger wird mir das Erzählen. In Bath und Chicago sitzen Liza Cody und Sara Paretsky im Lockdown und schreiben. Sie schreiben. Das ist gut. Autorinnen, ihr macht mir Hoffnung. Mögen jetzt starke Kriminalromane entstehen, die unsere ganze große Erzählung wieder ein Stück offener, mutiger, weniger saturiert-spießig, solidarischer und klüger machen.

An alle: Haltet durch und bleibt aufmerksam. Lesen hilft.

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