Geschrieben am 18. September 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (52): Labyrinth und Flügelaltar, St. Petri-Kirche, Dortmund

Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Labyrinth, St. Petri-Kirche, Dortmund. (Alle Folgen hier).

Labyrinth

Zweiundfünfzigste Ausfahrt: Ankunft

Seit wenigen Jahren erst weiß ich, dass in Dortmund drei der köstlichsten gotischen Kirchen stehen, die es in deutschen Landen zu sehen gibt, nah beieinander, im Herzen der Stadt. Vom Bahnhof aus sind es keine zehn Minuten zu gehen. Oft nutze ich die Wartezeit auf den nächsten Zug – oder lasse auch gern mal einen ausfallen –, um eine diese drei Kirchen aufzusuchen: den Strom der Zeit, meiner Zeit, anzuhalten und diese kostbar schönen Räume zu genießen, die Ruhe von Inseln mitten im grellen Getriebe einer Großstadt, das Schweigen.

Sankt Petri liegt dem Bahnhof am nächsten, und deshalb kenne ich sie mittlerweile am besten von den dreien.

Der hohe Raum einer gotischen Hallenkirche, licht und hell, geheimnislos. Ungehemmt fließt das Tageslicht durch weißes Milchglas auf die Säulen aus blassgrauem Sandstein und auf den hellen Putz der nackten Wände. Die Kirche war natürlich auch im Zweiten Weltkrieg in Grund und Boden zerstört und wurde danach lediglich als Gebäude neu errichtet: vollkommen nackt und bloß („entkernt“ würde man es heute nennen). Die dunkle Glut der Glasmalereien, die das Licht von außen durch Blau und Rot brachen, waren so wenig wieder herzustellen wie die Fresken und Mosaiken an Wänden und Decke, schon weil man nicht mehr wusste, wie die Handwerker des Mittelalters das Wunder dieser Farben zustande gebracht haben.

Die freundlich angenehme Helligkeit dieses Kirchenraums ist also ein Kind des letzten Jahrhunderts und verdankt sich den Zerstörungen, die die Menschen sich periodisch anzutun genötigt sind. Krieg als der große Aufheller – Aufklärer? Das Mysterium des Dunkels, mit allen Kniffen und Tricks der Künste im Mittelalter erzeugt, ist zurückgenommen und muss wohl für immer als verloren gelten. Mein Auge hat sich längst an diese neuen Lichtverhältnisse gewöhnt, und in den authentisch gotischen Kirchen, die den Bomben entkommen sind, irritiert mich eine Weile lang das Dunkel. Das Auge muss erst wieder langsam sehen lernen.

Sankt Petri heute: Aus dem Gemäuer des 14.Jahrhunderts, vor zwei Generationen aus Schutt und Staub neu hochgezogen, ist etwas anderes geworden. Die sieben Jahrhunderte sind kaum mehr wahrzunehmen für einen Gast der Gegenwart. Der Hallenraum hat seine nach oben hin ausgerichtete Bauidee eingebüßt. Deutlich wird das an dem Flügelaltar vorne im Chor. Er hat den Krieg überstanden, doch wirkt er jetzt als Fremdkörper in dem modernen Gehäuse. Der Schnitzaltar aus Antwerpen, die biblischen Figurenszenen in dreißig Fächern alle vergoldet – das „Goldene Wunder von Westfalen“ hat man ihn einst genannt. Er steht weiterhin im Zentrum des Schauens, aber er zieht den Betrachter nicht hin zu sich, nach vorne. Er bleibt als ein prunkvolles Relikt längst vergangener Zeiten am Rande. Seine kleinteiligen Szenen können heute kaum mehr gelesen werden. Um ihre Bedeutungen zu verstehen, müsste man die Bibel kennen. Das ist ein fremder Text geworden, und damit bleiben die Geschichten, die der Altar erzählen will, stumm in all ihrer güldenen Pracht.

Der Kirchenraum zeigt in unseren Tagen nur noch sich selber vor. Keine Bänke mehr sind nötig für die Gläubigen, die kommen, um zu beten. Wenn sich eine kleine Gruppe trifft, etwa zum „Feministischen Gottesdienst“ am letzten Sonntag im Monat, sind geschwind die paar Stühle aufgestellt.

Bei einem meiner letzten Besuche liegen Steine auf dem hellbraunen Parkettboden: die Kurven eines Labyrinths. Ein Kunstwerk, das ich als solches genieße. Es könnte auch in einer Galerie oder einem Museum ausgelegt sein. Die Frage der Menschheit, wohin sie geht, jeder einzelne von uns, ist hier als Bild gestellt. Die Frage selbst. Niemand wagt darauf eine Antwort mehr. Auch die christliche Kirche nicht. Alle Antwortversuche, selbst ihre eigenen, scheinen sich entlarvt zu haben. Zu dem goldenen Altar da vorne jedenfalls weisen die in runden Bögen verstreuten Steine keinen Weg.

Den stummen Altar im Blick, bleibt einem Betrachter unserer Zeit die Erinnerung an ein Früher, in Sehnsucht vielleicht oder mit dem Gefühl einer geglückten Befreiung. Mit uns jedenfalls hat das alles kaum mehr etwas zu tun. Was uns bleibt, ist das Labyrinth. Ein Irrgarten.

Kein Trost mehr. Aber ehrlich.

Wohin jetzt gehen?

Klar. Zum Bahnhof.

Michael Zeller

Labyrinth, 2004. St. Petri-Kirche, Dortmund.

Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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