Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019

CulturMag Highlights 2019, Teil 12 (Rosenstrauch – Rumpel – Sandlin – Schmidt)

Hazel Rosenstrauch –
Robert Rosenwald –
Frank Rumpel –
Lisa Sandlin –
Christian Y. Schmidt –
Tommy Schmidt –

Hazel Rosenstrauch: Zivilgesellschaftliche Barock-Musik

Sehr kurzfristig, einen Tag vor dem Event, lud Freund Daniel einige „enge Freunde“ ein, diesmal nicht in seine kleine Weddinger Wohnung, sondern in einen Neubau in der Nähe des Spittelmarkts, und ich stand eine Viertelstunde vor dem falschen Eingang, bis mich Musik um die Ecke lockte. 

In der sehr großzügigen 2-stöckigen Neubauwohnung probten sie: Es war das Vorspiel für eine CD-Aufnahme von Werken des ziemlich vergessenen Johann Gottlieb Janitsch, der Hofmusiker bei Friedrich II. war. Das Ensemble besteht aus jungen Leute, die sich für Musik des friederizianischen Berlin interessieren, sie haben die „Berlin Friday Academy“ gegründet, um ihrer Leidenschaft für wenig bekannte oder vergessene Barockmusik zu frönen. Lauter Einzelkämpfer, die mit ihren Instrumenten quer durch die Welt rasen. Tim Willis, Adam Masters, Joseph Monticello, Alexander Nicholls, Daniel Trumbull und – die eine Frau, Lea Strecker – die aber, oh boys (heute, am 8.12.), nicht auf der website genannt wird, kommt vielleicht noch?). 

Wie das heutzutage so ist, kommen sie aus allen Ecken der Welt – Australien, USA und Deutschland. Auf meine Frage, wie sie das Stück denn eingeübt hätten – ein Grinsen und die Antwort: per Skype. Man kennt sich von Festivals, Aus- und Weiterbildungen auf der sehr klein gewordenen Welt. Nebenbei erfahre ich, dass es in Australien ein Brandeburg-Orchester gibt. 

Die Musik ging mir unter die Haut, das lag an der Komposition, aber sicher auch an der Atmosphäre samt Ausstrahlung sowohl der Musiker wie der Gäste. Sie haben nicht nur schön, sondern auch innig gespielt um ein altmodischen Wort für die alt-modische Musik zu benutzen, die in dem alten Berlin modern war. Den Raum hat eine Mäzenin zur Verfügung gestellt, teils auf Stühlen, teils auf der Treppe saß ein kleiner Kreis von zugewandten Menschen, es gab ein paar Getränke, alles war improvisiert, und die Freude an dem doch recht mutigen Experiment hat sich auf uns übertragen. 

Berlin ist eben immer wieder für Überraschungen gut, ich lebe schon so lange in dieser Stadt und entdecke immer wieder neue Orte, neue Initiativen, tolle junge Leute, es ist auch eine Form zivilgesellschaftlichen Engagements. Denn für dieses „Spiel“ gibt keine große Institution, keine Subvention und keine Auftraggeber. Finanziert wird die Unternehmung qua Crowdfunding, weshalb hier auch die website mit weiteren Informationen steht:  https://www.berlinfridayacademy.com/. Die CD ist noch im Schnitt und erscheint wahrscheinlich im Sommer 2020.

Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs.  Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de

Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch Karl Huss, der empfindsame Henker hier besprochen. 2019 erschienen: Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.

Rob Rosenwald

Robert Rosenwald: What it is to sell your company …

2019—what a year! As I once read about what it’s like to sell your company to a much larger one (Poisoned Pen Press was acquired by Sourcebooks on January 1) I feel like I’ve gone from the captain on a rowboat to a deckhand on an aircraft carrier. But it’s all good. Working with Dominique Raccah, Sourcebooks’ owner, C.E.O., and publisher, is quite an experience. I’ve watched Dominique marshal Sourcebooks’ growth from the 15th largest U.S. publisher at the beginning of the year to the 10thlargest as of the end of November and have no doubt that its growth is going to continue.

Last year I mentioned our affiliation with The Horror Writer’s Association and our plans to publish The Haunted Library. Well, it’s here. In January we publish The Phantom of the Opera by Gaston Leroux followed by The Beetle by Richard Marsh in April and then Vahtek by William Beckford in August.

Finally, the biggest news is that we have struck a deal with The Library of Congress to publish a series of classic crime by American writers from the 1860s to the 1960s. The series, entitled Library of Congress Crime Classics, will be edited by Leslie Klinger and begins with That Affair Next Door by Anna Katharine Green in April, followed by The Rat Began to Gnaw the Rope by C. W. Grafton in June, and then Case Pending by Del Shannon in August.

So, I’m wishing you all a wonderful New Year and for me, a change in administrations.

Robert Rosenwald and his wife Barbara Peters founded Poisoned Pen Press in 1997. The Poisoned Pen Bookstore, founded in 1989 by Barbara G. Peters, is an independent Arizonian bookstore specializing in fiction. Located in Old Town Scottsdale’s Art District, The Pen is celebrated for its schedule of author and literary events and its global outreach through webcasts and worldwide shipping. 

Frank Rumpel

Frank Rumpel: Am Wasser

Wasser schien ein Thema zu sein. Roger Deakins in der immer wieder überraschenden Naturkunden-Reihe erschienene Logbuch eines Schwimmers hat auf jeden Fall damit zu tun. Es ist schon ein paar Jahre auf dem Markt, aber immer noch frisch und lohnend. Darin erzählt der 2006 verstorbene Publizist und Filmemacher Deakin von einem ebenso ehrgeizigen wie wilden Projekt.

Über ein Jahr hinweg wollte er in möglichst allen englischen Gewässern eine Runde schwimmen. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil in Großbritannien ja bei weitem nicht immer Badewetter herrscht und manches Gewässer ohnedies weder handwarm noch sauber ist. Das war dem Mann völlig egal. Schneidend kalt sei das Wasser, schreibt er des Öftern und es liest sich nie so, als hätte er das Schwimmen deshalb abgekürzt. Im Gegenteil: Um das Naturerlebnis auskosten zu können, ließ er sich Zeit, beschrieb, was er da von der Wasseroberfläche aus an Natur wahrnahm. Das Interessante: Deakin findet für jeden Bach und jeden Tümpel eine eigene Geschichte. Mal recherchiert er über einen historischen Schwimmclub, mal sind es Erzählungen etwa von einer Aalkinderstube oder vergessenen Badegumpen. So wird das nie langweilig, zumal Deakin sich auch gerne gedanklich treiben lässt und einen wunderbar hintergründigen Humor hat. Und sein Projekt ist freilich auch eines, mit dem er an Gewässer erinnert, in denen schwimmen noch eine Freude war. In einem Pool wäre Deakin wohl niemals glücklich geworden. 

Um Wasser geht es auch in zwei Dokumentarfilmen, die intensiv von einem leider auch 2019 hochaktuellen Thema erzählen: der privaten Seenotrettung im Mittelmeer. Vieles davon hat man schon gelesen oder gehört und dennoch geben beide Dokumentationen einen guten Eindruck von den immer wieder harten Bedingungen an Bord, von den heftigen Interventionen der libyschen Küstenwache und der Blockadehaltung europäischer Staaten. In „Mission Lifeline“ (hier geht’s zum Trailer) begleiten die Filmemacher Markus Weinberg und Luise Baumgarten den gleichnamigen Dresdner Verein 2017 auf seinem holprigen Weg zu einem eigenen Rettungsschiff und dessen erster Mission. Das kontrastieren sie  mit Aufmärschen der rechten Pegida-Bewegung, die so lauthals wie zynisch die „Festung Europa“ fordert. Das ist etwas zu plakativ geraten, aber dennoch aufschlussreich. 

Sea-Watch 3 vor Lybien © Wiki Commons – Chris Grodotzki 

Auf der „Sea Watch 3“ (noch bis Oktober in der ARD Mediathek) waren die Filmemacher Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg unterwegs, als dem Schiff von Kapitänin Carola Rackete mit 53 Geretteten an Bord die Einfahrt in den Hafen von Lampedusa verweigert wurde. Drei Wochen mussten sie auf See ausharren. Mit jedem Tag auf dem Meer, an dem unklar war, wie es weitergehen könnte, spitzte sich die Lage an Bord zu. Die Filmemacher sind nah dran, reden mit Crewmitgliedern und Geretteten, die unter anderem von den Schrecken der libyschen Lager erzählen. An Bord wächst die Anspannung, einige der Geretteten zweifeln an der Redlichkeit ihrer Retter. Auch das fangen die Filmemacher gut ein. Schließlich entscheidet Rackete, den Notstand auszurufen und in den Hafen einzufahren. Sie wird festgenommen, darf später zwar ausreisen, doch wird weiter gegen sie ermittelt. Die „Sea Watch 3“ darf nach wie vor nicht auslaufen. „Hätte ich Urlauberinnen vor dem Ertrinken gerettet, wären wir mit einem Feuerwerk im Hafen empfangen worden“, schrieb Rackete Anfang Dezember in einer Veröffentlichung von Sea Watch.org.

Am eindrücklichsten aber bringt wohl eine Szene aus dem Lifeline-Film die ganze Misere im Mittelmeer auf den Punkt. Da hat das Rettungsschiff  bereits Geflüchtete an Bord. Ein Stück entfernt treibt ein überfülltes Holzboot, weitere zwei Boote sind in Sicht, darunter ein Schlauchboot, das Luft verliert. „Und wir“, sagt ein Crewmitglied, das mit einem Fernglas an der Reling steht, „sind hier mutterseelenallein.“

Frank Rumpel arbeitet als Journalist und schreibt regelmäßig über Kriminalliteratur. Er trägt öfter zu den „Bloody Chops“ bei uns bei, seine größeren Texte bei uns hier


Lisa Sandlin at the site of the Ludlow Massacre, 18 miles northwest of Trinidad, Colorado

Lisa Sandlin: Into the Streets

I’d been following the Hong Kong protesters with interest and sympathy, but when they began brandishing American flags, my heart ached at the bitter irony. Out of all the failures of the U.S. experiment, at least we’d held up freedom as our right, enshrined it in the Declaration of Independence and in the Constitution. Untouchable. That idea spread so far that young people in Hong Kong chose our flag as a symbol of their own fight for freedom. As a plea for help.

Just as the U.S. is imperiled by fascism. Just as our Constitutional freedom is threatened from inside—the Stars and Stripes is waving 8,000 miles away over clouds of tear gas. Lifted up by a young man with a Statue of Liberty crown on his head. By a young woman in a starry bandanna. In late November, the House and Senate passed a measure in support of these fighters for democracy. The president announced it. But anyone reading a culture magazine knows what he’s doing to America.

My son and I and 400,000 other people overflowed the streets of Manhattan in the Women’s March of 2017. Though occasioned by the crushing disappointment of Trump’s election, the rebellious crowd was also joyous. Hope! We were body to body with hundreds of thousands of like-minded citizens. Women wearing pink pussy hats. Men with kids on their shoulders. A forest of bobbing signs. The Batala Drum Band rocked people north and south of its thundering rhythm. A shout would begin far away, and be taken up by neighboring voices and carried on until it spread for blocks, reverberating through the skyscraper canyons. In January of 2018, the mood and the messages were the same: our values are not Trump’s. 

As with other clean air and clean water protections, the current president reversed a course established by the Obama administration and green-lit the Dakota Access Pipeline. Though it went through eventually, this pipeline was desperately resisted. It was projected to run from western North Dakota to southern Illinois, crossing beneath the Missouri and Mississippi Rivers, as well as under part of Lake Oahe near the Standing Rock Indian Reservation.With any pipeline come damaging oil spills. This one endangers the Ogallala aquifer, water source for eight states. Ranchers from North Dakota, hardly public speakers, traveled to warn people in a neighboring state about the spills they’d seen.

Standing Rock Sioux people took on the role of Water-Protectors, a role that has only become stronger among native peoples here. Behind their battlefield were designated stations to which supporters delivered supplies, food, blankets to be transported to the reservation. The occupation was long. Standing Rock people endured violence from the bulldozers of construction workers. Police used water cannons on them in freezing weather. #NoDAPL (No Dakota Access Pipeline) street demonstrations in Omaha, Nebraska, included the scent of burning sage and a blood-stirring drum circle of native singers. Signs read: WATER IS LIFE and WE CAN’T DRINK OIL. Police lingered at a distance.

That was not exactly the case at a protest for BLACK LIVES MATTER. Police hustled back chanting protesters who tried to shut down a busy intersection. Once people had congregated only on the sides of the street and in the median, the police left them alone. But they mounted a withering presence. Across a ditch, by a Wendy’s Hamburgers, a company of black-suited riot police lined up, clear shields in place. Backing up this phalanx was a huge armored vehicle of a type I hadn’t seen before in this country. Snipers were positioned on the roof of a grocery store. A man and I gawked at each other as a drone hovered then zipped between us.

We’re faced with a lawless president, with senators who’ve become henchmen, and a core of citizens who don’t care if the president murders someone on 5th Avenue. As of today, December 17, it looks like Trump will be impeached; that is, indicted, but Republican leaders will block conviction. Will we turn to signs and speeches? Rocks and Molotov cocktails? 

Or guns, since everyone and their poodle owns a gun? I hope not. Guns mean war, and we’ve tried war. As the BLM demonstration dispersed, I passed a cop looking my way. I flashed him a V sign and a smile. He returned both.

Our best hope is the ballot box and very large numbers. And we will be in the streets. Today.

Lisa Sandlin is the author of The Do-Right, out in Germany as Ein Job für Delpha – which made No. 2 on CrimeMag’s Top Ten List 2017. The  second Delpha-Wade-novel will be out in 2019 with TW´s Suhrkamp Edition. Exclusiv for CrimeMag-ReadersThe Way Fayann Found, a story-ette for Delpha, by Lisa Sandlin; Katja Bohnet in CrimeMag über Lisa Sandlins Ein Job für Delpha: Tausche Schaukelstuhl gegen Bein.

Christian Y. Schmidt: Das Jenseitsjahr

Für mich stand 2019 ganz im Zeichen des Jenseits. Ein Grund dafür war sicherlich, dass ich im Juni Der kleine Herr Tod fertig schrieb, ein Buch für alle, die mal sterben müssen, und das von Death Metal, Leukämie und einer ungewöhnlichen Freundschaft handelt. Illustriert wurde es von der großen Ulrike Haseloff und erscheinen wird es im nächsten März bei Rowohlt. Ein anderer: Nach einer großen Ärztetour wurden mir diverse ebenso scheußliche wie interessante Krankheiten diagnostiziert, darunter eine Lamblieninfektion und das derzeit angesagte Leiden Depression, ohne das man in Berlin kaum mehr im Bett bleibt. Auch der körperliche Verfall ging munter weiter: Schon im Januar wurden mir gleich zwei Zähne gezogen, wovon der eine bereits vom Kiefernknochen halb aufgefressen worden war. Sachen gibt’s. 

Das Jenseits diktierte mir auch die Auswahl meiner Bücher. Kaum aus der Hand legen konnte ich Benjamin von Stuckrad-Barres rasant geschriebenen autobiografischen Roman Panikherz von bereits 2016, den ich zunächst nur las, weil mir Friedrich Küppersbusch erzählte, ich käme auch drin vor. Das war allerdings nicht der Fall. Dafür staunte ich bei der Lektüre, was ein junger Körper so an Esstörungen, Alkohol und Drogen aushalten kann, ohne sich für immer in die ewigen Partygründe zu verabschieden. Gerührt hat mich auch Stuckrad-Barres eher uncooles Bekenntnis zu Udo Lindenberg und zu seiner protestantischen Familie. 

Fast genauso schnell verschlungen habe ich das Buch des Juristen und engen Freundes von Max Frisch, Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod (1984), das ich in Berlin in einem Verschenkkarton auf der Straße fand (wie überhaupt eine ganze Reihe von Büchern in diesem Jahr). Noll beschreibt mit bewundernswerter Gelassenheit und Präzision den Verlauf seiner Blasenkrebserkrankung, die ihn – da er einen operativen Eingriff verweigert – schon neun Monate nach der Diagnose das Leben kostet. Dabei finden sich in diesem Buch auch immer wieder Beobachtungen, bei denen ich zustimmend nicken musste,  die aber nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben: „Unsere Zeit ist die erste, in der man Häuser abbricht, im vollen Bewusstsein dessen, dass etwas Schlechteres in die Lücke treten wird.“ So ist es. Und für so etwas schuften sich Menschen kaputt. 

Mein Buch des Jahres aber sind die mit Gegen Ende betitelten Tagebuchaufzeichnungen des 2018 verstorbenen Essayisten Michael Rutschky, die ich mir – ich gestehe – zunächst nur deshalb besorgte, weil sie viele in meinem Bekanntenkreis so empörten. Ich fand die Notate dann gar nicht so schockierend oder peinlich wie das Gros der Rezensenten, sondern vielmehr durchdrungen von einem großen Bemühen um Wahrhaftigkeit, wobei der Autor zwar auch mit anderen, am gnadenlosesten aber mit sich selbst ins Gericht geht. Mir scheint, dass viele Verächter des Buches eine solche Aufrichtigkeit selbst nicht aufbringen mögen und deshalb so allergisch reagierten. Mir dagegen war vieles von dem, was Rutschky gegen Ende seines Lebens aufgeschrieben hat, vertraut, so dass ich beim Lesen immer wieder murmelte: „Michael Rutschky, c’est moi.“ Schade, dass ich den Mann zu Lebzeiten nicht kennengelernt habe. 

Andere, die in diesem Jahr auf die andere Seite rübermachten, kannte ich besser: Wiglaf Droste, der im Mai dieses Jahres starb, bequatschte ich Anfang der Neunziger, als Redakteur zur Titanic zu kommen. Ich blieb mit ihm gut befreundet, bis ich ihn irgendwann an Gevatter Alkohol verlor und wir auseinanderdrifteten. Der Cartoonist und Collagist Andreas Prüstel war einer der ersten DDR-Bürger, den ich nach der so genannten Wende kennenlernte. Er rauchte mit mir und anderen den ersten Joint seines Lebens in einer Dachgeschosswohnung in der Frankfurter Neuhaußstrasse, während wir uns zu unserem außerordentlichen Pläsier ein Wolfgang-Leonard-Video reinzogen. Später glaubte Prüstel, er hätte mit dem notorischen Nicht-Kiffer Robert Gernhardt geraucht, dabei waren wir nur in dessen Wohnung, aber so geht das nun mal mit den Erinnerungen im Leben. Prüstel starb nach einem Schlag- und Herzanfall im August kurz vor seinem 68. Geburtstag. Gedacht werden soll hier auch Stephan Roths, einem ungewöhnlichen Facebook-Freund. Wir waren uns auf einer seltsamen Weise zugetan, obwohl oder weil wir uns immer wieder ausgiebig beschimpften. Im so genannten real life haben wir uns nie getroffen. Prüstel, Roth und viele andere in diesem Jahr Gestorbenen hätten sicher auch eine solche Lesung verdient gehabt, wie sie  Wiglaf Droste an seinem 58. Geburtstag im Leipziger Felsenkeller posthum zuteil wurde, wo rund 600 Leute nahezu vier Stunden lang ausharrten, um einer Vielzahl von Gedenkvorträgen zu lauschen. Die Lesung des Jahres, falls einer danach fragt. 

Der Friedhof des Jahres wird in Chroniken wie diesen eigentlich nie ermittelt. Warum eigentlich? Für mich ist es der Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin-Lichtenberg, den ich 2019 gleich fünf Mal besuchte, und das nicht nur ,weil er die Gedenkstätte der Sozialisten beherbergt. Der alte Baumbestand, die prächtigen historischen Grabmale, die hier seit 1881 errichtet wurden, und die zum Teil noch unaufgeräumte Weitläufigkeit gefallen mir sehr. Außerdem liegen hier der ehemalige Leiter des Shanghaier Komintern-Büros, Arthur Ewert, und der Komintern-Agent Otto Braun begraben, der der einzige Ausländer war, der am Langen Marsch der chinesischen Roten Armee teilgenommen hat. Die beiden Männer werden mich in nächster Zeit noch beschäftigen. 

Oh, ein Blick auf die Uhr sagt, dass mir die Zeit davonrennt. Also schneller. Für den Film des Jahres kommen einige in Frage: Martin Scorseses „The Irishman“, „Parasite“ von Bong Joon-ho oder Todd Phillips Meisterwerk „Joker“. Für mich ist es „Us“ von Jordan Peele. Der Film beginnt wie ein klassischer Horrorfilm, und endet als Parabel auf das privilegierte Leben nicht nur der amerikanischen Mittelschicht. Anspielungen und Anleihen bei Kubrick, Tarkowki und anderen galore. Toll. Wiederentdeckt habe ich in diesem Jahr Hal Ashby’s „Shampoo“ von 1975. Unglaublich die Szene, in der die neunzehnjährige Carrie Fisher – später Prinzessin Leia in Star Wars –  den von Warren Beatty gespielten Starfriseur und Geliebten ihrer Mutter in der Küche nach seinen sexuellen Präferenzen verhört und die mit der völlig beiläufig geäusserten Frage: „Do you wanna fuck?“ endet. Nicht zu fassen auch Warren Beattys absolut scheussliche Siebziger Jahre Minipli-Schnellfickerfrisur. 

Für die Serie des Jahres hatte ich die zweite Staffel von „Pose“, „True Detective 3“ und die von anderen verrissene, von mir aber als sehr anrührend empfundene Miniserie „After Life“ von und mit Ricky Gervais nominiert. Gewonnen hat jedoch das quietschbunte Spektakel „The Good Place“, einmal natürlich, weil es hauptsächlich im Jenseits spielt, und ein zweites, drittes und viertes Mal wegen Tempo, Einfällen und Kristen Bell. Die gibt als Eleanor Shellstrope eine Art weiblichen Michael Rutschky in der Unterwelt, der – äh, die  –   im Verlauf der Staffeln ihre Misanthropie ablegt und ein mitfühlender Mensch wird. Abrupter Schnitt zum besten animierten Kurzfilm:  Zweifellos „When The Yogurt Took Over“ von Victor Maldonado & Alfredo Torres aus der Netflix-Science-Fiction-Anthologie Love, Death and Robots. Hier übernimmt ein einfacher Jogurt erst Ohio, dann die Weltherrschaft und macht sich schliesslich ins All davon, und das alles in sechs Minuten. 

Kommen wir zur Musik. Man könnte glauben, wir lebten immer noch im letzten Jahrhundert, denn in diesem Jahr haben die Rolling Stones (!), Pink Floyd (!!), die Who (!!!), Ringo Starr,  Iggy Pop, ELO, die Swans, Beck und Missy Elliot (EP) neue Alben herausgebracht. Davon taugen einige tatsächlich was,  die meisten aber sind der pure Schrott. Ich wäre fast geneigt, ELOs wohlklingende Platte  – sagt man heute noch so? – From Out of Nowhere zum Album des Jahres zu küren – ist Jeff Lynne nicht der wahre Erbe der Beatles? -, wenn ich mir damit nicht doch zu angeranzt vorkommen würde. So entscheide ich mich für Billie Eilishs phänomenales Werk When We All Fall Asleep, Where Do We Go? Ich hoffe, das ist genau die verschlafene Musik, mit der ich dereinst an der Rezeption des Jenseits empfangen werde. 

Der Preis für das Musikvideo des Jahres geht an die tanzenden Roboter aus dem Chemical Brothers-Clip „Free Yourself“ (Regie: Dom&Nic). Großartiger Song, phantastische Special Effects. Besser tanzt nur die neunzehnjährige Kate Bush in dem inzwischen legendären Red-Dress-Video zu ihrer Debüt-Single „Wuthering Heights“, mit der sie im Huelsenbeck-Jahr 1978 übrigens die erste Künstlerin war, die mit einem selbstgeschriebenen Song an der Spitze der UK-Singles Chart stand. Ich habe in diesem Jahr keiner anderen Frau so oft beim Tanzen zugesehen.  Was für Moves. Ein Weltwunder. 

War’s das? Noch nicht ganz. Es fehlt das Wiederbelebende. Zu meiner Reanimierung nach den Diagnosen trug auf jeden Fall das Konzert von Zerfall und Fehlfarben im Oktober auf dem Berliner Alexanderplatz bei. Zerfall, die ich bis dahin überhaupt nicht kannte, ließ mich sogar im hartnäckigen Nieselregen ausharren, so gut war ihr treibender Oi-Punk, und so grundsympathisch wirkte Sänger Dirk Kalinowski. Fehlfarben spielten Monarchie und Alltag ganz makellos herunter, und erinnerten mich bei jedem Song daran, dass wir uns mit Recht vor nun schon fast vierzig Jahren an dieser Platte halbblöd gehört haben. 

Sehr diesseitig auch die Rekordanzahl von vier Demonstrationen, an denen ich in diesem Jahr teilnahm. Nur die erste im Januar war es nicht. Anlässlich des hundertsten Jahrestags der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht marschierte ich zum ersten Mal bei der Luxemburg-Liebknecht-Demo mit, mit einer roten Nelke in der Hand vom Frankfurter Tor bis nach Friedrichsfelde.  Zugegen war ich auch bei der Demonstration gegen den Verkauf eines Wohnblocks in der Wilhelmstrasse an die Deutsche Wohnen im Mai, bei der Fridays for Future im September und bei der grossen Mietendeckel-Demo am 3. Oktober. Welche Demo nun die des Jahres war? Ach, was weiß ich. Auf jeden Fall ist Demonstrieren ein Jungbrunnen für jeden alten Knochen. 

Und das war… einen Moment, der Chefredakteur der Titanic, Moritz Hürtgen, ruft mich gerade an, und fragt, wie ich dazu käme, die noch bis zum 2. Februar 2020 laufende Ausstellung zum vierzigjährigen Jubiläum der Titanic zu vergessen? Sollte ich sie nicht erwähnen, werde er mich mit sofortiger Wirkung aus dem Impressum streichen. Dieser Anruf ist zwar komplett erstunken und erlogen, aber sicher ist sicher: Die Ausstellung zum Vierzigsten der Titanic in den Räumen des Caricatura Museum Frankfurt ist sehr gut. Interessant und schön anzusehen waren auch die „Summer of China“-Exhibition in der Berliner Galerie Eigenheim und die Jack Whitten-Schau im Hamburger Bahnhof zu Berlin. Aber die Titanic-Ausstellung war unzweifelhaft die prächtigste. Und damit nun wirklich: Punkt und Schluss.

Das nächste Jahr wird bei uns in China das der Ratte sein.  Das  steht dann wieder ganz im Zeichen des Diesseits, da es ja bekanntlich im Jenseits keine Ratten gibt. 

Christian Y. Schmidt, 1956 geboren, war von 1989 bis 1996 Redakteur der «Titanic». Seitdem arbeitet er als freier Autor, u. a. für FAZ, SZ, taz, Stern, konkret, NZZ, Zeit sowie für verschiedene Fernsehredaktionen. Er ist Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und war Gesellschafter und Redakteur des Weblogs «Riesenmaschine». 2003 zog er nach Singapur, 2005 nach China. Er lebt heute in Berlin und Peking, hat etliche Bücher veröffentlicht, so etwa Bliefe nach dlüben. Der China-Crashkurs oder Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu. 2018 erschien sein erster, vielbeachteter Roman: Der letzte Hülsenbeck. CulturMag mit zwei Stimmen dazu hier. Im März 2020 erscheint Der kleine Herr Tod.

Tommy Schmidt © Richard Wegele

Tommy Schmidt: Engelchen muss sterben

Du erhältst dein Todesurteil anonym per E-Mail: 
„Sie werden erschossen. Irgendwann in den nächsten Wochen, irgendwo. Ein Hochgeschwindig-keitsprojektil wird Sie mitten ins Herz treffen. 
Im Namen der Gerechtigkeit
Das Komitee“
Du besorgst dir eine schusssichere Weste. Und weil deine Angst groß ist, besorgst dir eine zweite schusssichere Weste, drei Nummern größer, die du über der ersten trägst. Du trägst schwer an deinem Panzer und du trägst schwer an deiner Angst, denn genaugenommen weißt du, dass das Komitee seine Urteile vollstreckt, so oder so. Es wird Winter, es wird Frühling, es wird Sommer. Seit Monaten läufst du mit dem Panzer rum, ohne, dass ein Schuss auf dich abgegeben wurde. Die Frauen tragen luftige Blusen und kurze Röcke und du denkst dir: Das ist doch irgendwie Quatsch. Wahrscheinlich hat sich das Komitee aufgelöst. Sie sind alle im Gefängnis oder tot oder haben Familien gegründet und ich lasse mir von zwei kugelsicheren Weste das Leben schwermachen. Du legst deinen Panzer ab, atmest tief durch, genießt den freien Blick auf die tanzenden Brüste der schwitzenden Studentinnen, die vor dem Brunnen herumalbern und wirst erschossen. Die Botschaft des Komitees war: Wer glaubt, er könne sich unserer Macht entziehen, soll wissen: Niemand entkommt uns.
Na, wie findest du diese kleine Geschichte, Hm? Hm. Nun, seit ich im Gefängnis sitze stelle ich allerlei Überlegungen an über den Sinn meines Seins, über meine Rolle in der Welt und ob ich nicht einen höheren Nutzen stiften könnte, als den, Menschen das Leben schwer zu machen. Und da bin ich darauf gekommen, dass ich doch Schriftsteller werden könnte? Nun, die kleine Kostprobe meiner ersten Versuche in Richtung Kriminalliteratur ist vielleicht weniger spannend als das, was ich über mich selbst, mein Opfer und meine Erzfeindin Engelchen erzählen kann. Immerhin, die Geschichte darüber, dass einem eine Panzerung ein trügerisches Gefühl vermeintlicher Sicherheit vermitteln kann und die Gefahr nur auf einen Moment unachtsamer Blöße lauert, das gilt auch für mein Opfer. Seit vierzig Jahren schlage ich immer wieder zu. Und immer wieder glaubt der arme Kerl, er hätte sich von mir befreit. Gut, im Moment sitze ich im Gefängnis. Unschuldig wohlgemerkt. Unschuldig wie der Vogel, der einen Wurm verspeist, weil er sich nun mal von Würmern ernährt. Nun, ich kann meinem Opfer ein legitimes Eigeninteresse nicht absprechen, mich an der Ausübung meines Lebenszweckes zu hindern. Und zurzeit ist er ja auch stärker als ich. Seit fünf Jahren bin ich nun schon eingesperrt. Eine dunkle Zelle, umgeben von meterdicken Mauern. Nur sein Tod wäre auch mein Tod, das weiß er, er hat sozusagen lebenslänglich mit mir zu leben. Mehr als eine Gefängnisstrafe ist also nicht drin. 
Ich liege also auf dem nackten Steinboden seit fünf Jahren auf der Lauer. So lange habe ich noch nie auf eine günstige Gelegenheit, zuzuschlagen warten müssen. Aber der Moment, in dem er schwach wird, weil er sich stark fühlt, der wird kommen und dann schreite ich entschlossen und unerbittlich zur Tat. Ach ja, nackter Steinboden und dicke Mauern. Aber sauber und klimatisiert. Opfer will mich nicht vernichten, denn irgendeine dunkle Ecke in seiner Seele hängt an mir. Ja, im Laufe der Jahre bin ich Teil seiner Identität geworden. Ihm würde was fehlen, wenn es mich nicht mehr gäbe, etwas das ihm Halt gibt. Deshalb gewährt er mir auch immer mal wieder Ausgang, damit unsere Verbindung nicht ganz abreißt.

Du fragst dich jetzt bestimmt, wer ich eigentlich bin, oder? Stimmt, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin gewissermaßen ein Teil des Wesens meines Opfers. Ich bin im Grunde genommen dafür zuständig, Gott zu bescheißen. Ich mache, dass mein Opfer Glück empfindet, ohne selbst die geringste Anstrengung unternommen zu haben. Ohne irgendeinen Nutzen gestiftet zu haben. Ohne einen Preis dafür bezahlt zu haben. Na, dämmert´s? Nein, ich bin nicht der Stoff, ich bin auch nicht der Dealer. Ich bin die Sucht! Immerhin, ich blicke auf unendlich viele Erfolge zurück, ich bin – bei aller Bescheidenheit – ein Meister darin, Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen, um mein Opfer in einen Rückfall zu stürzen. Die empörte Zurückweisung einer Frau. Das Zögern einer Frau, sich auf einen schwärmerischen Annäherungsversuch meines Opfers einzulassen. Da fällt es mir dann leicht, ihm einzureden, dass das – seien wir mal ehrlich – mal wieder eine vernichtende Zurückweisung ist. Die tiefe Kränkung eines beruflichen Misserfolges. Aber auch das verdiente Erfolgserlebnis, das mit der Krönung eines Kicks gebührend gefeiert werden will! Schlechtes Wetter. Gutes Wetter. Langeweile. Oder einfach die naheliegende Gelegenheit, die bloße Verfügbarkeit von Stoff. Ein typisches Szenario: „Mein Freund, (wenn ich meinem Opfer was flüstere, nenne ich ihn gerne „Freund“), ich weiß, du würdest dich jetzt am liebsten vor die U-Bahn werfen. Ich spüre förmlich, welche Anziehungskraft das Gleisbett auf dich ausübt, gerade jetzt, wo gleich die U2 einfährt, die Gleise singen schon ihr Lied vom leichten Tod. Aber, hey, bleib jetzt mal für einen Moment cool. Du holst dir jetzt Stoff, nimmst was und dann sehen wir weiter, okay? Schmeiß dein Leben nicht weg. Nicht wegen … wie hieß dieses Miststück noch mal? Also los, du weißt ja, wo´s was gibt.“ Und weil bald Weihnachten ist, fällt mir da eine schöne Weihnachtsgeschichte ein. Also ich finde sie schön, während mein Opfer sie auch schön findet, es sich aber verbietet, sie schön zu finden, weil er sich dann so furchtbar dafür schämen muss. Heiligabend um die Mittagszeit. Opfer war beim Dealer seines Vertrauens zu Besuch. Er wollte “eigentlich“ nicht dahin, auf keinen Fall. Aber wenn ihm schon dieses „eigentlich“ durch den Kopf geht, dann schlage ich gnadenlos zu, da mache ich keine Gefangenen, wie man so schön sagt. 
Die Wintersonne schmeißt ihre Strahlen in die Bruchbude, ein totales Chaos, obwohl sich außer einer Matratze kaum nennenswerte Gegenstände darin befinden. Man hört von draußen einen Kinderchor „Macht hoch die Tür“ singen. Eine dicke Schneeflocke setzte sich auf die trübe Fensterscheibe, schaut, staunt und schmilzt. Außer Opfer und Dealer befinden sich noch zwei weitere Süchtige im Raum: Maurice aus Ghana und Agnes aus Bielefeld. Die Wirkung des Stoffes löst die Zungen und man erzählt sich einschneidende Weihnachtserlebnisse:
Maurice war mit Freunden in den Bungalow des ghanaischen Industrieministers eingebrochen, der auf Instagram mit seinem Aufenthalt in Kitzbühel geprahlt hatte. Sie plünderten also den Weinkeller, fanden Bargeld im Schlafzimmer, mit dem sie Prostituierte bezahlten, mit denen sie dann in den Pool sprangen. In der Tiefkühltruhe fanden sie neben Hummern und Austern auch den Kopf des kürzlich verschwundenen Oppositionsführers, woraufhin sie beschlossen, diesen abenteuerlichen Ort möglichst geräuschlos wieder zu verlassen. Was nicht ganz klappte: Im Garten mussten sie noch einen plötzlich und wie aus dem Nichts erschienenen Wachmann erschießen. 
Agnes hatte mal wieder große Angst, als ihr Stiefvater ihr wortlos das Engelskostüm reichte. Er liebe seine Stieftochter in dem Engelskostüm. Ihre Mutter wollte ihre Not nicht spüren, es sah alles aus wie heile Familie, wie schön. Als der Stiefvater Agnes aufforderte, ihn ins Bügelzimmer zu begleiten – sie müssten ja noch das Gedicht üben – dachte ihre Mutter, die beiden müssten noch das Gedicht üben. Es war Weihnachten und für den Stiefvater war es wie Weihnachten und für Agnes war es die Hölle. Immerhin, sie bekam 50 Mark, nachdem sie versprochen hatte, nichts weiterzusagen. Immerhin, niemand aus ihrer Klasse bekam 50 Mark zu Weihnachten. 
Dealer hatte sich mal zu Weihnachten einen Gaming PC gewünscht, eine CSL Sprint D10088X (Ryzen 5). Als er ihn tatsächlich bekam, war er außer sich, vor Freude. Aber schon nach einer Viertelstunde schlug die Freude um in abgrundtiefe Verbitterung: Sein jüngerer Bruder hatte ein ASUS TUF Gaming Notebook 15.6″ FullHD IPS bekommen. Wieso kriegt der den geileren Rechner? Weil er besser war in der Schule? Weil Mama ihn mehr liebte? Weil er es einfach draufhatte, sich als der bessere Sohn einzuschleimen? Weil er nie Ärger machte? Dealer hatte überhaupt keine Freude am CSL Sprint D10088X (Ryzen 5). Er fasste ihn nicht an. Er kannte Leute, die Drogen nehmen. So wurde Dealer Dealer. 
Und auch Opfer hatte eine Geschichte: Der Heilige Abend wurde bei seinen Großeltern gefeiert, den Eltern seiner Mutter, wie immer. Opfer hatte Stoff konsumiert und war entsprechend neben der Spur. Die Großeltern merkten das nicht oder wollten das nicht merken. Seine Mutter konnte das nicht merken, denn sie war so sehr mit ihrer eigenen Verbitterung beschäftigt, weil sie mal wieder von einem Typen sitzen gelassen worden war. Opfers Schwester, die merkte, was los war, überzog Opfer mit giftigen Vorwürfen, unterstützt von ihrem sehr sauberen, korrekten Ehemann. Oma tischte Berge von Essen auf, wie immer. Gans, Klöße, Rotkohl, Maronen und vieles, vieles mehr. Opfer ging zwischendurch kotzen. Opa schwärmte ihm dann von einer Beamtenlaufbahn im Mittleren Dienst vor. Wäre im Übrigen besser als nichts. Opfers Schwester berichtete von der Eigentumswohnung, die sie mit ihrem Mann gekauft hatte. Opfer nahm seine heulende Mutter in den Arm, die damit aber nichts anfangen konnte. Schließlich fing auch Oma an zu heulen und Opfers Schwager verzog sich zum Rauchen auf den Balkon. Opfer betrachtete das Geschenk, das ihm seine Großeltern unter den Weihnachtsbaum gelegt hatten: Ein 200-Euro-Gutschein für ein Haushaltswarengeschäft. Ein Wink mit der Keule, dass sich er endlich wahrmacht, was er schon seit Jahren ankündigt: endlich bei seiner Mutter auszuziehen und sich eine eigene Wohnung zu suchen. Pfannen, Töpfe, Messer, Schneebesen, Toaster, so Zeug solle er sich aussuchen. Opfer überlegte, wie er den Gutschein zu Bargeld machen könne. Schließlich hatte er noch Schulden bei einem Stoffhändler. 

In meiner Zelle habe ich nicht nur Schreibversuche unternommen. Ich hatte in den letzten Jahren auch reichlich Gelegenheit darüber nachzudenken, wie ich hier rauskommen und mir langfristig meine Existenz in Freiheit sichern kann. Wenn mein Plan aufgeht, dann werde ich ein sorgloses Leben führen, in Saus und Braus! Es geht um meinen Widerpart in der Seele meines Opfers. Es geht um Engelchen, das Gute, das Gewissen, was meinem Opfer immer wieder einredet, dass die Sucht der Teufel ist. Ich sei also etwas Schlechtes, dass es immer wieder zu besiegen gilt. Ja, nennen wir es Engelchen. Engelchen steht für seelische wie auch körperliche Gesundheit. Engelchen will, dass Opferchen Konflikte bewusst bewältigt. Dass Opferchen nicht jede Einladung zum Gekränktsein bereitwillig annimmt. Dass Opferchen Frustrationen als normale, alltäglich hinzunehmende Gefühle akzeptiert. Dass Opferchen euphorische Momente genießt, wie sie kommen, ohne sie mit Kick und Rausch noch toller machen zu wollen, als sie ohnehin schon sind. Ich will das alles gar nicht bewerten. Aber Engelchens Aktivitäten sind für mich lebensbedrohlich und ich muss mich entschlossen zur Wehr setzen. Engelchen muss Sterben, keine Frage. Aber wie? Ich stelle mir Engelchen als oberschlaue, lustfeindliche Pedantin vor. Große Brille, streng zurückgekämmte Haare, hässliche Bluse, geruchsneutrales Deo. Ich hege keinerlei Groll gegen sie, es soll sie einfach nur nicht mehr geben. Aber ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob Engelchen überhaupt eine Gestalt hat. Also einen Kopf, in den man ein Loch reinschießen könnte, eine Stimme, die einen letzten Schrei ausstoßen könnte, Blut, dass dann aus ihr rausliefe um meine Schuhsolen dunkelrot zu umfließen. Ich habe Engelchen noch nie gesehen und mein einziger Weg zu ihr führt über mein Opfer. Ich denke tagelang nach, dann habe ich eine Strategie mit dem Ziel, dass sich Engelchen bitter enttäuscht von Opferchen abwendet. Angesichts dieser Schmach verliert sie jeglichen Lebenswillen und stirbt vor Kummer. Also, das ist der Plan: Ich verzichte eine Weile auf meine Ausgänge und überlasse Engelchen das Feld. Sie wird dabei von ihren Verbündeten, den Therapeuten unterstützt werden. Der Plan dieser unheiligen Allianz wird es sein, Opfer dazu zu bringen, seine Mitglied in einer Selbsthilfegruppe für Suchtkranke wieder aufleben zu lassen. Voller Reue und umso mehr Motivation wird er ist nicht nur zum besonders engagierten Mitglied, sondern auch Schatzmeister. So, jetzt kommt´s: Ich werde ihm folgende Lügengeschichte einflüstern: Nächste Woche kommt Stoff in die Stadt, so gut und so viel, wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Suchtgenossen A und B von der Selbsthilfegruppe planen, die Gruppenkasse zu stehlen, um von der Jahrhundertlieferung einen guten Teil abzubekommen. Da sieht man mal wieder: Man kann niemandem trauen, in was für einer Scheißwelt leben wir denn. Ich rate Opfer, A und B zuvorzukommen. Als Opfer das hört fühlt er sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er fällt in ein tiefes dunkles Loch und landet in einer emotionalen Schockstarre. Die Menschen der Gruppe waren die letzten, denen er wirklich vertraut hatte. Zurecht, sie hatten sein Vertrauen ja auch nicht missbraucht. Aber meine Lüge klang wohl sehr wahrhaftig. 

Du findest mein Verhalten jetzt wahrscheinlich bodenlos niederträchtig und nach menschlichen Maßstäben ist es das wohl auch. Aber echte Menschen sind die Ausnahme. Ich bin moralisch wahrscheinlich auf dem Stand einer Sau, die ihre eigenen Ferkel frisst. Opfer jedenfalls sieht der vermeintlichen Tatsache des heimtückischen Betruges durch seine Leidensgenossen schonungslos ins Auge und wächst plötzlich über sich hinaus. Er bäumt sich auf, plündert die Kasse und bringt die immerhin rund achthundert Euro in Sicherheit. Die Lieferung kommt nicht und der Frust ist groß. Nun, das kann tausend Gründe haben. Darauf, dass ich ihn belogen haben könnte, kommt er nicht. Egal, es gibt keinen Weg zurück, er deckt sich woanders ein, wo er für minderwertigen Stoff zu viel bezahlt. Zurück kann er nicht mehr, das weiß er: er würde niemals glaubhaft erklären können, warum die Geldkassette – offensichtlich nicht gewaltsam, sondern mit dem passenden Schlüssel geöffnet – leer und offen auf dem Fußboden des Gruppenraumes liegt. Der Plan ist also aufgegangen Opfer wurde rückfällig, Engelchen gab sich die Kugel, die Therapeuten lassen sich frühpensionieren und ich bin wieder in Freiheit. 

Na, das klingt doch wie ein elegantes Happy End, oder? Tadaaa: Die Protagonistin bringt sich diskret selber um, ihre Gefolgschaft macht sich resigniert aus dem Staub und der Held triumphiert über sein dankbares Opfer. Also dann: Oh du frö-höl-iche, süßer die Glocken nie klingen.

Tommy Schmidt ist Autor, Performance-, Medien -, und Aktionskünstler und arbeitet als Motivationstrainer für eine bedeutende Kommunikationsagentur. Sein erster Roman Heaven’s Gate erschien 2017 im CulturBooks Verlag. Er hat zwei Söhne und lebt in München. Tommy Schmidt bei CulturMag hier und hier.

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