Tod nach Punkten
von Tommy Schmidt.
Zu den tückischsten Entwicklungen, die die Zukunft für uns bereit hält, gehört das Social Scoring, siehe China. Tommy Schmidt hat sich in einer Kurzgeschichte, die exklusiv präsentieren zu dürfen uns sehr freut, ein paar schöne Gedanken gemacht, welchen groben Unfug man damit anstellen kann. Enjoy!
Lothar betrachtet mit einem Gefühl wohliger Genugtuung sein BuH. Er war mit dem Kontostand seiner Bonuspunkte für ungesetzliche Handlungen durchaus nicht unzufrieden. 9.187 Punkte, damit kann man schon einiges anstellen. Es würde locker für einen mittelschweren Raubüberfall, einen schweren Diebstahl, eine leichte Körperverletzung und eine Beamtenbeleidigung reichen. Oder, anstelle der Körperverletzung und der Beamtenbeleidigung für einen saftigen Versicherungsbetrug. Nun, Lothar ist nach eigener Auffassung ein braver, gesetzestreuer Mensch mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Normen, ein aufrechter Staatsbürger, der die Einhaltung von Regeln für eine wesentliche Voraussetzung dafür hält, dass Gesellschaft überhaupt gelingen kann. Das war nicht immer so, das war ihm nicht in die Wiege gelegt, diese Haltung und dieses Verhalten hat er sich mühsam erschließen und hart erarbeiten müssen. Und dass er tatsächlich dieser neue gute Mensch geworden ist, mögen ihm jene nicht so recht abnehmen, die als Opfer, Richter, Vollzugsbeamte, Bewährungshelfer lange genug unter dem zu leiden hatten, was er nun feierlich abgelegt zu haben behauptete. Umso wichtiger war es ihm, diese wundersame Läuterung stolz vor sich her zu tragen. Seine Lebensführung lässt an dieser Haltung tatsächlich keinen Zweifel, nie gibt sein Verhalten den geringsten Anlass, ihn etwa für einen zwielichtigen Charakter zu halten.
Aber Lothar hat einen triftigen Grund für seine penible Gesetzestreue: Er braucht die Punkte für etwas Größeres, im juristischen Sinne immerhin ein Kapitalverbrechen, nach seinen eigenen moralischen Wertmaßstäben eine Notwendigkeit. Lothar plant einen Mord – und steht nun vor der Qual der Wahl: Wer soll dran glauben? Zwei Nachbarn sind in der engeren Wahl. Aber der aktuelle Kontostand reicht nur für einen und das ist nicht unbedingt der Favorit: Pedro wohnt im Erdgeschoss und ist spielsüchtig. Er zockt online und wird täglich tausendfach von Computerviren infiziert. Die Immunabwehr seines Computers mag ja diese Attacken bewältigen können. Aber längst ist bewiesen, dass die neuesten Generationen von Computerviren auch auf Menschen überspringen können. Abgesehen davon, dass Lothar ihn zu Lasten seines BuH-Kontos straflos umbringen könnte, wäre das eigentlich schon aus Notwehr geboten.
Pedro ist hoch verschuldet, arbeitslos und mehrfach wegen Betruges und Diebstahl verurteilt. Sein GeVo-Wert für Gesellschaft und Volkswirtschaft ist gering. Deshalb kostet ein Tötungsdelikt zum Nachteil von Pedro auch nur fünftausend Punkte. Sandra zu töten würde aber allein schon zwölftausend Punkte kosten. Und Sandra ist die Nummer Eins auf Lothars Liste, denn Sandras zahlreiche und ständig wechselnde Liebhaber schleppen alle möglichen Krankheitserreger ein, so dass Lothar ungern, selten und nur mit Desinfektionsspray und Latexhandschuhen das Treppenhaus betritt.
Die verantwortlichen Algorithmen, die den GeVo-Wert für Gesellschaft und Volkswirtschaft eines jeden Bürgers laufend festlegen, haben Lothars seitenlange Beschuldigungen und Begründungen dafür, warum Sandra keineswegs die reine Unschuld ist, sondern vielmehr eine asoziale, impertinente Heuchlerin, schlichtweg ignoriert. So ziehen sie ausschließlich weit weniger relevante Parameter heran: Sandra ist jung, gut ausgebildet, gesund, bezieht ein beachtliches regelmäßiges Einkommen, zahlt entsprechend viele Abgaben und will nach eigenen Angaben noch Kinder kriegen. Klar, wenn Lothar Sandra aus dem Verkehr ziehen will, braucht er noch fast dreitausend Punkte. Und dann wäre sein Guthaben aufgebraucht, dann finge er wieder von vorne an, dann dürften Pedro und die anderen noch weiterleben und ihn an Leib und Leben bedrohen.
Wenn Lothar also wieder von vorn anfangen muss, weil ihn der Mord an Sandra alle BuHs kostet hat, dann ist das nicht weiter tragisch, denn seine Mutter wird bald sterben und dann erbt er ihre Punkte. Gut, viele sind das nicht, denn Lothars Mutter war als notorische Betrügerin sogar im Gefängnis gewesen. Sie hatte sich dann aber wieder Punkte erschwindelt und mit etwas Glück könnte das dann für Sandra reichen.
Kommentar von HelloKitty
Ich muss jetzt auch mal was sagen: Ich bin die Mutter von Lothar. Er ist aber nicht mein Sohn. Denn wenn er mein Sohn wäre, dann wäre er ja ein Mensch. Er ist aber kein Mensch, Lothar ist ein Stück Dreck. Genau wie sein Vater. Dreck sind die. Hätte es damals dieses BuH-Ding gegeben, dann hätte ich die beiden an die Wand geklatscht, angezündet und die Asche in den Wind geblasen.
Manchmal verdient Lothar auch ein bisschen Geld mit kleinen Erpressungen. Kinderschänder zum Beispiel bezahlen Lothar dafür, dass er für sich behält, was er mit Cleverness, Erfahrung, Geduld, Expertenwissen und Skrupellosigkeit über sie erfahren hat – wie sie aussehen, wie sie heißen, wo sie wohnen, was sie getan haben und vor allem welchen miserablen GeVo-Wert sie gerade aufweisen. Ein verschwindend geringer Wert in der Regel, der geradezu als Steilvorlage dazu auffordert, sie zu eliminieren.
Die Bereitschaft der Betroffenen, Lothars Forderungen nachzukommen, ist durch das spektakuläre Urteil eines weisen Richters nochmal gestiegen: Ein pädophiler Missbrauchstäter wurde von einer Gruppe von fünf Tätern in eifriger Selbstjustiz gelyncht. Ganz offensichtlich eine Tätergemeinschaft, bei der alle Beteiligten aus dem gleichen Motiv, mit der gleichen Ausübungsenergie und mit dem gleichen Tatanteil gemeinschaftlich gehandelt hatten. Mit der Folge, dass der Richter verfügte, die erforderlichen zehntausend BuH-Punkte den Tätern zu gleichen Anteilen zu belasten. Jeden Einzelnen kostete die Tat also nur zweitausend Punkte!
Manchmal verdient Lothar also was mit der Todesangst pädophiler Missbrauchstäter und damit kann er wieder ansparen, indem er Punkte kauft. Pedro zum Beispiel. Pedro braucht immer Geld, das er verzocken kann. Pedro hat Lothar seine kümmerlichen eintausendzweihundertvierundzwanzig BuH-Punkte für kümmerliche fünfhundert Euro verkauft. Nicht ahnend, dass er damit sozusagen an seinem eigenen Grab kräftig mitschaufelt. Immer wieder kann man auch auf dem freien Markt günstig Punkte erwerben, zum Beispiel, wenn alte Menschen ihrem Ende entgegensehen. Sie haben zum Teil beachtliche Guthaben und keine Lust oder Kraft mehr, diese in ungesetzliche Taten umzusetzen. Aber sie hätten gerne eine würdevolle Bestattung in einem echten Sarg, wofür ihnen aber das Geld fehlt.
Oft liegt Lothar nachts wach und fantasiert über Szenarien machbarer Tatbegehungen. Dabei ist die Optionsbreite in Lothars Fall schmaler, als man zunächst vermuten mag, denn Lothar verabscheut Gewalt. Außerdem – und das wird oft nicht beachtet! – reichen die jeweils amtlich ausgewiesenen BuH-Punkte für ein Tötungsdelikt zum Nachteil von XY nur für die Tötung selbst. Geht der Täter dabei jedoch grausam vor und muss das Opfer mehr als vermeidbar leiden, sind zusätzliche Punkte fällig, die durchaus auch an den Punktepreis der eigentlichen Tötung heranreichen können. Aber das nur am Rande.
Lothar sorgt sich auch darum, dass die Begehung der Würde des Aktes angemessen ist. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass der Betroffene vor der Begehung aus Lothars Mund erfährt, warum er nun sterben muss. Bis auf weiteres sieht der Plan folgendes Verfahren vor: Der Todeswürdige erhält ein schnell und stark wirkendes Muskelrelaxanz, was zur Bewegungsunfähigkeit führt, aber das Bewusstsein und den Kreislauf wachhält. Dann wird das Urteil verlesen, dann kommt ein Barbiturat und dann kommt eine letale Dosis T61. Das war´s.
Lothar muss es auf jeden Fall und in jedem Fall besser machen als damals bei Christel, seiner Frau. Ihre Unzufriedenheit mit der Ehe und mit dem Leben überhaupt hatte sie mit der Aufzucht und Pflege von Zimmerpflanzen gedämpft. Wissend, dass Lothar Zimmerpflanzen hasst. Sie streuen unsichtbare krebs- und Schlimmeres auslösende Pilzsporen und führen zu Erstickungsanfällen. Da mochte Lothar noch so blau angelaufen röcheln, Christel stellte ihm erwartungsvoll die Gießkanne vor die schnaubende Nase.
Indem sich Christel über diese lächerliche Angst und diesen erbärmlichen Hass trotzig hinwegsetzte, dämpfte sie auch ihr Gefühl von Ohnmacht in Bezug auf die großen Themen des Lebens. Zimmerpflanzen mögen trösten und Idylle vorgaukeln. Aber Glück ist etwas anderes, etwas ganz anderes und dieses andere schimmerte immer wieder durch. Mehrmals wöchentlich kündigte Christel feierlich an, sich umzubringen, tat es aber nicht.Das wird doch nie was, dachte Lothar, und er dachte daran, wie er Christel sozusagen „behilflich“ sein könnte.
Sie wohnten im vierten Stock und als Christel an einem wunderschönen Frühlingstag voller Übermut und plötzlich unkontrolliert übersprühender Lebensfreude die Fenster putzte, ergriff Lothar die Gelegenheit, als seine Frau arglos auf einem Fensterbrett balancierte. Ein leichter Stupser unter Eheleuten reichte. Aber es reichte nicht ganz, denn Christel überlebte. Der nicht geglückte Versuch kostete Lothar zwar nur zehntausend statt zwölftausend BuHs. Aber nun hatte er für die Behandlungskosten einer mehrfach Schwerstbehinderten aufzukommen. Solange er lebte bzw. solange sie lebte. Und sie lebte. Und wie sie lebte! Sie logierte in den Wellnesskliniken und Reha-Paradiesen an den schönsten Plätzen der Welt. Sie nahm alles mit, was irgendwie von dem Urteil gedeckt war, nichts ließ sie aus.
Lothar beschließt, nicht mehr über die Vergangenheit zu grübeln, sondern zur Tat zu schreiten. Er kann und sollte jetzt loslegen! Sandra muss sterben! Oder doch lieber erstmal Pedro, die arme Sau? Lothar kann sich nicht entscheiden. Tagelang kann er nicht richtig schlafen. Und als er dann doch mal eingeschlafen ist, klingelt ein Paketbote, der reichlich technisches Gerät bringt. Endlich. Lothar ist von einer Sekunde auf die andere hellwach.
Kommentar von Rebekka 164
Lothar ist ein gefährlicher Mensch. Seine lächerlichen Ängste lassen ihn glauben, er müsse sich mit allen Mitteln gegen eingebildete Bedrohungen zur Wehr setzen. Letztlich geht es dabei schlichtweg um Mord, ja, er glaubt, morden zu müssen. Und mit den BuHs glaubt er jetzt auch, morden zu dürfen. Nehmt euch in Acht.
Kommentar von KesseTusse
Du bist doch nur sauer, weil sie dich rausgeworfen haben, weil du mit Lothar geschlafen hast!
Kommentar von Rebekka 164
Ja, in Gottes Namen, ich habe mit ihm geschlafen! Er hat mir leidgetan, er ist ja irgendwie auch ne arme Sau.
Kommentar von KesseTusse
Du hast es genossen, Macht über ihn zu haben! Du hast ihm deine Liebe erklärt und ihm als Beweis seiner Liebe zu dir abverlangt, Medikamente aus der Anstaltsapotheke zu stehlen. Ich weiß Bescheid, Rebekka. So mies.
Kommentar von Rebekka 164
Hey Tusse, du verdammte Lügnerin, du miese Schlampe, was mischst du dich da eigentlich ein? Weißt du was: Dein Urteil ist gefällt: Ich weiß, wo du wohnst, ich mach dich kalt, ich schwör. Denk dran: mit meinen BuHs und deinem GeVo kann ich dich fünf Mal umbringen! Allein diese Ankündigung ist mir zweitausend BuH wert, du Schlampe. Is mir scheißegal, ja.
Moderator
So, Rebekka 164, jetzt reicht´s, ich hab dich gewarnt: Ich schmeiß dich jetzt raus. Du hast mehrfach Leute massiv bedroht, das verstößt gegen alle Gepflogenheiten unserer Nettiquette.
Tage später. Lothar erwacht aus einem tiefen langen Schlaf. Komisch, denkt er sich: Ich stand doch gerade noch auf dem Dach? Er sieht am Fußende eines Bettes, das nicht sein Bett ist, in das lächelnde Gesicht seiner Nachbarin Sandra. Was soll das?
„Was machen Sie hier? Warum bin ich in einem Krankenhaus? Warum kann ich mich nicht bewegen?“
„Sie sind vom Dach gefallen. Ich habe Erste Hilfe geleistet und Sie versorgt, bis der Rettungswagen kam. Sie hatten großes Glück. Was haben Sie eigentlich auf dem Dach gemacht?“
„Das geht Sie gar nichts an.“
„Ich sehe schon, Sie sind wieder ganz der Alte.“
Sandra löst die Bremse der Betträder, zieht Lothars Bett zu sich heran und rammt es mit zorniger Wucht an die Wand. Ein Schmerzgewitter entlädt sich in allen Fasern von Lothars geschundenem Körper. Wehren kann er sich nicht.
„Weiterhin gute Besserung, Herr Lehmann.“
Sandra lächelt gequält und rauscht davon. Lothar hat einen panischen Gedanken, der ihn tagelang umtreibt. Er denkt diesen Gedanken, während er zerschmettert daliegt, ohne irgendetwas machen zu können. Er denkt diesen Gedanken, während Schwestern an ihm herumrubbeln, angewidert Bettpfannen auswechseln und ihm lustlos Pampe reinlöffeln, die sie zuvor genüsslich als Mittagessen angekündigt hatten. Lothar mampft und sabbert und denkt nur diesen einen Gedanken: Ein Blick auf Sandras öffentliches Profil, das ihren GeVo-Wert ausweist, würde genügen, um seine furchtbare Vermutung zu zerstreuen, was gut wäre, oder zu bestätigen, was eine Katastrophe wäre.
Eine ganze Woche windet er sich in Schmerzen und Sorgen, bis er endlich wieder einen Computer bedienen und sich vergewissern kann. Endlich wird ihm ein Krankenhaustablett gebracht. Und tatsächlich: Sandras GeVo-Wert ist deutlich gestiegen. Klar, weil sie sein Leben gerettet hatte, so etwas bleibt nicht ohne Folgen. Und das bedeutete nun, dass Lothar jetzt fünfzehntausend Punkte braucht, um Sandra straflos umbringen zu können. Scheiße, denkt er, warum musste mich ausgerechnet dieses durchtriebene Miststück retten. Warum nicht wenigstens Pedro, der Loser, denkt Lothar. Pedro hätte mich einfach liegen lassen, dann wäre alles vorbei gewesen. Ist es aber nicht.
Kommentar von SandraHashtagKoenig
Ich bin schockiert: Da lebt man jahrelang friedlich zusammen und dann erfährt man, dass einen der eigene Nachbar umbringen will. Lothar hat immer vorbildlich das Treppenhaus geputzt, den Müll getrennt, hat Pakete für mich angenommen. Aber eigentlich trachtet er mir nach dem Leben. Ich fasse es nicht. Getan habe ich ihm jedenfalls nichts.
Ein fremder Anzugmann betritt das Zimmer. Er setzt sich umständlich auf einen Stuhl neben Lothars Bett und teilt gewissenhaft mit, was er mitzuteilen hat. Dabei umklammert er seine vertraute Aktentasche, die ihm Halt gibt in schwierigen Missionen:
„Guten Tag, mein Name ist Bode, Rudolf Bode, vom Amt für Angelegenheiten des sozialen Ausgleichs. Sie sind Herr Lothar Lehmann, richtig? Gut. Herr Lehmann, ich habe Ihnen zwei Mitteilungen zu machen: erstens: Sie haben versucht, auf dem Dach des Mietshauses, in dem Sie wohnen, eine Überwachungsanlage zu installieren. Sie wollten damit Ihre Nachbarn auszuspionieren, das ist offensichtlich, vor allem aber ist es unter allen Umständen verboten. Weil wir das als Vorbereitung für schwerere Taten gewertet haben, haben wir Ihr BuH-Konto mit zweitausend Punkten belastet. Sie können dagegen innerhalb von 14 Tagen Beschwerde einlegen. Überlegen Sie sich das gut, Herr Lehmann, denn wenn die Beschwerde abgelehnt wird, dann riskieren Sie ein ordentliches Strafverfahren mit dem Risiko einer Haftstrafe. Und die Punkte sind trotzdem weg. Gut, normalerweise komme ich in solchen Sachen nicht persönlich, Sie werden über Abbuchungen normalerweise digital informiert. Warum ich Sie heute persönlich aufsuche, hat einen anderen Grund: Herr Lehmann, Sie gehören zu einem besonders gefährdeten Personenkreis: Ihre erwähnte Straftat hat nicht nur zu der erwähnten Belastung Ihres BuH-Kontos geführt, sondern auch zu einer deutlichen Herabsetzung Ihres GeVo-Wertes. Der war eh schon nicht so dolle, aber jetzt hat er die kritische Grenze von 500 unterschritten und beträgt nur noch 387 Punkte. Das bedeutet, sollte Ihnen irgendjemand nach dem Leben trachten, kostet es den- oder diejenige lediglich tausend BuH-Punkte. Sie sind ein Schnäppchen, Herr Lehmann, passen Sie auf sich auf!“
Rudolf Bode, vom Amt für Angelegenheiten des sozialen Ausgleichs löst die Bremse der Betträder, zieht Lothars Bett zu sich heran und rammt es mit zorniger Wucht an die Wand und ein Schmerzgewitter entlädt sich in allen Fasern von Lothars geschundenem Körper.„Weiterhin gute Besserung, Herr Lehmann“, sagt er betont nüchtern und entfernt sich unauffällig.
Während Lothar seine lädierten Knochen der Reihe nach schmerzhaft durchzählt, geht schon wieder die Tür auf. Sie geht weit auf: Ein Bett wird ins Zimmer geschoben. Ein gespenstisches Gespann kommt da hereingefahren: In dem Bett befindet sich mutmaßlich ein Patient, den man aber nicht sieht. Man sieht nur eine gewölbte Decke und man hört das schwere Rasseln einer schwerkranken Lunge. Geschoben wird das Bett von einem großen kräftigen Pfleger, der bis auf einen Sehschlitz vollständig vermummt ist. Er stellt das Bett an seine Stelle und stellt Lothar den Neuzugang vor, ohne den Blick jedoch vom Neuzugang abzuwenden:
„So, Herr Lehmann, das ist Herr Lamberti. Keine Ahnung, ob der Typ Lamberti heißt, aber irgendwie muss er ja heißen, oder? Oder soll ich ‚der sieche Penner aus der Gosse‘ in die Akte schreiben? Nein, Herr Lamberti, das wäre menschenunwürdig, so was machen wir nicht, nicht wahr, Herr Lamberti? Viel Spaß euch beiden!“
Die Tatsache, dass Lothar das Gesicht des Pflegers nicht sehen kann, fördert nicht gerade dessen Glaubwürdigkeit. Würde Lothar ihn fragen, warum er vermummt sei, würde dieser bestimmt Hygienevorschriften geltend machen. Aber Lothar fragt gar nicht erst, er weiß es auch so: Dieser Mann hat einen Plan, der nichts Gutes verheißt für Lothar. Und tatsächlich: kaum hat der Pfleger das Zimmer verlassen, steigt eine Wolke übelriechender Faul- und Ätz-Gase über dem Nachbarbett auf und wabert in Richtung Lothar. Biologisches Giftgas. Das, was Lothar immer am meisten gefürchtet hatte. Lothar keucht und schwitzt. Er ringt nach Luft. Dann kotzt er Luft. Ringen und Kotzen. Da kommt der Pfleger nochmal rein und wendet sich Lothar zu:
„Kommen Sie Lamberti nicht zu nahe, Herr Lehmann: Sein Atem enthält etwa160 Milliarden Keime je Kubikzentimeter, bösartige Keime, Herr Lehmann.“
„Verpiss dich!“
Lothar zieht Ärger an. Er muss das tun. Und der Pfleger muss jetzt dastun: er löst die Bremse der Betträder, zieht Lothars Bett zu sich heran und rammt es mit zorniger Wucht an die Wand und ein Schmerzgewitter entlädt sich in allen Fasern von Lothars geschundenem Körper. Das heißt, Schmerzen empfindet er dieses Mal kaum, denn jetzt ist er vor allem wütend. Eine Wut, die stärker ist als jeder Schmerz: Der Pfleger hat für kaum eine Sekunde durch eine ungeschickte Armbewegung sein Tattoo oberhalb des rechten Handgelenks sehen lassen.
„I love Sachen“ steht da. Lothar muss nicht lange rätseln, er weiß, dass dieser Mann weder Sachen noch Menschen liebt. Das „I“, gefolgt von einem gestreiften Wappen in Herzform, gefolgt von dem Wort „Sachen“ sollte wohl ein Bekenntnis der Liebe zu seiner Heimat, dem Freistaat Sachsen darstellen. „Die Liebe ist so groß, dass es auf Rechtschreibung nun wirklich nicht ankommt“, soll das wohl heißen. Aber Maik liebt sein Land nicht und sein Land liebt ihn auch nicht. Auch Lothar liebte Maik nicht, deshalb ließ er ihn doch damals umbringen! Das hat ihn damals fünftausend BuHs gekostet! Aber Lothar wurde doppelt betrogen: der gedungene Mörder ließ Maik am Leben und Lothar musste als Anstifter eines zugegebenermaßen gut vorgetäuschten Mordes blechen. Und Maik dreht jetzt den Spieß genüsslich um, indem er Lothar diese lepröse Pestleiche ans Bett schiebt, die unentwegt multiresistente Keime emittiert.
Lothar hat Angst. Aber wovor? Klar, sein Leben ist bedroht. Aber dieses Leben fühlt sich gerade nicht besonders lebenswert an. Genaugenommen hat er keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Sterben, über das er keine Kontrolle hat. Eine Krankenschwester betritt das Zimmer:
„Hallo, ich bin Nadja. Ich habe Ihnen was mitgebracht, Herr Lehmann. Das wird Ihnen guttun.“
Nadja hält eine Spritze in der Hand. Die stählerne Nadel blinkt wie das Schwert eines Henkers. Die Spritze enthält eine giftgelbe Flüssigkeit. Giftgelb? Gift! Lothar gerät in Panik:
„Weg mit der Spritze! Ich will keine Spritze! Tu das weg, tu das weg!“
Nadja steckt die Spritze enttäuscht in die Tasche ihres Kittels. Nadja löst die Bremse der Betträder, zieht Lothars Bett zu sich heran und rammt es mit zorniger Wucht an die Wand und ein Schmerzgewitter entlädt sich in allen Fasern von Lothars geschundenem Körper. Ein Mann mit weißem Kittel, silbernen Haaren und blauer Krawatte betritt forsch Lothars Zimmer und stellt sich ans Fußende seines Betts. Er zeigt kein Interesse oder Mitleid für Lothars schmerzverzerrtes Gesicht. Er wartet einen kurzen Moment, bis die Schwester grußlos das Zimmer verlassen hat. Nach seinem Verständnis von Anstand bedingt sein Anliegen eine gewisse Diskretion. Nachdem er in einem sehr diskreten Ritual seine Krawatte nochmal zurechtgezupft hat legt er schließlich los:
„Guten Tag Herr Lehmann, ich bin Dr. Walter, der Direktor dieser Klinik. Wenn Sie gestatten, komme ich gleich zur Sache: Ihr GeVo-Wert ist dramatisch niedrig. Das bedeutet, dass, wenn es im Verlauf ihrer Rekonvaleszenz doch noch zu ernsthaften Komplikationen kommen sollte, was durchaus nicht ausgeschlossen ist, wir Sie nicht bevorzugt behandeln können, das werden Sie verstehen. Die gute Nachricht: Sie können jetzt und hier Ihren GeVo-Wert deutlich steigern, indem Sie ihre Organe spenden. Das Amt für Angelegenheiten des sozialen Ausgleichs, mit dem wir gut und eng zusammenarbeiten, ist da durchaus großzügig. Mit einer Unterschrift kommen Sie locker wieder auf zweitausend Punkte.“
Mit der gebotenen Rücksicht auf den körperlichen und nun auch seelischen Zustand des Patienten versucht der Direktor, Lothar einen goldfedernen Stift in die Hand zu legen. Ein Stift, dessen einziger Daseinszweck es ist, in tiefem Königsblau Schicksale zu besiegeln. Mit der letzten Kraft, die er noch hat, rammt Lothar dem Direktor die goldene Feder in die offene Handfläche. Königsblau mischt sich mit Direktorenblut, der weiße Kittel färbt sich an betroffenen Stellen lila. Der Direktor zerreißt den mitgebrachten Vertrag in schwarz-weiß-lilafarbene Stücke und wirft sie Lothar ins Gesicht. Er lockert in einer fahrig hektischen Handbewegung seine Krawatte und schnaubt Rotz und Wasser. Der Direktor ist noch nicht fertig mit ihm, daran hat Lothar keinen Zweifel. Er ahnt, was jetzt kommt, aber das war es ihm allemal wert:
Der Direktor löst die Bremse der Betträder, zieht Lothars Bett zu sich heran und rammt es mit zorniger Wucht an die Wand und ein Schmerzgewitter entlädt sich in allen Fasern von Lothars geschundenem Körper. Der Direktor zupft seine Krawatte zurecht, und besudelt sie bei dieser Gelegenheit stilvollendet. Die Tür schließt er hinter sich mit der Bedachtheit, mit der man die Tür eines schwer kranken Patienten schließt, der im Prozess des Ablebens von vermeidbaren Turbulenzen verständlicherweise verschont bleiben möchte.
Lothar ist verzweifelt. Er kann nicht nur nicht mehr laufen, sondern er ist in jeder Hinsicht bewegungsunfähig. Was soll er bloß tun?
Lothar denkt an Malte, den einzigen wirklichen Freund, den er je hatte. Malte und Lothar. Sie drangsalierten die Kinder aus der Brunnenstraße, machten Versuche mit Katzen, stahlen Zigaretten und Pornos bei Onkel Rudi, zerstachen die Reifen der Sozialpädagoginnen und erzählten der Frau des Heimleiters, dass ihr Mann die Geschlechtsreife seiner jugendlichen Patientinnen gerne persönlich überprüfte – was übrigens auch stimmte.
Eines Tages, als Lothar nicht in seiner Nähe war, wurde Malte abgeholt. Manche, die das angeblich gesehen hatten, erzählten, Malte sei freiwillig in das Auto gestiegen. Andere behaupteten, er sei von innen hineingezogen und gleichzeitig von außen hineingedrängt worden. Für Lothar jedenfalls stand fest: Malte hatte ihn verlassen und all die Treueschwüre waren nie wirklich etwas wert gewesen. Und je mehr Zeit verging, ohne dass von Malte irgendein Zeichen kam, wurde für Lothar die Gewissheit, dass Vertrauen etwas für Dummköpfe sei, unumstößlicher. Jetzt aber, wo der Tod in Reichweite kam und das Leben von ihm Abstand nahm, da weint Lothar um seinen Freund, den er verurteilt hatte, ohne sich dessen Schuld zu vergewissern.
Kommentar von Herrmann Söhnke
Malte hat oft von Lothar gesprochen. Eine von Angst beherrschte Seele. Nur wenn Lothar Katzen quält oder auf andere Weise Sadismus auslebt, ist die Angst für einen Moment stumm. Malte wollte Lothars Freund sein, aber er hat in seiner Nähe irgendwann nicht mehr atmen können.
Ab und zu sieht Lothar, wie sich eine knöcherne, zittrige, hämatomblaue Hand aus dem Deckenwust seines Bettnachbarn hervorstreckt und ein altes Transistorradio auf dem Nachttisch ein- und nach vielen Stunden wieder ausschaltet. Gerade hat sie das Radio eingeschaltet. Ein interessantes Interview wird ausgestrahlt:
„Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, ich begrüße heue Justizminister a.D. Dr. Elmar Keller, den Erfinder des Bonuspunktesystems für ungesetzliche Handlungen, das die meisten von Ihnen unter der Abkürzung BuH kennen. Herr Minister, vor zehn Jahren haben Sie ihre Amtszeit mit der Einführung von BuH gekrönt, bevor Sie nach einem bewegten Politikerleben dann in den wohlverdienten Ruhestand gegangen sind. Was empfinden Sie heute, wenn Sie an BuH denken?“
„Ich bin immer noch zutiefst dankbar dafür, dass ich in der Geschichte des Strafrechts einen historischen Akzent setzen durfte.“
„Sie hatten das Prinzip des internationalen Emissionsrechtehandels für das Phänomen Kriminalität adaptiert. So richtig zufrieden können Sie aber nicht sein: Sowohl die Emissionen als auch die Kriminalitätsraten sind jeweils seit Einführung des Rechtehandels deutlich gestiegen.“
„Sie sind moderat gestiegen. Ohne die Möglichkeit des Rechtehandels wären sie in beiden Fällen explodiert.“
„Die Kriminalitätsrate ist also nicht explodiert, weil, wer sein BuH-Konto überzieht, einen Chip in den Kopf geschossen und per Fernzündung Stromschläge kriegt, wenn er sich über einen Radius von hundert Metern von einem zuvor festgelegten Aufenthaltsort weg bewegt.“
„So ist es. Abschreckung funktioniert eben doch.“
„Herr Minister, ein Anrufer bittet darum, live in die Sendung zugeschaltet zu werden. Er würde die Sendung offensichtlich um einen interessanten Aspekt bereichern. Gestatten Sie diesen Zwischenruf?“
„Von mir aus. Gerne.“
„Herr …“
„Ich möchte bitte anonym bleiben.“
„Also gut, was haben Sie unseren Hörerinnen und Hörern denn zu sagen.“
„Ich habe vor Jahren eine junge Frau vergewaltigt und dann umgebracht. Letzteres hatte ich nicht geplant, aber die dumme Gans schrie so hysterisch herum, dass ich in Panik geriet und sie erdrosselte. Ich habe zwanzigtausend BuHs dafür bezahlt. Das war viel, aber das war gerecht, keine Frage. Dann aber kam der Hammer: Die Eltern des Opfers verklagten mich auf Schmerzensgeld! Mit Erfolg! Das ist doch nicht fair! Ich bin ruiniert!“
„Herr Minister, das ist in der Tat eine interessante Fragestellung. Was können Sie diesem verzweifelten Herrn darauf antworten?“
„Es ist ein Irrtum zu glauben, mit der Zahlung der BuHs sei umfassender Rechtsfriede hergestellt. BuHs sind ein Instrument der Strafgerichtsbarkeit. Damit kann man die Schuld gegenüber der Gesellschaft begleichen. Wenn man sich mit einer Tat darüber hinaus an weiteren, individuellen Geschädigten schuldig gemacht hat, dann greift zusätzlich das Zivilrecht, das seine eigene Gerichtsbarkeit unterhält.“
„Vielen Dank für das Gespräch, Herr Minister. Passen Sie auf sich auf!“
Früher. Lothar erinnert sich an Rebekka. Er hat Rebekka geliebt. Davon wollte Rebekka nichts wissen, Lothar wüsste doch gar nicht was Liebe ist! Aber es entsprach nunmal der Vorstellung, die Lothar von Liebe hatte. Immerhin hatte Rebekka ihm das Gefühl gegeben, ihn zu lieben und darauf kam es an. Rebekka war seine Sexualbegleiterin im Heim. Lothar erlebte körperliche Nähe ohne Gewalt und ohne Angst davor. Rebekka schlief sogar mit „ihrem“ Lothar, obwohl das streng verboten war. Aber dann wurde sie schwanger von ihrem Freund. Sie heiratete. Und sie kam nicht mehr. Und wieder fühlte sich Lothar betrogen. Lange Zeit konnte er nur einschlafen mit der Vorstellung, er würde das Neugeborene würgen und Rebekka würde ihn anflehen und ihm alles Erdenkliche versprechen – „Lothar, bitte, ich flehe dich an, er kann doch nichts dafür, ich tu alles, was du willst, ich schlafe auch wieder mit dir!“ – damit er ihr Kind wieder loslasse. Und dann würde sie ihre Versprechen wahrmachen. Dann erst dann konnte Lothar einschlafen.
Lothar wacht auf: ein asiatisch anmutender Krankenpfleger rasiert seine spärlichen Brusthaare. Ein anderer, osteuropäisch anmutender Krankenpfleger pinselt seine Brust großflächig mit einer orangefarbenen Tinktur ein. Lothar kann seine Extremitäten nun gar nicht mehr bewegen. Sprechen kann er noch:
„Hee! Was macht Ihr da! Was soll das!“
Die Pfleger lächeln ihn an. „Operation“, sagt der eine. Der andere formt mit seinen Händen ein symbolisches Herz. Gestern noch hatte Lothar dem Tod mit einer Mischung aus Gelassenheit und Bitterkeit angesichts seiner hoffnungslosen Lage ins Auge gesehen. Das Sterben hatte er dabei ausgeblendet. Jetzt hat er Angst. Keine Todesangst, aber Angst vor dem Sterben.
Eine Ärztin kommt dazu. Sie telefoniert mobil über eine Freisprechanlage. Sie ist offensichtlich nicht daran interessiert zu erfahren, wie es Lothar geht oder wie sie sein Befinden verbessern kann. Aber sie hat großes Interesse an seinen Organen, offensichtlich sind sie Gegenstand einer Verkaufsverhandlung, die sie gerade mit leidenschaftlicher Geschäftstüchtigkeit führt:
„Der Spender hat beste Werte in allen Parametern. Erstklassige Ware. Das ganze Paket, komplett filetiert für zwanzigtausend BuHs. Na? … Okay, du Geizhals, also neunzehntausend, abgemacht.“
Während die Ärztin telefoniert nimmt sie mit verschiedenen Instrumenten höllisch schmerzhafte Handgriffe an Lothar vor. Wahrscheinlich, um die Ware kurz vor dem Filetieren noch ein letztes Mal nach möglichen Mängeln zu sichten. Lothar versucht, die Ärztin darauf aufmerksam zu machen, dass er den Spendervertrag nicht unterschrieben hat. Das Ganze müsse ein furchtbares Missverständnis sein. Aber die Ärztin ignoriert alles an Lothar, was sie nicht verwerten kann, seine Stimme und was sie hervorbringt, ist in der Tat vollkommen wertlos. Die Kundenbeziehung mit dem interessierten Anrufer scheint gut gepflegt. Die Ärztin versäumt es nicht, ihrem Kunden zu gratulieren:
„Congrats übrigens, hab gehört, beim letzten City-Cannonball hast du´s mit deinem Retro-Lambo mal wieder allen gezeigt! … Ja, gut, das passiert schon mal, dass man jemanden totfährt beim Cannonball. Aber, sorry, nachts im Westend, Frauen, die da auf der Straße sind, die kosten dich doch höchstens ein- oder zweitausend Punkte! … Was? Du bist echt sauer, weil sie dir den Kotflügel weggerissen hat? … Ich weiß, dass es schwer ist, Ersatzteile für einen 72er Lambo zu kriegen. Aber das ist doch jetzt echt´n bisschen zynisch, oder? … Okay, mach´s gut, ich melde mich morgen.“
Lothar ist inzwischen komplett gelähmt. Die beiden Pfleger fahren ihn in die Mitte des Operationssaals. Das OP-Team besteht aus Roboterarmen. Damit Lothar nicht langweilig wird, hat man ihm in jedem möglichen Blickwinkel einen Monitor aufgehängt. So kann er genau beobachten, was mit ihm passiert: Ein Roboterarm versetzt Lothar eine Spritze in die Armbeuge, ein anderer Arm setzt ihm eine Art Atemmaske auf, über die Betäubungsgas eingeströmt wird. Ein dritter Arm führt ein Skalpell, das mit einem beherzten Schnitt den gesamten Brust-Bauch-Raum öffnet. Zwei weitere Arme ergreifen jeweils einen Rippenbogen und ziehen die Rippenbögen auseinander. Weitere Arme entnehmen Lungenflügel, Leber, Nieren. Zum Schluss wird in einer feierlich anmutenden Prozedur Lothars Herz entnommen. „Wie schön es ist“, sagt Lothar zu sich selbst. „Es ist vollkommen!“
Plötzlich steht eine Krankenschwester an seiner Seite … nein, es ist eine Ärztin … nein, es ist Rebekka! Sie lächelt Lothar an. Dann blickt sie rüber zu Lothars Herz und sagt:
„Ein wahnsinnig schönes Herz.“
Sie reicht ihm ihre Hand und sieht Lothar wieder an:
„Komm mit mir, Lothar. Lass diese Welt hinter dir, sie hat dir nichts mehr zu bieten.“
Lothar und Rebekka schweben empor. Lothar blickt nochmal zurück auf seinen ausgeweideten Körper. Das Herz ist schön, aber bald wird es in eines Anderen Brust schlagen. Der Rest ist unschön bis ekelhaft. Lothar hat sich nie geliebt. Lothar und Rebekka steigen weiter auf. Lothar entdeckt beim Blick auf die kleiner werdende Stadt das Haus, in dem er mit Pedro und Sandra gewohnt hatte. Zum ersten, aber auch zum letzten Mal hat er mit ihnen Mitleid. Lothar und Rebekka entfernen sich immer weiter. Schließlich lassen sie sich am Ufer eines Baches nieder. Fern der Erde, hier ist alles Licht und Glaube. Hier besteht alles aus einer leichten, frischen und durchlässigen Stofflichkeit. Rebekka ist älter geworden. Sie hat Falten und graue Haare. Aber sie ist so schön wie früher.
„Ich bin so glücklich, endlich wieder mit dir zusammen zu sein, Manfred.“
„Ich bin nicht Manfred.“
Rebekka senkt den Blick und runzelt die Stirn. Dann sieht sie Lothar wieder mit etwas Verzweiflung in ihren Augen an.
„Du bist nicht Manfred?“
Lothar will diesen einmalig schönen Moment nicht mit Ungeduld trüben. Nachsichtig und freundlich sagt er, wer er ist:
„Ich bin Lothar. Dein Lothar!“
Rebekka senkt ihren Blick wieder und schüttelt bedächtig ihren Kopf:
„Lothar. Krass.“
„Ist doch egal, oder? Ändert das irgendwas?“
„Nein, Man… äh, nein, Lothar, das ändert nichts.“
Rebekka lächelt Lothar wieder an. Sie schlafen miteinander. Ihre Bewegungen sind langsam und gefühlvoll. Sie verfolgen kein Ziel. Sie haben alle Zeit der Welt.
Tommy Schmidt (58) ist Autor, Performance- , Medien -, und Aktionskünstler und arbeitet als Motivationstrainer für eine bedeutende Kommunikationsagentur. Sein erster Roman „Heaven’s Gate“ erschien 2017 im CulturBooks Verlag. Tommy Schmidt hat zwei Söhne und lebt in München.