Geschrieben am 31. Dezember 2023 von für Highlights, Highlights 2023

Danny Dziuk, Stefan Ertl, Joachim Feldmann, Michael Friederici

Danny Dziuk: Ein Album, ein bisschen Krebs & ein Zivilisationsbruch

Mitten in die Vorbereitungen zur Veröffentlichung meines Albums „Unterm Radar“ platzte im Februar eine ärztliche Diagnose: Prostata-Krebs. Ich weiß noch, wie ich durch dieses gekachelte Treppenhaus die Praxis verließ, und unten auf der Straße ein bisschen benebelt in den Himmel schaute. Die Sonne schien auch ein bisschen, und ich dachte an Warren Zevons Zeile „If you get up in the morning and you see that crazy sun“* Dann fuhr ich erstmal nach Hause. 

Was folgte, war eine Mischung aus zwei Welten: CT, MRT, Szintigraphie, Röntgenaufnahmen und weitere Arztbesuche einerseits – sowie Proben, Konzerte und Interviews andererseits. Was ich wiederum sorgfältig auseinanderhielt: Nur ein paar Freunde/innen wussten davon.

Für das Album gab’s ein paar sehr schöne Rezensionen und Radiofeatures von ernstzunehmenden Leuten (und außerdem den Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik), und von den 13 Konzerten, die wir spielten, hatten mindestens die Hälfte ein paar ziemlich magische Momente, aber mehr davon war für den Rest des Jahres einfach nicht drin. 

Anfang Mai dann sah ich das erste Krankenhaus von innen: drohender Darmdurchbruch, ach du Scheiße, auch das noch. Als ich der Ärztin in der Notaufnahme mit ihrem CT in der Hand mitteilte, dass ich am nächsten Tag ein Konzert habe, das ich unbedingt spielen müsse, war ihre Antwort: „Sie spielen gar nichts mehr, sondern bleiben direkt hier.“ Antibiotika intravenös, grauenhafte Suppen, die ich nicht runterkriegte, und (eine supertolle) Claudia Denker, die mir bessere aus dem Supermarkt besorgte, bei denen es dann halbwegs ging (ich hasse Suppen). Ich hörte auf zu rauchen und nahm in kürzester Zeit acht Kilo ab. Auch nicht schlecht. Mein nächster Bettnachbar war ein Mann von der Straße, der sich zunächst weigerte, sich zu waschen. Roch entsprechend, aber ansonsten sehr sympathisch. Thronte in seinem Bett wie ein König, und jedes Mal, wenn eine Krankenschwester an die Tür klopfte, rief er in ausdrücklich wohlwollend aufgeräumtem Tonfall „Herein!“, und versuchte anschließend, ein bisschen zu plaudern wie mit Bediensteten. Ging natürlich jedes Mal schief, war aber auch lustig. Was einen anderen Bettnachbar, der seine Espandrillen aus feinstem Wildleder immer exakt parallel zum Bett stehen hatte und auch ansonsten eine Aura unbedingter Kultiviertheit verströmte, dagegen überhaupt nicht amüsierte, aber er konnte nichts machen. Krankenhäuser haben etwas Egalitäres. Auch schön. Ich las Tschechow. 

Nach einer sechswöchigen Erholungsphase und einer vorausgehenden Darmspiegelung (zweites Krankenhaus) entfernten sie mir dann Ende Juni auch diesen Krebs (drittes Krankenhaus) – mittels einer relativ neuen computergesteuerten Methode namens Da Vinci, bei der man quasi per Joystick arbeitet, was weit präzisere Schnitte ermöglicht als vorherige Methoden. Ganz risikofrei ist allerdings auch das nicht, weil bestimmte Nerven bei einer Prostatektomie derart hauchdünn beieinander liegen, dass der geringste Fehler bereits ziemliche Schäden anrichten kann. Aber ausgerechnet im Kreuzberger Urban-Krankenhaus hat’s ein paar außergewöhnliche Koryphäen auf diesem Gebiet, und ich bin meinem darüber hinaus auch noch sehr netten Chirurgen dort zutiefst dankbar, dass alles so komplikationslos verlief. Man sagt unseren Ärzten ja so einiges nach (und auch ich hab vor 20 Jahren mal ein entsprechendes Liedchen geträllert), aber es gibt eben auch nicht wenige, die einfach nur ein Segen für die Menschheit sind. Jedenfalls hatte ich es fast ausschließlich mit solchen zu tun, und jetzt gerade, wo ich das hier schreibe, beträgt mein PSA-Wert exakt Null Komma Null Null. 

Foto: Syvie Nele Nelle

Der Rest fürs Protokoll (wo wir schonmal dabei sind): Nach weiterer Erholungsphase und anschließender fünfwöchiger Reha ab Mitte August schrieb ich Ende September dann einer befreundeten Ärztin eine Mail, wie gut es mir doch ginge bzw. ich deshalb nicht glaube, noch eine Darm-OP zu benötigen, die sie mir im Mai noch empfohlen hatte, oder? Die Antwort darauf jedoch leider ziemlich eindeutig: Doch, benötigst du, denn die CTs sehen echt Scheiße aus. „Und zwar möglichst gerade jetzt, wo es dir gutgeht“. Gleich versehen mit der Empfehlung an einen entsprechenden Spezialisten hier in Berlin, und das als Kassenpatient. Ein Engel. Und das vierte Krankenhaus in diesem Jahr. Dass ich ein paar Wochen nach Entlassung wegen Corona nochmal kurz das Bettchen hüten durfte, war dann nur noch eine Lappalie. So, Krankenakte zu. Puh. 

Den mich operierenden Spezialisten traf ich übrigens Mitte Oktober auf der pro-Israel-Demo am Brandenburger Tor wieder, sprach ihn zwar nicht an, nahm es aber als gutes Zeichen. Passte. 

Womit ich kurz nochmal auf den 7. Oktober zu sprechen kommen möchte. Man hätte ja meinen können, dass dieser jeder Worte spottende Zivilisationsbruch der Hamas den Reflex so vieler sich als progressiv verstehender Kulturschaffender und Intellektueller, jegliche Schuld grundsätzlich und stets bei Israel zu suchen, zumindest bei einigen von ihnen vielleicht mal in Frage gestellt werden würde. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Das Blut der Opfer war noch nicht trocken, da gingen die Proteste gegen die Israelis auch bereits schon wieder los, und zwar paradoxerweise sogar stärker noch als bei vorherigen Gelegenheiten. Was ist eigentlich mit diesen Leuten los? Ich meine, wenn dieses Massaker, mit dem sich die Hamas meiner Ansicht nach aus jeder menschlichen Gemeinschaft verabschiedet hat, nicht reicht, um ihr endgültig den Nimbus von Freiheitskämpfern zu nehmen, was dann? Und wie Leuten den Vorwurf des Antisemitismus ersparen, die anscheinend erst dann zufrieden wären, wenn es Israel nicht mehr gäbe, from the river to the sea?

Zum Schluss dann noch ein Gläschen auf Shane McGowan und eins auf Sinéad O’Connor.

Danny Dziuk, „der Große im Hintergrund“ (FAZ), Autor, Komponist, Sänger, Arrangeur und vieles mehr …Seine Webseite Dziuks Küche. Im Februar 2023 erschien sein Album Unterm Radar

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Stefan Ertl: Mein 2023

FILME: Neu: BOTTOMS (Emma Seligman) * CHAMPIONS (Bobby Farrelly) * EMILY THE CRIMINAL (John Patton Ford) * THE FABELMANS (Steven Spielberg) * KANDAHAR (Ric Roman Waugh) * KILLERS OF THE FLOWER MOON (Martin Scorsese) * MASTER GARDENER (Paul Schrader) * PEARL (Ti West) * RENFIELD (Chris McKay) * ROTER HIMMEL (Christian Petzold) *

Alt: AND SOON THE DARKNESS (Robert Fuest) * THE BIGAMIST (Ida Lupino) * DR. M SCHLÄGT ZU (Jess Franco) * L´HÔTEL DE LA PLAGE (Michel Lang) * JUNIOR BONNER (Sam Peckinpah) * LA POLIZIA INCRIMINA LA LEGGE ASSOLVE (Enzo G. Castellari) * IL ROSSO SEGNO DELLA FOLLIA (Mario Bava) * 

Dok.: BIG SKY LIMITED (Andrew Kidman) * EINZELTÄTER (Julian Vogel) * JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN (Dominik Graf & Felix von Boehm) * SCHLACHTHÄUSER DER MODERNE (Heinz Emigholz) * WHAM! (Chris Smith) *

MUSIK: LANA DEL REY: Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd * WILLIE NELSON: Bluegrass * WILLIE NELSON: I Don´t Know A Thing About Love: The Songs Of Harlan Howard * ANGEL OLSEN: Forever Means * THE ROLLING STONES: Sweet Sounds Of Heaven * ROMY: Mid Air * 

BÜCHER: LEIGH BRACKETT: Raubtiere unter uns * LEIGH BRACKETT: Wo ist meine Frau? * GARRY DISHER: Drachenmann * GARRY DISHER: Hinter den Inseln * MICHEL HOULLEBECQ: Vernichten * FREDERICK KOHNER: Gidget * THOMAS MULLEN: Darktown * GEORGES SIMENON: Maigret und die junge Tote * 

Stefan Ertl, Autor und Redakteur der von uns sehr geschätzten Filmzeitschrift SigiGötz-Entertainment. Ein Abonnement (4 Ausgaben) kostet 16 Euro, bringt echtes Herzblut ins Haus. 

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Joachim Feldmann: Hinwendung an die Vergangenheit

Es war das Jahr der Erinnerungen. Friedrich Christian Delius, 2022 mit 79 verstorben, hatte  bereits zehn Jahre zuvor ein Memoir mit dem schönen Titel „Als die Bücher noch geholfen haben“ veröffentlicht. In seiner posthum erschienenen Autobiografie „Darling, it’s Dilius“ beschränkte er sich auf Einträge zu Stichworten, die sämtlich mit dem Buchstaben A beginnen: „A-4-Papier“, „Abbey Road“ und natürlich auch „Achtundsechzig“. „Die Bilder, Berichte und Dokumente aus alten Zeiten lügen nicht, aber sie lügen doch“, heißt es da, und dieser kritische Blick auf die mediengerechte Zubereitung von Vergangenheit ist typisch für den Skeptiker Delius.

Auch der vielseitig interessierte und bewanderte Germanist Volker Klotz, der am 31. Mai dieses Jahres im Alter von 92 Jahren starb, hinterließ keine Autobiografie im üblichen Sinne, sondern eine bunte Sammlung von Geschichten und Betrachtungen, darunter auch seine sehr lesenswerten  Planungen für Lehrveranstaltungen zur Einführung in die Literaturwissenschaft, die leider in den Zeiten von „Credit-Points“ etc. von der universitären Realität weit entfernt sein dürften. Dass Klotz gegen Ende der sechziger Jahre als „angewiderter Lehrstuhlvertreter in Münster“ wirken durfte, bietet Stoff für einige hübsch bösartige Porträts dortiger Germanisten, die auch der junge Feldmann zehn Jahre später noch kennenlernen durfte. Lang ist’s her. Es bleibt die Erinnerung an die prägende Lektüre von Klotz‘ Studien über „Abenteuer-Romane“ und „Das europäische Kunstmärchen“. Womit nicht annähernd alle Interessengebiete dieses „kunstbedachten Gambusinos und Wanderpredigers“, so der Untertitel des Buches, erfasst sind.

Er habe anders als sein Kollege Siegfried Unseld nie Tagebuch geführt, erklärt der dieser Tage seinen 80. Geburtstag feiernde Autor und ehemalige Hanser-Verleger Michael Krüger im Vorwort zu seinen Erinnerungen. Aber über ein phänomenales Gedächtnis scheint er auf jeden Fall zu verfügen. Anders lassen sich die oft sehr detaillierten autobiografischen Geschichten seines sehr unterhaltsamen Buches „Verabredung mit Dichtern“, in denen das Wort „Freund“ wahrscheinlich das am häufigsten vorkommende ist, kaum erklären. Das liest man gern und ist beeindruckt.

Anders im Ton kommt Uwe Timms Erinnerungsbuch „Alle meine Geister“ daher, das sich vor allem den frühen Jahren des Schriftstellers widmet, von der Kürschnerlehre bis zum nachgeholten Abitur am Braunschweig-Kolleg. Ein „zweiter Bildungsweg“ par excellence. „Als ich später das wenig lukrative Studium der Philosophie begann, allein von dem Vorsatz bestimmt, das zu tun, was ich zu tun wünschte: zu schreiben, war dies von dem beruhigenden Gedanken begleitet, in der Not jederzeit auf meine Kenntnisse und mein Können als Handwerke zurückgreifen zu können.“ Doch diese Hoffnung trog. Schon bald geriet Pelz aus der Mode und die Fachgeschäfte verschwanden. Interessant wäre es aber allemal, zu ergründen, inwiefern der erlernte Umgang mit empfindlichem Material den Romanautor Uwe Timm nachhaltig beeinflusst hat.

Mit leichter Wehmut beende ich diesen vorzeitigen Rückblick auf das Jahr 2023. Wer weiß, was die Wochen bis Silvester noch bringen werden. Vielleicht werden die Weltereignisse noch häufiger Anlass geben, sich Vergangenem zuzuwenden. Man möchte es nicht hoffen.

  • Friedrich Christian Delius: „Darling, it‘s Dilius”. Erinnerungen mit großem A. Berlin, Rowohlt 2023. 319 S., 24 Euro.
  • Volker Klotz: Scheu vorm Artefakt? Abenteuer eines kunstbedachten Gambusinos und Wanderpredigers. Würzburg, Königshausen & Neumann 2020. 535 S.,48 Euro.
  • Michael Krüger: Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen. Berlin, Suhrkamp 2023. 446 S.,30 Euro.
  • Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 282 S., 25 Euro.

Die Texte von Joachim Feldmann bei uns hier. Seit 1977 macht er zusammen mit Michael Kofort und anderen die Literaturzeitschrift Am Erker. Zudem ist er bei so gut wie jeder Lieferung unserer Bloody Chops dabei.

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Michael Friederici: „Melde gehorsamst, ich bin blöd, Herr Oberlajtnant.” 

(Der brave Soldat Schwejk – aus dem auch alle weiteren Titel-Zitate stammen)

Was sind das für Zeiten, wo – Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist  – Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“(Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen), was sind das für Zeiten, in denen schon ein vermutetes Verständnis für die Politik Russlands, wo staatsunrsaisonale Erwägungen zur Politik Israels zu Kündigungen, Auftritts-, Rede-, Anstellungsverboten, Preisaberkennungen, Gelderverweigerung, Anfeindungen,  usw. usf. führt, wo  der nächste SPD-Kanzlerkandidat schon wieder von notwendiger Kriegstüchtigkeit spricht und ein ehemaliger Juso von „Zeitenwende“ psalmodiert? Die Hexenjagd ist eröffnet – in der Kultur, im Sport, in den Medien. Worüber soll man reden? Worauf zurückblicken?  Ist es nicht schon Propaganda, nicht vom Krieg zu reden, der längst begonnen hat?  –  „Also dann„, ruft der brave Soldat seinem Saufkumpanen zu, „nach dem Krieg um halb sechs im Kelch!“ 

Enten fördern – oder:“Disziplin, ihr Heuochsen, muß sein, sonst möchtet ihr wie die Affen auf die Bäume klettern. Aber das Militär wird aus euch Menschen machen, ihr Trotteln.” 

Ich blicke zwar bei der Politik nicht durch, bei Frau Roths Kulturpolitik aber noch weniger. Gut, sie ist grün und sie braucht das Geld, aber da hing ein Plakat, das mir auffiel, Anfang des vergehenden Jahres. Disney 100 stand darauf. Das Beste aus 100 Jahren Disney. Denn offizieller Gründungstermin der zur Krake mutierten Ente war der 16. Oktober 1923. Nun bin ich auch mit den Heftles groß geworden, gerate noch immer ins Schwärmen über das artistischen Nachseufzächzgestöhne Erika Fuchsens. Sie, 2005 verstorben, war die Erste, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Disney-Comics ins Deutsche übertrug – und Donald und Konsorten leuchten ließ. – Aber kommen wir an dieser Stelle doch einmal zu den Fakten und einem Zitat von statista. Unter der Überschrift „Gewinn der Walt Disney Company in den Geschäftsjahren 2006 bis 2023“ und „Gewinn der Walt Disney Company bis 2023 / Veröffentlicht von F.Harms, 10.11.2023)  Erholung vom Corona-Einbruch: Im Geschäftsjahr 2023 konnte die Walt Disney Company einen Gewinn von rund 3,39 Milliarden US-Dollar verbuchen. Im Vorjahr war noch ein Gewinn von rund 3,19 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet worden.“… Natürlich blicke ich weder bei solchen Zahlen noch bei der Kulturförderung durch, aber könnte mir bitte mal jemand erklären, warum eine Ausstellung über diesen Konzern  auf  den Ausstellungsplakaten vermerkt: Gefördert von Neustart Kultur,  der Beauftragten für Kultur und Medien, der Initiative Musik… ? –

Möglicherweise ist das ein kultureller Ausdruck unserer transatlantischen Bündnistreue und gedacht zur Verteidigung unserer Werte an der Seite Amerikas. Wahrscheinlicher allerdings scheint mir, dass Disney-Enten  inzwischen als vegan durchgehen, weil feministische Friedensaußenpolitik ja auch „Frieden mit noch mehr Waffen“ schafft.

Kriegstüchtigkeit – oder: „Bildung wirkt auf die Veredelung der Seele, und das kann man beim Militär nicht brauchen.“  

Mir geht die Mobilisierung und offiziell geförderte Kriegskultur gehörig contre coeur. Russophobie und Kriegsgeilheit kümmert zwar kein Schwein,  und die Leichen von Petra Kelly und Gert Bastian sind den Grünen von heute wahrscheinlich eher peinlich, dem Metzgersohn sowieso, aber wieso schwurbelt diese ausnehmend kluge Außenministerin, die Völkerrechtlerin und Erste Diplomatin, Frau Bärbock, davon, dass die Milliarden-Ukraine-Stütze nicht mit Ausgaben von Sozialleistungen in Beziehung gesetzt werden, mit Kultur, Gesundheit usw. usf. selbstredend auch nicht. (Annalena Baerbock mahnt Armut im Land bei zeitgleicher Unterstützung der Ukraine nicht gegeneinander auszuspielen: Für sie habe „das eine mit dem anderen nichts zu tun“, dpa, AFP,Baerbock: Ukraine-Hilfe und Soziales trenne, Zdf – 15.07.2023 | 13:25)

– Wenn ich mir die Frage erlauben dürfte: Mit was darf unsereiner denn die Milliardengelder, die Waffen und Toten in Verbindung bringen? – Die PD (wofür stand noch das S?) verabschiedet sich gerade auch von zwei Persönlichkeiten, die ihr noch so etwas wie Profil vermittelten, Willy und Egon. Das neue Kleid lautmalt Herr Pistolius (neuerdings soll man wieder Witze mit Namen machen), in völliger Schamfreiheit von „Kriegstüchtigkeit“. Demnächst  wird – Kultur gefördert – gepredigt, wie süß und ehrenvoll es sei, für’s Vaterland oder die Ukraine oder… zu sterben. Dabei wird sich dann die Debatte wahrscheinlich weniger um Krieg drehen, sondern vor allem um das patriachale Wort Vater. Ja, so wird Krieg vielleicht ja doch noch ein diskriminierungsfreies Event mit diversem Abenteuercharakter für junge weiße Männer und Frauen und sonstige***.  – – Oder anders: Woher nehmen diese Damen und Herren die impertinente Penetranz, dass ich ihre Werte teilen könnte?- Karl Kraus wiedergelesen: „Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im (damals, mf) vierten Jahr der Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient als – durchhalten!“ – Denn schließlich, möchte man frei nach Heine hinzufügen, sang das große grünrotgelbe Männchen das Eiapopeia von Motal, von Werten und Freiheit..

Terremoto in Palazzo – oder: “Disziplin, ihr Heuochsen, muß sein, sonst möchtet ihr wie die Affen auf die Bäume klettern. Aber das Militär wird aus euch Menschen machen, ihr Trotteln.” 

In der nächsten Abteilung geht es nicht um anstehende Wahlen, sondern um reale Erdbeben. Seltsame Koinzidenz. In Neapel rühren sich die Phlegräischen Felder; niemand weiß, wann sie hochgehen – und Neapel   verglühen lassen. Komisches Gefühl in dieser unglaublichen Stadt, die U-Bahnen baut, obwohl die Erde ständig bebt. Aber das ist ein anderes Problem: In ca. 40 km Entfernung steht, hätten Sie’s gewußt, der größte Palast der Welt, der Königspalast von Caserta. Der Ende des 18. Jahrhunderts erbaute barocke Wohnsitz verschiedener Könige von Neapel – verfügt u.a. über einen spektakulären, über 3 km langen Kanal mit Wasserfall, eine Bibliothek, ein Theater… Einige wenige der 1200 Räume auf 5 Etagen bespielt ein neapolitanischer Galerist. Nachdem Italien am 23. November 1980 von einem verheerenden Erdbeben durchgeschüttelt wurde bat er zeitgenössische Künstler ihre Werke dort auszustellen.  Diese Sammlung nach der gleichnamigen, wortspielerischen Beuy’s-Installation Terra Moto in Palazzo benamst, enthält u.a. Werke von Michelangelo Pistoletto, Robert Mapplethorpe, Joseph Beuys. Es betitelt das programmatische Manifest der gesamten Sammlung: Es besteht aus Möbeln, die aus den vom Erdbeben betroffenen Orten geborgen wurden – Scherben und Symbolelemente; all dies erinnert daran, wie dünn das Eis aus Zivilisation und Tradition ist. Unter diesem Titel wird auch ein früheres Erdbeben angesprochen, 1968 in Sizilien. Damals fiel die Kleinstadt Gibellina so in sich zusammen, dass sie in einigen Kilometern Entfernung, geplant von einigen der bekanntesten Architekten, wieder aufgebaut wurde – eine künstliche Kunststadt, ein  Kunstwerk mit der wohl dichtesten Bespielung von Kunst im öffentlichen Raum, in dem aber auch Alltag gelebt wird. Gibellina Nuova. Eine Stadt gewordene 68er Idee. – Und das alte Gibellina und seine Geschichte, Gibellina Vecchia?  Das hat Alberto Burri (arte povera) mit Beton bedeckt. Schwer zu beschreiben: Man sollte hinfahren, nach Neapel, nach Caserta, nach Gibellina sowieso. Wir blicken noch früh genug in Geschützrohre!

 Die Erde bebt – oder: Daß sie einen unschuldigen zu fünf Jahren verurteilt ham, das hab ich schon gehört, aber zehn, das is bißl viel.

Die Erde bebt auch anderswo. Eine falsche Meinung zu haben, grenzt derzeit bei vielen an ein mindestens gedankliches Kriegsverbrechen. Nawalny, ein Verbrechen eines Unrechtsstaates – Assange, ein Ausdruck von Rechtstaatlichkeit, wie auch die Einordnung der „Letzten Generation“ als kriminelle Organisation.  Denn natürlich darf man hier noch sagen, dass der damalige Reichskanzler von Bethmann Hollweg schon damals, kurz vor Beginn des 1.Weltkrieges sehr aktuell und heutig formulierte: „… gegen unseren Willen, gegen unser redliches Bemühen. Russland hat die Brandfackel an das Haus gelegt…“ –  Und außerdem kann man sich hierzulande noch ohne amtlich-anwaltliche Rückendeckung, ohne Bekenntnisse, Distanzierungen, Diffamierungen der existenziellen Sorte, zu Vorderasien, bzw. Nordafrika (Kontinentalplatte) äußern, über die lupenreine eine im Osten und die andere, die einzige lupenreine Demokratie im Süden, im Nahen Osten; und dass letztere sich im Gegensatz zur ersteren an die internationale Rechtslage hält, das haben Olaf Scholz, Frau Bärbock u.a. mehrfach bestätigt. – Das beruhigt mich. 

Dem Arsenal wird das Licht ausgeblasen – oder “Und deshalb muss Schrecken sein, damit die Trauer für was steht.”

Irgend hat unsereiner derzeit das komische Gefühl im falschen Film zu sitzen. Wobei eh immer mehr Kinos schließen. Jetzt das weit über die Grenzen Tübingens hinaus bekannte Kino Arsenal. Am 1. Januar 2024 ist Schicht im Schacht dieser (nicht nur) Tübinger Institution. Vielleicht gibt es doch noch eine kleine Vertagung des endgültigen Exitus. Eine zwei monatige Aufschiebung ist im Gespräch. Eines steht fest: Das wohl älteste „Alternativ-Kino“ Baden-Württembergs hätte im kommenden Jahr sein 50 jähriges Bestehen gefeiert. Stefan Paul machte „den Laden“ 1974 auf, in einer alten Druckerei. Eine Kneipe mit Kino, ein Ort, der viel mehr war als eine Abspielstelle –  mitten in der Stadt gelegen. Es war Teil auch einer Anti-Kriegs Bewegung, die auch im Kino lief. Easy Riding – ein Aufbruch – mit viel Musik. – Ein Verleih kam dazu, der drei Mal (2001, 2006 und 2010) zum Filmverleih des Jahres gekürt wurde, der einen hochdotierten Verleihpreis für „besondere Leistungen bei der Verbreitung künstlerisch herausragender Filme, insbesondere deutscher und anderer europäischer Filme“ erhielt;  Kino-Filialen wurden eröffnet, immer dem Seitenarm des Mainstream verpflichtet – bis in die immer schwereren digitalen Zeiten und die von Netflix und Co…

Noch im Jahr 2011 hatte das Arsenal den mit 15.000 Euro dotierten Spitzenpreis der württembergischen Filmförderung erhalten.  Solche „Spritzen“ sind  allenfalls lebenserhaltende Maßnahmen. – Zwar ging der Filmpreis der Stadt Hof in diesem Jahr an den immer noch wuseligen Verleiher, Regisseur und Produzenten Stefan Paul, aber die lokale Presse in Tübingen nahm davon kaum noch Notiz. Dazu kommt, dass der Bau, in dem sich das Arsenal abspielte, marode ist. Die Zukunft, also die angekündigten Nachrenovierungs-Bedingungen wären für ein Programm-Kino mit 100 Plätzen allerdings nicht mehr tragbar.   Alle Appelle und Versuche eines Erhalts schlugen fehl. Artenschutz gibt es nicht. Irgendwer kolportierte, dass die Stadt vor den Kommunalwahlen versprochen habe, sich stark machen zu wollen…

Nach der Wahl wollte davon aber wohl niemand mehr etwas wissen. –  Fest steht: Die Tübinger Kinolandschaft wird derzeit völlig umgekrempelt. Das bedarf einer eigenen Betrachtung. Programmkino-Inhalte soll es aber in der Stadt, die eine Universität ist, nicht hat, weiter geben. Die Bürgermeisterin, studierte Volkswirtschaftlerin, in Tübingen auch zuständig für Kultur, hat die Lage in flüssigem Denglish mit „win-win-Situation“ umschrieben.  In der Begründung für Spitzenpreis der württembergischen Filmförderung vor zwölf Jahren hieß es, dass das Arsenal „die verlorene Zeit hinter sich lassend zu einer Reise in die Zukunft gestartet “ sei. – Im Gedicht „Selbstporträt“, Mitte der 70er-Jahre entstanden, schreibt Peter Rühmkorf: „Die Wahrheit macht einem immer mal wieder einen dicken Strich durch den Glauben. Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! – wie in eine Geschützmündung.“

Im Angesicht des Exekutionskommandos sagt der brave Soldat Schwejk:„Ja, ich habe eine Verabredung, melde gehorsamst, mit einem gewissen Woditschka um sechs Uhr nach dem Krieg im ‚Kelch‘. Vielleicht könnt man ihn wissen lassen, daß ich nicht kommen kann“  

 – Melde gehorsamst: Es ist an der Zeit Jaroslav Hašek wieder zu entdecken.

Michael Friederici organisiert in Hamburg die Schwarzen (Lese) Nächte. Über Lesekleinkunst in Zeiten von Corona hat er bei uns hier geschrieben. Seine Texte bei uns hier.  

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