Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023

Thomas Wörtche: Martin Walser, nicht nur…

De mortuis nihil nisi … Sie wissen schon. Ich hatte mir auch wirklich fest vorgenommen, nichts zum just verblichenen Martin Walser anzumerken. Aber dann schlich sich doch eine bestimmte   Erinnerung aus dem Langzeitgedächtnis nach vorne oder nach oben und wo immer sich die anscheinend nur anscheinend „erledigten Fälle“ ablagern und randalierte herum:  „Dorle und   Wolf“, eine eher längliche Novelle aus dem Jahr 1987, damals noch bei Suhrkamp erschienen. „Dorle und Wolf“ war der Versuch des Großliteraten, sich ums Genre zu bemühen und eine Art Polit-Thriller zu schreiben, direkt aus den Tiefen deutsch-deutscher Befindlichkeit jener Jahre, according to Martin Walser. Wolf, Spion für die DDR, Dorle Sekretärin im bundesrepublikanischen Verteidigungsministerium. Gewissenbisse, Loyalitäts- und Identitätsprobleme zuhauf, zerrissene Menschenhälften auf dem Bahnsteig, natürlich nur metaphorisch, mon dieu.

Günther Nollau, von 1972 bis 1975 Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz quälte sich im SPIEGEL eine, sagen wir, höfliche Kritik ab, die das Offensichtliche nur milde verdecken konnte. Von Geheimdienstarbeit hatte Walser nicht die geringste Ahnung, aber vermutlich hoffte er, mit sanft satirischen und leise ironischen   Passagen über derartige Defizienzen hinwegzukommen. Nicht, dass es funktioniert hätte. „Dorle und Wolf“ war einfach ein Stück unfreiwilliger Komik. Für ein Publikum geschrieben, dass mindestens genauso ahnungslos wie Walser war. Die satten westdeutschen 1980er träumten in literaricis noch vor sich hin, während es im realpolitischen Gebälk schon mächtig knackste und knirschte. Man lobte allgemein, dass Walser schon immer ein Händchen für populäre Themen hatte – die Anselm-Kristlein-Roman oder manche Erzählungen über Probleme von Schullehrern waren vermutlich damit gemeint -, und jetzt lobte man, er habe sich sogar, hört, hört, zum trivialen Genre des Spionageromans gar kokett hinabgebeugt, was durchaus vergnügliche Lektüre verspreche.

Der Panzer des selbstzufriedenen, saturierten Bildungsbürgertums und seiner sturen ästhetischen Gewissheiten war so undurchdringlich, dass man die Absurdität gar nicht bemerkte, „Dorle und Wolf“ ernstlich als Spionagegeschichte zu lesen, während zur selben Zeit Leute wie John LeCarré, Ross Thomas, Len Deighton, Brian Freemantle oder Robert Littell Meisterwerk auf Meisterwerk ablieferten.  Aber das ist natürlich alles nichts gegen das, was ein deutscher Großschriftsteller mal eben so aus der Lameng hinknallt (ein Phänomen, dass man ein Jahr später auch anlässlich Günter Grass´ „Die Rättin“ erleben konnte, als Grass so gerade mal eben den Postdoomsday-Roman erfunden hatte). Hier die „Klasse von 1987“:

Aber so waren die Zeiten, muffig, piefig, bräsig. Aufgefallen ist mir das besonders krass, als ich mir überlegte, wie das heute eigentlich mit dem Verhältnis von „seriöser“ Literatur und „Genre“ bestellt ist. Ob sich über die Jahrzehnte etwas geändert hat? Oder ob Textqualität und Rezeption immer noch so grotesk auseinanderklaffen? Oder anders grotesk?

Nehmen wir etwa aus den letzten Programmen Erin Flanagans „Dunkelzeit“ (Ü: Cornelius Hartz und Stefanie Kremer, Atrium), C.A. Davids´ “Hoffnung und Revolution“ (Ü: Susann Urban, Wunderhorn) oder Jose Dalisays „Last Call Manila“ (Ü: Niko Fröba, :transit)    – alles Titel, die auf diversen Genre-Rankings auftauchen. Jeder dieser Romane ginge auch ohne Genre-Bezeichnung durch, dennoch hat man für den Marketing-Pitch eine Genre-Affinität gewählt. Aber anders als damals, zu Walsers Zeiten, als Qualitätsmerkmal, selbst wenn die Tugenden und Qualitäten der Bücher sicher nicht bei deren genre-notorischen Aspekten liegen. Als „Kriminalromane“ im klassischen Verständnis sind sie eher bescheiden, als Romane, im wiederum anderen klassischen Verständnis sehr stark.

Das ist ein immerhin interessantes Paradox, bei dem man gerne grübeln darf, ob in solchen Fällen (und ich könnte sicher noch ein paar Dutzend Beispiele aus den letzten zwei Jahren aufzählen), das Genre und „das Seriöse“ einander näher gerückt sind. Auf Kosten der angeblichen Seriosität auf der einen Seite und auf Kosten knalliger Effekte auf der anderen. Die niveauvollen Freundinnen und Freunde „guter“ Literatur könnten an einem solchen Prozess am Ende vielleicht mehr Freude haben als die Leute, die auf den Trash-Anteil von Genre nicht verzichten wollen, weil Niveau und guter Geschmack nicht immer und unbedingt vor prätentiösem Unfug schützt, den man dann schnell mal leicht mit Hoher Literatur verwechselt. Siehe „Dorle und Wolf“ – und so hat eine spontane Erinnerung dann doch noch einen gewissen epistemologischen Nährwert. Na also.

© 08.2023 Thomas Wörtche