Geschrieben am 2. August 2024 von für Crimemag, Special Thomas Wörtche, Thomas Wörtche

Sonja Hartl zu Thomas 70

Schon zum Vormerken…

Manchmal erfahre ich es später …

Ein Mittwoch im Juni 2024, Schöneberg, Studio 24. Dort findet alle zwei Monate der Krimi-Talk statt, den ich mit Thomas mache. Und an diesem Abend sagte er einen der schönsten Sätze, den er jemals zu mir gesagt hat: „So etwas habe ich noch nie gelesen!“. Gemeint war Megan Abbotts „Wage es nur!“ (Ü: Karen Gerwig), den Cheerleader-Kriminalroman, den ich an dem Abend vorgeschlagen und vorgestellt habe. Und dass ich das von ihm höre, der gefühlt alles gelesen hat und alles kennt, was irgendwie mit Crime Fiction zu tun, hat mich sehr gefreut.

Aber es hat mich nicht überrascht. Neugier und Offenheit sind zwei seiner Eigenschaften, die ich am meisten schätze. Noch nie habe ich von ihm gehört: „Das interessiert mich nicht“. Ganz im Gegenteil, er sagt über viel zu viele Bücher „Das ist ein ganz interessantes Teil“, so dass meine Lese-Stapel kontinuierlich anwachsen. Noch nie hat er bei unseren Talkrunden einen Titelvorschlag abgelehnt. Seit sieben Jahren reden wir nicht nur privat, sondern auch öffentlich über Bücher. Erst mit Wolfgang Franßen bei Talk Noir. Nun beim Abweichenden Verhalten mit wechselnden Gesprächspartner*innen.

Damals bei Talk Noir (c) Claudia Denker

Dadurch lese ich, durchaus auch zähneknirschend, Bücher, die ich sonst nicht unbedingt gelesen hätte. Lerne oft etwas. Weiß manchmal schon, worüber er die Augen verdrehen wird (und freue mich ein bisschen darauf). Aber Thomas ist immer für eine Überraschung gut: Sei es „Hyänen-Feindlichkeit“, die er in einem Buch bemerkt. Oder die Tatsache, dass er mal so eben Parallelen, Verweise oder Verbindungen aus dem Ärmel schüttelt, bei denen ich mich manchmal ärgere, sie nicht gesehen zu haben – meistens aber staune. Er hört zu, nimmt Argumente ernst und zerlegt sie im Zweifelsfall mit sehr viel Witz und Scharfsinn.

Thomas ist aber nicht nur belesen, er teilt sein Wissen gerne und großzügig. Wie oft ich ihm geschrieben habe, ob ihm noch etwas einfalle zu diesem oder jenem Thema. Ohne ihn hätte ich viel später Guy Cullingford entdeckt. Auf keinen Fall William Marshall. Mit niemanden stichele ich lieber gegen die weit verbreitete Chandler-Liebe. Sortiere Ross-Thomas-Anfänge nach Absurdität. Und kichere über absolut komische Gewaltsszenen.

Komik und Gewalt – das ist eines „unserer“ Themen. Unvergessen ein Abend im Weddinger Mastul in den Anfangsjahren von Talk Noir: Damals stand Helen Zahavis „Schmutziges Wochenende“ (übersetzt von Anke Caroline Burger) auf dem Programm. Erschienen 2001 in der metro-Reihe von Thomas. Natürlich. Das Buch hat mich umgehauen. Hätte heute jemand den Mut, dieses Buch zu machen? Über eine Frau, die zurückschlägt. Wortwörtlich. Und zwar nicht aus Rache für eine konkrete Tat, sie wird nicht von dem bestimmt, was Männer ihr antun. Ich weiß es nicht. Schon damals war es kühn.

Gewalttätige Frauen interessieren Thomas. Von Zahavis Bella lässt sich mühelos eine Verbindung ziehen zu Meagan Jennetts Sophie Braam aus „Du kennst sie“ (Ü: Birgit Salzmann), frisch erschienen in seiner Krimi-Reihe bei Suhrkamp. Ohnehin hat er viele Autorinnen auf den deutschsprachigen Krimi-Markt gebracht – unabhängig von Trends und Wellen. Ein Beispiel: Vor zwei Jahren erschien – mit viel Aufmerksamkeit bedacht – eine Neuübersetzung von Dorothy B. Hughes „In a lonely place“. Wer wollte, hätte das Buch schon vorher entdecken können: Im Jahr 1999 erschien es bei metro, in einer eiskalten Übersetzung von Friedrich A. Hofschuster. Aber Thomas verdanke ich mehr als kriminalliterarischen Input. Als wir uns kennenlernten, war ich ganz neu in der Branche – und er wurde schon als das betitelt, als das er nicht betitelt werden will. Dennoch hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass er mich ernstnimmt. Jede Idee, jede These konnte ich mit ihm testen, bei vielen Projekten hat er mich unterstützt – und wie viele Türen er mir geöffnet hat, kann ich nur erahnen. Er sagt so etwas nämlich nicht. Manchmal erfahre ich es durch andere viel später. Oder auch gar nicht.

In diesen Anfangsjahren haben wir auch über so manche Eigenheiten dieses „Literaturbetriebs“ und unserer Krimi-Nische gesprochen. Einige Male hat er da zu mir gesagt, warte mal ab, in ein paar Jahren sprechen wir uns wieder. Und tatsächlich habe ich seither immer mal wieder gedacht: „Orrr, das hatte Thomas Dir damals in diesem oder jenen Restaurant doch prophezeit!“ Gelegentlich sage ich es ihm dann. Und bekomme dieses gewisse Grinsen als Antwort.

Wir sind uns bei vielen Dingen einig: Dass Kafka ein hochkomischer Autor ist. Dass sein Filmgeschmack nicht so gut ist wie meiner. Dass Miles Davis groß ist – wobei ich den frühen, er den späteren bevorzugt.

Und wir pflegen unsere Uneinigkeiten. Stephen King. Wie interessant Baseball ist. Oder Fregatten des 18. Jahrhunderts. Ob man Schnecken essen sollte.

70 Jahre, Thomas, das ist mal kein Fidelwipp!

Sonja Hartl

– macht mit Alf Mayer und Thomas Wörtche das CrimeMag. Ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog heißt textstube.de.