Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Joachim Feldmann zu Matthias Wittekindt

Weit entfernt vom Genreüblichen

Schon auf der ersten Seite ist er unverkennbar präsent – der Wittekindt-Sound. Behutsam nähert sich die Erzählstimme dem Protagonisten, der selbst in kursiv markierten Passagen zu Wort kommt. Doch das ist eigentlich als Beschreibung nicht präzise genug. Denn hier wird nicht gesprochen, sondern gedacht. Und zwar so unstrukturiert, wie wir es aus unserem eigenen Erleben kennen.

Ein alter Hut, mag mancher da einwenden. Schließlich sind Bewusstseinsstrom und innerer Monolog seit Beginn der literarischen Moderne etablierte Erzählverfahren. Auch in der populären Literatur. Aber darauf kommt es nicht an. Bemerkenswert ist vielmehr die Virtuosität, mit der Matthias Wittekindt, studierter Architekt, Dramatiker und Verfasser eines guten Dutzends hochgelobter Kriminalromane, diese Techniken anwendet. Womit noch nichts zu der Art und Weise gesagt ist, wie er seine Dialoge konstruiert. Denn Figuren so reden zu lassen, dass es alltäglich und außergewöhnlich zugleich klingt, zeugt von großem Können. Aber mit narrativer Kunstfertigkeit allein ist es nicht getan. Wittekindt versteht sich auf vielschichtige Plots, weit entfernt von der genreüblichen Frage nach dem „Wer-war-es?“ Zumal diese nicht immer eindeutig zu beantworten ist.

„Hinterm Deich“ erzählt zum fünften Mal von einem alten Fall des pensionierte Kriminaldirektors Manz. Wieder ist es eine alltägliche Situation – Manz beobachtet einkaufende Paare auf dem Parkplatz eines Baumarkts – die seine Gedanken zurück in die Vergangenheit führt. Und zwar in das Jahr 1964, als er, 19-jährig, den praktischen Teil seiner Ausbildung zum Polizisten an der ostfriesischen Nordseeküste absolviert. Kost und Logis findet er bei der Mutter seines Ausbilders, eine neue Freundin ist auch schnell gefunden und der Dienst erweist sich als erheblich aufregender als gedacht. Manz erweist sich als kriminalistisches Naturtalent. Indizien zu bemerken und in einen Kausalzusammenhang zu stellen, kostet den selbstbewussten jungen Ermittler wenig Mühe und verschafft ihm eine große innere Befriedigung. Souverän klärt er nicht nur die Hintergründe eines tödlichen Verkehrsunfalls, sondern kommt auch der Ursache einer rätselhaften Erkrankung auf die Spur. Komplizierter ist es, unter einem ganzen Netz von Gerüchten die Wahrheit über einen Bauern herauszufinden, der angeblich halb totgeprügelt wurde, weil er sich an seinen Töchtern vergangen habe. Dass Manz in dieser Zeit eine wörtlich zu nehmende „Erziehung der Sinne“ durchläuft, macht „Hinterm Deich“ zu einem listig angelegten Bildungsroman. Denn die detektivischen Fähigkeiten des Helden korrespondieren nicht immer mit  einer vergleichbaren Hellsichtigkeit in eigener Sache.

Mit diesem fünften Roman findet die Manz-Reihe ihren Abschluss. Möchte man sich die Zeit bis zum nächsten Erzählprojekt Matthias Wittekindts sinnvoll vertreiben, wäre die Lektüre seiner früheren, in Frankreich spielenden Kriminalromane empfehlenswert. Nicht nur lässt sich eine gewisse Wesensverwandtschaft zwischen Lieutenant Ohayon, der ebenfalls in fünf Romanen ermittelt, und Manz konstatieren. Auch alte Autos, von denen kenntnisreich erzählt wird, spielen gelegentlich eine zentrale Rolle. Und die Architektur. Aber das versteht sich von selbst.

Joachim Feldmann

Matthias Wittkindt: Hinterm Deich. Ein Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz. Roman. Zürich, Kampa Verlag 2024. 302 Seiten, 19,90 Euro.

Die Romane um Lieutenant Ohayon sind in der Edition Nautilus erschienen.

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