Geschrieben am 1. Juni 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2024

Frank Rumpel: Christine Lehmann »Alles nicht echt«

Und nun die Nachrichten

Frank Rumpel zum neuen Roman von Christine Lehmann

Einmal quer durchs Nachrichtengewerbe jagt Christine Lehmann ihre meinungsstarke Lisa Nerz in deren 14. Roman. In einem öffentlich-rechtlichen Funkhaus wurden interne Daten geklaut. Nerz soll sich in der Nachrichtenredaktion des Hörfunks umschauen, findet Alltagsstress, Termindruck und Kompetenzgerangel, unter anderem aber auch eine verschwundene Kollegin, hierarchische Strukturen, einen zudringlichen Chef, eine schwurbelnde Rechtspopulistin und Aktivisten namens „Letztemänner“, die sich als Kämpfer gegen Feminismus und Genderwahn sehen. Reichlich aktuelle Themen und Diskurse also.

Vor allem aber stehen die Nachrichten im Zentrum. Wie bestimmen Platzierung und Auswahl unter Zeit- und Konkurrenzdruck die Inhalte, wie viel Wirklichkeit hat in Kurzmeldungen überhaupt  Platz und wie verschieben sich Verhältnisse durch sprachliche Ungenauigkeiten, die durch eingeschliffene Formulierungen und Unachtsamkeit entstehen? Es sind oft Details, die Lisa Nerz aufstoßen, aber auch handfeste Probleme, wie etwa ohne Not hergestellte Vergleiche („Nach dem Skandal um den Kuss des spanischen Fußballverbandschfs gerät jetzt auch  Grimms Märchen ‚Dornröschen‘ unter Beschuss“) oder eine inhaltlich fadenscheinige Politikeräußerung von Rechts, die in der Alltagshektik ohne Faktencheck ins Freie gelangt und sich dort auf die Wahrnehmung der Welt auswirken kann.

Und dann ist Lisa Nerz entsetzt über die Sendezeit für rechtspopulistische Positionen.“Wir glauben“, sagt sie da an einer Stelle, „wir müssten diese Unterwassers (so heißt die Rechtspopulistin in Lehmanns Buch) in den Medien vorführen, damit die Leute selber sehen, was für abartige und hirnverbrannte Positionen sie vertreten. Wir wollen sie in unseren Talkshows entlarven. Aber der Schuss geht nach hinten los. Die Leute draußen – zumindest viele – sind gar nicht entsetzt über dieses postpubertäre Randalieren. Denen gefällt das. Sie finden es erfrischend und befreiend. Endlich hält sich mal jemand nicht an die offiziellen Sprachregelungen, die die Medien ihrer Meinung nach allen aufzwingen wollen.“

Was sich im Ganzen anhören mag, als könnte es durchaus auch Wasser auf die Mühlen pöbelnder Fundamentalkritiker des Öffentlich-Rechtlichen sein, ist es nicht. Christine Lehmann differenziert, hat die Vielschichtigkeit ihrer Stoffe stets im Griff. In diesem Fall ist sie zudem vom Fach. Schließlich hat sie selbst 26 Jahre lang als Nachrichtenredakteurin beim SWR in Stuttgart gearbeitet, lässt ihre Protagonistin nun aber sicherheitshalber in einer nicht genannten Stadt irgendwo außerhalb ermitteln.

2016 wurde Lehmann nach eigenen Worten vom Sender beurlaubt, nachdem sie ein Jahr zuvor für die Grünen in den Stuttgarter Gemeinderat gewählt worden war. Kommunalpolitisch ist sie übrigens nach wie vor aktiv, wurde sie doch 2019 erneut ins Gremium gewählt und tritt auch bei der Wahl am 9. Juni nochmals an, diesmal auf Platz 14 der Grünen-Liste. Eines ihrer Themen: die Stadt fahrradfreundlicher machen. Dazu betreibt sie einen eigenen Blog und hat gerade am Buch „Velowende. Für eine lebendige Stadt“ mitgeschrieben. Selbstredend fährt ihre Lisa Nerz nur Rad, in diesem Fall ein geliehenes, lilanes Veloretti.

Christine Lehmann kennt also das Nachrichtenmetier, weiß, wo sie zuspitzen muss, um ihre Kritik zu platzieren, indem sie klar macht, dass es neben der reinen Lehre zusätzliche Faktoren gibt, die sich aufs Nachrichtenmachen auswirken können. Und dazu gibt sie (stets unter der titelgebenden Prämisse „Alles nicht echt“) eben auch Einblick in ganz praktische Abläufe und wie sie sich mit den Jahren verändert haben, exerziert zudem journalistische Formen dort beispielhaft durch, wo sie besonders grotesk sind. Das ist alles, auch bei mäßig funktionierender Rahmenhandlung, wieder mal erfrischend klarsichtig, klug, aktuell, widerborstig und mit Gewinn zu lesen.

Christine Lehmann: Alles nicht echt. Argument Verlag, Hamburg 2024. 334 Seiten, 16 Euro.

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